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Fas Buch Die Erfindung des Lebens

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regrem патриот23.04.14 16:45
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WAS FÜHLT ein Junge von sechs, sieben Jahren, wenn er einen solchen Brief seiner Mutter zu hören bekommt? Ich jedenfalls war drauf und dran, meinen kleinen Koffer zu packen und zu verlangen, sofort wieder zurück nach Köln gebracht zu werden. Wie sollte ich denn verstehen, dass meine Mutter sich anklagte, keine gute Mutter gewesen zu sein, und versprach, in Zukunft eine bessere Mutter sein zu wollen?
Ich selbst hatte sie in der Vergangenheit für eine ideale Mutter gehalten, ich hatte mich nie über sie beschwert, und ich hatte mit der Zeit schon verstanden, dass sie etwas Schweres und Dunkles erlebt hatte und deshalb anders war als andere Mütter. Anders — aber doch nicht schlechter, wie sie es jetzt in ihrem Brief darstellte!
Ihre Anklagen, vor allem aber ihre Bereitschaft, in Zukunft alles anders machen zu wollen, machten mir Angst, ich wollte überhaupt nicht, dass alles anders wurde, vieles konnte doch so schön und vertraulich bleiben, wie es immer gewesen war! Sollten wir jetzt etwa keinen Tee mehr zusammen trinken und keine Frauenstimmen in einsamen Felslandschaften mehr singen hören? Sollten wir nicht mehr zusammen einkaufen gehen und auf dem Wochenmarkt Obst und Gemüse aussuchen? Eigentlich hatte ich doch gar keine Lust darauf, jeden Tag mit anderen Kindern zu spielen, eigentlich würde es doch genügen, mit Mutter weite Spaziergänge in Köln zu unternehmen, mit den Straßenbahnen zu fahren oder vielleicht sogar auf Fahrrädern gemeinsam unterwegs zu sein!
Hinzu kam, dass Mutters Brief von einer starken Feierlichkeit war und dass diese Feierlichkeit und der damit verbundene Ernst etwas Erdrückendes hatten. Selbst Vater blieb davon nicht unberührt, das konnte ich schon daran erkennen, dass er beim Vorlesen längere Pausen machte, sich immer wieder räusperte und die Lektüre kaum zu Ende brachte. Viel hätte nicht gefehlt und ich hätte ihn zum ersten Mal in meinem Leben weinen sehen ... - Vater weinen, einen weinenden Vater ... - etwas Abwegigeres konnte ich mir nicht vorstellen.
Ich wollte ihn aber nicht weinen sehen, auf keinen Fall, niemand sollte weinen, ich selbst wollte es auch nicht, nein, verdammt, es gab keinen Grund für das Weinen, es sollte mit dem verdammten Weinen endlich vorbei sein! Wenn man etwas lernte und sich große Mühe gab, bestand nicht der geringste Grund für das Weinen, man war einfach zu beschäftigt dafür, ja noch mehr: Man war zum Weinen gar nicht erst in der Lage!
Gut also, genug, ich schaute Vater an, dann aber tat ich etwas, was ich mir gar nicht vorgenommen hatte, sondern was aus einem Instinkt heraus geschah, angeblich tat ich es sehr entschlossen, ja sogar mit einer deutlich nach Entschlossenheit aussehenden Miene: Ich soll meinem Vater den Brief aus der Hand genommen, ihn zusammengefaltet und dann in meine Tasche gesteckt haben, ich soll einmal kräftig genickt haben und dann aufgestanden sein. Ich soll die Decke, auf der ich mit Vater gesessen hatte, zusammengefaltet und über den linken Arm genommen haben. Ich soll mit der rechten Hand nach Vaters linker Hand gegriffen und sie festgehalten haben. Dann aber sollen wir zusammen zurück in die Gastwirtschaft gegangen sein, wo es uns beide sofort in die Küche gezogen habe, um dort aus der hohlen Hand etwas zu trinken. Nach diesem gierigen Trinken aber soll ich Vater minutenlang nass gespritzt und dabei so laut und schrill geschrieen haben, wie man es von mir bis dahin noch nie gehört hatte ...
Herrgott, es fällt mir wirklich nicht leicht, von diesen Erlebnissen zu erzählen! Die ganze Welt dieser Tage ersteht wieder neu, bis hin zu ihren Gerüchen und Atmosphären. Als ich für einen kurzen Moment lüften wollte und die Fenster meines Schreibzimmers öffnete, glaubte ich plötzlich wahrhaftig, die alte Gewitterschwüle des Landes zu riechen, diese warme, vom Boden aufsteigende Schwüle mit ihrem betäubenden Gräser- und Wald-Geruch, eine Schwüle wie zum Zerreißen kompakt und überspannt, so dass man einen starken Regen herbeiwünscht, der diese dichte, atemlos machende Ballung vertreibt!
Dabei war es hier in Rom überhaupt nicht schwül, sondern nur heiß, eine große, mir meist sehr wohltuende Hitze ließ alles erstarren, der Himmel aber war klar und von jenem Blau, das es nur in Rom gibt, also nicht das übliche Himmelszeltblau, sondern ein Kaiserzeltblau, ein Triumphblau! Es ist ein Blau, das mir immer so vorkommt, als wäre es zu Zeiten der triumphalen Einzüge der römischen Feldherren in die Ewige Stadt entstanden und seither nicht mehr verschwunden. In diesem Blau sind geheime Mischungen aus Silber und Gold, etwas von der Schönheit der Meere und der Ferne Afrikas, ja sogar von der Schönheit des Orients enthalten! Jedenfalls ist es kein europäisches Blau und auch kein Mittelmeer-blau, sondern eben ein einzigartiges, römisches Blau, das mir immer so vorkommt wie ein Amalgam aus all den Farben, die die Römer auf ihren weiten Feldzügen gesehen haben.
Römisches Blau ... - wie komme ich jetzt auf diese Bezeichnung, warum denke ich über Himmelsblautöne
nach, während ich von jenen für mich so bedeutsamen Tagen auf dem Land erzähle? Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass Vater während unserer Wanderungen nicht nur zeichnete, sondern schließlich auch zu aquarellirren begann. Das Aquarellirren wurde nötig, als wir uns mit den Wolkenformationen am Himmel beschäftigten und Vater mit seinen Zeichnungen unzufrieden war. So geht das nicht! So geht es auf keinen Fall! — ich sehe ihn vor mir, wie er den Kopf schüttelt und die Bleistifte wieder einpackt und wenige Tage später den kleinen, im Dorf erstandenen Aquarellkasten auspackt und öffnet.
Wolkenformationen nur mit Aquarellfarben!, bekam ich zu hören und dann erkannte ich, wie man die niedrig ziehenden Haufenwolken hintuscht, wie man sie von einem dichten Farbzentrum her angeht und von diesem Zentrum aus etwas ausfransen lässt, ein klein wenig, aber nicht zu viel, denn sie dürfen sich nicht zu langen Barken strecken, sondern müssen aussehen wie Mannschaften oder wie ein kleiner, auf Reisen gehender Trupp!
So lerne ich auch das, ja, ich lerne, dass man beim Spaziergehen nicht nur die Erde auf alle Details hin beobachten sollte, sondern dass so etwas auch mit dem nur scheinbar immer gleichen Himmel möglich ist. Hat man eine gewisse Übung darin, den Himmel zu betrachten, versteht man das Wetter und kann sogar mit einigermaßen großer Sicherheit voraussagen, wie das Wetter am nächsten Tag wird. Man muss nur die Wolken studieren und sich umschauen, man muss den gesamten Horizont betrachten, rundum, zum Studium der Wolken und des Wetters ist es unbedingt notwendig, dass man sich mit erhobenem Kopf einmal im Kreis dreht, die Himmelsrichtungen fixiert, feststellt, woher der Wind weht, und aus all diesen Einzelbeobachtungen eine Prognose erstellt.
Doch auf solche Prognosen kam es natürlich letztlich nicht an, Prognosen sind doch geschenkt!, sagte Vater, und ich deutete die mir unverständliche Bemerkung so, dass Prognose ein hässlich klingendes Wort sei, dass dieses Wort keine genauen Wolkenformationen bezeichne und dass es zu den Worten gehöre, die man sich nicht zu merken brauche und deshalb schenken könne. Prognose war also ein überflüssiges Wort, das Vater auch nicht aufschrieb, während er die Wolkenformationen durchaus aufschrieb, so dass ich neue Lieblingswörter erhielt, Wörter wie Zirruswolke, Türmchenwolke oder Duellwolke.
Immer häufiger schauten mir nun am frühen Abend die Verwandten oder auch einige Feriengäste zu, wenn ich an meinem Gartentisch saß, um meine schwarzen Kladden zu füllen. Längst besaß ich von ihnen bereits mehrere, viele kleinere für die Eintragungen während des Wanderns, und einige große, wie schon gesagt, für die Reinschrift. Mit den Tagen hatte ich eine immer größere Sicherheit in diesen Eintragungen bekommen, ich verschrieb mich kaum noch, die Buchstaben waren gleich groß, und die Zeichnungen passten schließlich in ihrer jeweiligen Größe auch genau zu den Wörtern.
Was vor den Augen meiner Mitleser entstand, war im Grunde eine kleine Enzyklopädie, ein Lexikon der näheren Umgebung, in dem festgehalten war, was Vater und ich beobachtet und meist auch in die Hand genommen hatten. Wenn ich die rechte Seite abdeckte und nur auf die Zeichnungen der linken Seite schaute, hatte ich die Worte genau vor Augen, Buchstabe für Buchstabe. Und wenn ich die Zeichnungen abdeckte und nur auf die Buchstaben schaute, wusste ich genau, wie die zu ihnen passenden Zeichnungen aussahen.
So wuchsen die Bilder und die Schriftzeichen in meinem merkwürdigen Schädel immer enger zusammen und berührten einander, was nur noch fehlte, war der Klang und damit der letzte, entscheidende Schritt: Dass ich mich endgültig öffnete, dass ich die Welt nicht nur stumm in meinem Kopf sammelte, sondern sprechend an ihr teilnahm.
Von Tag zu Tag spürte ich mehr, dass dieser Schritt unmittelbar bevorstand, ja dass es nur noch einer letzten Überwindung bedurfte. Alles, was sich an Worten und Sätzen seit Jahren wie tote Materie in mir angestaut hatte, musste ich vergessen, um von Neuem und frisch mit den Sätzen anzufangen, die ich von Vater gelernt und in Hunderten von Variationen im Kopf hatte.
Manchmal wiederholte ich diese Varianten im Stillen und brach dann irgendwann ab. Es handelte sich um eine sehr lange Reihe von Sätzen, und wahrscheinlich würde es tagelang dauern, bis ich mit ihr am Ende war. Doch ich beherrschte sie, ja, genau, schließlich hatte ich sie mir immer wieder im Stillen vorgesagt und unermüdlich ein Wort an das andere gefügt. Die Verwandten und die Feriengäste bewunderten meine Kladden, was würden sie erst sagen, wenn ich all die Worte und Sätze hintereinander aufsagen könnte, die ich in diese Kladden eingetragen hatte!

#21 
regrem патриот23.04.14 16:48
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JETZT IST es so weit, jetzt bin ich so weit. Ich bin jetzt in meiner Erzählung so weit, dass ich erzählen kann, wie ich den ersten Satz sprach und danach viele weitere Sätze. Dass und wie es dazu kam, ist beinahe eine eigene Geschichte, die mir noch heute unglaublich erscheint. Ich habe diese Geschichte bisher noch keinem anderen Menschen erzählt, niemand kennt sie, selbst meine Mutter und mein Vater, die längst gestorben sind, haben während ihres Lebens von ihr nichts erfahren.
Ich gebe diese Geschichte jetzt preis, und ich tue dies aus Gründen, die ich mir sehr genau überlegt habe. Diese Gründe jedoch tun im Augenblick nichts zur Sache, erst später werde ich vielleicht auf sie zurückkommen. Jetzt aber kommt es nur noch darauf an, die Geschichte meiner Sprachwerdung möglichst genau und vollständig zu erzählen. Und diese Geschichte vollzieht sich in genau drei Schritten.
Es begann damit, dass ich an einem frühen Abend noch einmal zu meinem See wollte, um dort in der letzten Abendsonne zu baden. Meist verschwand ich, wenn ich das tun wollte, für kaum mehr als eine halbe Stunde, ich lief durch das kleine Wäldchen hinunter zum Wasser, zog mich aus, schwamm einige Runden, ließ mich auf dem Rücken treiben, rieb mich mit den eigenen Kleidern trocken, zog sie wieder an und lief zurück.
Auch an diesem Abend war ich schnell unterwegs und glitt den Abhang zum Wasser sogar auf dem Hosenboden herunter. Dabei hörte ich einige Geräusche, die ich bisher noch nie in diesem Wäldchen gehört hatte. Ich bremste meine Talfahrt mit beiden Händen ab und schaute hinunter zum See, und was ich dort zu sehen bekam, ließ mich erstarren.
Unten, in dem von der Abendsonne erleuchteten See, sah ich meine Mutter, die gerade und aufrecht in der Mitte des Sees stand und sich kurz vor dem Abtauchen die Haare zusammenband. Als sie damit fertig war, kühlte sie ihren Oberkörper mit dem Seewasser ab, sie ließ es langsam über ihre Brust und den Rücken rieseln und sie wischte sich damit durchs Gesicht, dann ging sie kurz in die Hocke, so dass ihr gesamter Oberkörper für einen Moment unter Wasser war. Ich konnte sie ganz deutlich erkennen, und es war keine Frage, dass es sich um meine Mutter handelte, anscheinend war sie vor Kurzem auf dem Hof eingetroffen und gleich zu einem kurzen Bad hierher geeilt, ohne zu ahnen, dass auch ich diesen See beinahe jeden Abend für ein kurzes Bad aufsuchte.
Sie breitete die Arme weit aus und drehte sich in die Richtung der Abendsonne, dann aber tauchte sie mit dem Kopf voran ab, ich sah ihren nackten, lang gestreckten Körper genau, wie er seine Bahnen durch das weiche Grün des Sees zog, immer im Kreis. Nach einigen Schwimmbewegungen tauchte ihr Kopf wieder auf, und sie schwamm ruhig weiter, ich hörte sie durchatmen, zwei-, dreimal atmete sie kräftig aus und ein, dann aber hörte ich sie plötzlich singen, sehr leise, aber ganz deutlich, ich hörte sie singen.
Es war ein ganz einfacher, schlichter Gesang, es war ein Vorsiechhinsingen und damit wirklich nichts Besonderes. Jedem anderen, der diese singende Frau vorher nicht gekannt und jetzt hier gehört hätte, wäre nichts an diesem Gesang aufgefallen, vielmehr hätte er diesen Gesang für den Gesang einer Frau gehalten, die sich in diesem See wohlfühlt, die Abendsonne genießt und mit sich und der Welt vollkommen im Reinen ist.
Ich jedoch sah und hörte nun etwas, das ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen und gehört hatte. Ich meine nicht die Nacktheit meiner Mutter, natürlich nicht, obwohl es auch stimmt, dass ich meine Mutter zuvor noch niemals nackt gesehen hatte. Ihre Nacktheit war es jedoch nicht, die mich in den Bann zog, es war vielmehr die Ruhe, ja die Freude, die sie plötzlich ausstrahlte und zu der das merkwürdige Singen so gut passte, das sich zudem noch so anhörte, als könne es in jedem Moment umkippen in ein leises Sprechen. Waren nicht auch deutlich Worte zu hören, oder irrte ich mich?
Ich konnte die Worte jedenfalls nicht verstehen, der Gesang ähnelte sowieso mehr einer Art Summen, und wenn es wirklich Worte waren, die sie benutzte, dann waren es wohl keine deutschen, sondern Worte einer anderen Sprache. Etwas in der Art hatte ich einmal auf einer ihrer Schallplatten gehört, seltsame Worte und ein seltsames Summen, im Grunde hörten sich die Worte bereits an wie ein Gesang, jedenfalls ging ihr Klang in Musik über.
Immer wieder tauchte Mutter auch ab, und dann war es rings um den See beinahe erschreckend still, ich sah ihren hellen Körper wie etwas unfassbar Fremdes durch den goldgrünen See gleiten, als wäre sie nicht meine Mutter, sondern ein Waldwesen, und dann tauchte sie wieder auf, atmete kräftig durch und setzte ihren Gesang fort, als habe sie auch unter Wasser damit weitergemacht.
Keine Sekunde lang dachte ich daran, mich ihr zu zeigen, nein, auf keinen Fall, mit diesem Waldwesen wollte ich keinen Kontakt aufnehmen, und so starrte ich weiter hinab und beobachtete die Szene und hörte das Singen und versuchte mir alles genau einzuprägen: Die kleinen Wellen, die Mutters Schwimmbewegungen ans Ufer warfen, die golden aufblitzenden winzigen Kämme des aufgewühlten Wassers in ihrer Nähe, ihren schmalen, mal auf dem Rücken, mal auf der Brust dahin gleitenden und so unendlich leicht wirkenden Körper, ihre dunklen Haare, die sich, je länger sie schwamm, immer mehr auflösten und, wenn sie tauchte, wie eine dunkle Insel im Wasser trieben ...
Man sollte wissen, dass ich bis zu diesem Moment noch nie einen Film gesehen hatte, ja dass ich nicht einmal genau wusste, was ein Film eigentlich war. In der Nähe unserer Kölner Wohnung gab es zwar ein kleines Kino, doch niemand hatte mich je mit hineingenommen. Auch ferngesehen hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht, in unserem Wohnhaus hatte kein Mensch Fernsehen, und auf dem Land gab es erst recht niemanden, der so etwas bereits besaß.
An bewegte, gut ausgeleuchtete und inszenierte Bilder war ich also nicht gewöhnt, bisher hatte ich nur Fotografien kennengelernt. Jetzt aber sah ich meinen ersten Film, wie ihn der erfahrenste Regisseur nicht besser hätte inszenieren können. Es handelte sich um einen durch und durch erotischen Film, es handelte sich um das Erotischste überhaupt, was ich bis dahin gesehen hatte und für lange Zeit sehen würde. Es war eine Erotik, die sofort unter die Haut ging, und das in einem ganz wörtlichen Sinn.
Am liebsten hätte ich mich nämlich sofort ausgezogen und mich zu der schwimmenden Schönen gesellt, die so aussah wie meine Mutter, am liebsten hätte ich die kostbare Zeit bis zum Sonnenuntergang mit ihr zusammen im Wasser verbracht. Ich hätte sie nicht berührt, nein, gewiss nicht, ich hätte mich ihr nicht genähert, ich wäre nur neben ihr durch den See geschwommen und hätte genauso getaucht und mich genauso wohlgefühlt wie sie auch.
So weit von ihr entfernt auf dem Waldboden zu hocken und sie lediglich zu betrachten, das war dagegen nur schwer zu ertragen, ja, es war schlimm, ein bloßer Beobachter bleiben zu müssen und in diese schönen Bilder nicht eindringen und mitschwimmen zu dürfen.
Was ich in diesen Momenten spürte, war ein wirklicher Schmerz, der von der Entbehrung herrührte, ich sah etwas durch und durch Begehrenswertes und durfte es nicht besitzen, ich blieb ausgeschlossen von der Wucht dieser Bilder und musste es hinnehmen, von ihnen überwältigt zu werden!
Deshalb erhob ich mich langsam und achtete sorgfältig darauf, dass mich die schöne Frau nicht bemerkte. Ich wollte sie jedoch weiter im Auge behalten, und so schlich ich langsam wieder den Hang hinauf, drehte mich laufend nach ihr um, sah sie kleiner werden und hörte währenddessen doch ununterbrochen ihr Summen, das, als wollte es mich verhöhnen, lauter wurde, je mehr ich mich entfernte.
Schließlich war sie gar nicht mehr zu sehen, doch das Summen blieb, ganz genau war es noch hoch oben im Wäldchen zu hören, ich schloss die Augen und versuchte, mich auf diese Melodien zu konzentrieren, und dann wusste ich plötzlich, dass es sich um ein französisches Stück handeln musste, ja genau, Mutter sang etwas Französisches, so nannte man es, denn ich glaubte mich gut zu erinnern, dass Vater einmal von jemandem gefragt worden war, ob Mutter noch immer diese französischen Sachen möge, Vater hatte genickt, und ich hatte dieses Nicken mit den vielen fremdsprachigen Musikstücken in Verbindung gebracht, die Mutter oft hörte und die Chansons genannt wurden. Keine Opern also, sondern Chansons, französische Chansons!
Ich legte mich auf den Rücken, schloss wieder die Augen und hörte Mutters leises Summen, das bis zum Waldrand reichte, ich versuchte, mir dieses Summen zu merken, ja, so ging es, so genau, ich würde so bald wie möglich einmal versuchen, diese Melodie auf dem Klavier zu spielen, das müsste wohl gehen, denn die Noten hatte ich ja bereits im Kopf, so dass ich später am Abend die ganze Melodie in mein Notenheft eintragen würde!
Dann aber wurde es endgültig still. Gleich würde die Sonne an dieser Stelle auch untergehen, während der Hof noch einige Minuten länger im letzten Licht lag. Ich wartete nicht, sondern lief über die Wiesen rasch in der Richtung des Hofes zurück, Mutter sollte mich auf keinen Fall sehen, ich würde mich vielmehr in die Wirtschaft setzen und abwarten, bis sie dort erschien.
Sonst war es in der Wirtschaft zu dieser Abendstunde meist richtig voll, diesmal aber war es das nicht, ich schlüpfte hinein und setzte mich an einen der leeren Tische, anscheinend waren alle gerade nach draußen in den Garten gegangen, um dort gemeinsam etwas zu trinken und irgendeinen Anlass zu feiern, jedenfalls hörte ich draußen einige Rufe und Deklamationen, als feierte man einen Geburtstag.
Ich war plötzlich sehr müde und gleichzeitig sehr aufgeregt, ich wusste nicht wohin mit all meinen durcheinandergeratenen Gefühlen. Am liebsten wäre ich draußen im Fluss schwimmen gegangen, aber das ging nicht mehr, denn am Fluss war es bereits dunkel. Die Tür der Gastwirtschaft stand offen, ich blickte hinaus, draußen vor der Tür wirbelte noch der letzte Sonnenstaub des Abends, das Licht fiel noch ein wenig hinein in die sonst bereits eingedunkelte Gaststube, ein letztes Licht war es, höchstens noch eine schmale Spur, wie ein kleiner Feuerbrand, der sich jetzt gerade zurückzog und schlafen legte ...: ich stand auf und folgte dem kleinen Strahl und wartete dann in der offenen Tür, dass die vollkommene Dunkelheit einbrach, als ich auf der Straße vor der Wirtschaft noch zwei fremde Kinder Ball spielen sah.
Sie spielten ganz ruhig, als wäre dieses Spiel das wirklich letzte, das sie heute noch spielen würden, sie kickten den Ball in regelmäßigem Rhythmus hin und her, der eine zum ändern, hin und her ..., ich schaute ihnen zu, es war so schön, das zu sehen, dieses ruhige Kicken, keinen Streit, kein Sprechen, nur dieses Kicken, hin und her.
Da machte ich eine kleine Bewegung nach vorn und rief den beiden zu: Gebt mal her!
Ich war von diesem kurzen Zuruf selbst so erschrocken, dass ich beinahe gestürzt wäre. Wie bitte?! Hatte ich gerade etwa gesprochen?! War ich das gewesen? Waren diese wenigen Laute meine eigenen Laute gewesen?
Ich bewegte mich nicht, ich starrte die beiden Jungen an und sah, wie sich der kleinere zu mir drehte und mir den Ball zukickte, klack!, machte es, und der Ball sprang kurz vor mir auf, und ich bückte mich und packte ihn mit den Händen und hielt ihn fest und drückte ihn an meine Brust.
Was tust Du denn?, rief da der andere der beiden Jungen, nicht mit den Händen, mit den Füßen! Ich verstand aber nicht genau, was er meinte, ich hörte ihm nicht richtig zu, ich versuchte vielmehr zu verstehen, dass die beiden Jungs mich nicht kannten und daher nicht ahnten, dass der in der Tür stehende Bub, der soeben den Ball mit den Händen statt mit den Füßen berührt hatte, gerade den ersten Satz seines Lebens gesprochen hatte: Gebt mal her!
Gib wieder her!, rief der jüngere der beiden, sein Ruf ließ mich erwachen, so dass ich den Ball fallen ließ und ihn zu den beiden Jungen zurückkickte, die den Spaß daran, mit mir zu spielen, sofort wieder verloren hatten und allein weiterspielten. Das jedoch machte mir gar nichts aus, nein, sollten sie doch weiterspielen, das war jetzt nicht wichtig, wichtiger war, dass ich es geschafft hatte, laut und deutlich zu sprechen, und dass es Menschen gab, die dieses Sprechen verstanden und darauf auch reagierten.
Ich drehte mich um und ging wieder in die jetzt dunkle Gaststube zurück, ich tastete mich an der Theke entlang und bog dahinter in den schmalen Flur ein, über den ich zu der Treppe gelangte, die hinauf zu den Fremdenzimmern führte. Das Zimmer, das Vater und ich bewohnten, war nicht verschlossen, auf dem Bett lag jedoch ein schwerer geöffneter Koffer mit Mutters Sachen, es sah so aus, als wäre sie erst vor Kurzem angekommen und gleich zum Schwimmen gelaufen, um sich vor dem Abendessen noch zu erfrischen.
Ich setzte mich auf den Boden, neben das Bett, ich hielt mir die Augen zu und sagte ein zweites Mal: Gebt mal her! Ja, ich konnte mich hören, ja, ich konnte mich deutlich und gut verstehen! Noch einmal: Gebt mal her! Und immer wieder: Gebt mal her! Gebt mal her!...
Heute bin ich ganz sicher, dass ich damals ohne die Erlebnisse, die meinem ersten Sprechen unmittelbar vorausgingen, noch nicht gesprochen hätte. Die Bilder von meiner im Abendlicht schwimmenden Mutter und die Bilder vom letzten Abendlicht in der eindunkelnden Gaststube gehören auf geheimnisvolle Weise zusammen und bilden so etwas wie eine magische Spur, der ich danach mein Leben lang gefolgt bin, ohne dass ich sie bis heute begriffen hätte.
Viele einzelne Bausteine zur Lösung dieses Geheimnisses habe ich bisher gesammelt, und manchmal habe ich das Gefühl, ich wäre der Lösung dieses mich seither so stark beschäftigenden Rätsels sehr nahe. Was ist damals genau mit mir passiert? Warum entlockten mir die Bilder gerade dieses Abends die ersten Worte und warum verfolgten mich diese Bilder später ein Leben lang, so dass ich bis heute nicht von ihnen losgekommen bin?
Jetzt kann ich es ja zugeben, ich schreibe all das hier auf, um genau diese Rätsel und ihre Folgen, die mein ganzes weiteres Leben geprägt haben, zu lösen. Schritt für Schritt will ich mein Leben noch einmal ergründen und jedem kleinen Wink nachgehen. Letztlich folge ich dabei nur einigen Lichtsequenzen in einem großen Dunkel. Aber ich befinde mich in Rom, der Stadt des Lichts und des römischen Blaus, und damit befinde ich mich in der besten Stadt, die ich mir für mein Vorhaben hätte aussuchen können.
Es ist nun sehr still, ich habe bis weit nach Mitternacht geschrieben. Ich werde noch einmal hinausgehen, um mich zu beruhigen, aber ich ahne schon, dass mir das nicht gelingen wird. Mein Leben und meine Gefühle kreisen viel zu stark um die Bilder, von denen ich eben erzählt habe, als wäre in ihnen ein Zauber verborgen, den ich erst noch bannen muss, um die eigentliche Befreiung von den Schrecken meiner Kindheit zu erleben. Jedes Mal, wenn ich mich längere Zeit an diese Bilder erinnere und ihnen damit wieder näher komme, tue ich die seltsamsten und mir später oft nicht mehr verständlichen Dinge. Oft hat es mich große Mühe gekostet, diese Dinge wieder ins Lot zu bringen. Johannes, pass auf Dich auf!

#22 
regrem патриот23.04.14 16:49
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VON DEN ersten beiden Schritten meiner Sprachwerdung habe ich nun bereits erzählt, es fehlt aber noch die Erzählung vom dritten Schritt, von meinem ersten Sprechen im Kreise der anderen. Man könnte beinahe vermuten, dass sich dieser Schritt noch an demselben Abend ereignete. Und so war es denn auch. Deshalb setze ich dort wieder ein, wo ich meine Erzählung unterbrochen habe, ich befinde mich in dem Fremdenzimmer, in dem Vater und ich bisher übernachtet haben.
In diesem Zimmer wartete ich nun auf Mutter, denn ich wusste ja, dass sie bald vom See kommen würde. Durch das Fenster konnte ich den Weg, der vom Wäldchen zur Gastwirtschaft führte, leicht überblicken, deshalb hielt ich nach ihr Ausschau, ungeduldig darauf, dass sie mich endlich begrüßen würde.
Als ich sie aus dem Wäldchen heraustreten und auf den Hof zu eilen sah, beugte ich mich durch das geöffnete Fenster etwas nach vorn, um in das Licht der Laternen zu geraten, die das Gelände rund um den Gasthof bereits erleuchteten. Da bemerkte ich, dass Mutter mich aus der Ferne erkannte, jedenfalls blieb sie einen Augenblick stehen und begann zu winken, ich winkte heftig zurück, endlich hatten wir uns beide wieder im Blick.
Es umgab sie jedoch etwas Fremdes, ja, das spürte ich sehr genau, und dieses Fremde wirkte wie eine leichte, irritierende Störung unserer früheren Zweisamkeit. Normalerweise wäre ich die Treppe so schnell wie ich konnte heruntergesprungen, um sie zu umarmen, jetzt aber ging ich die Treppe Schritt für Schritt hinab, als müsste ich mir erst überlegen, wie ich mich ihr nähern sollte.
Als ich ihr unten in der inzwischen erleuchteten Gaststube begegnete, hatte ich dazu aber keinen Moment Zeit, denn Mutter packte mich fest, ja sie riss mich beinahe an sich und drehte sich dann mit mir auf der Stelle, so dass meine Beine hoch durch die Luft flogen. Was machte sie denn? Sie war vor lauter Freude ja außer sich!
Sie schaute mich aber nicht richtig an, sondern hielt mich eine Zeit lang umschlungen, als genügte es ihr, meinen Leib wieder zu spüren und an sich zu pressen. Erst nach Minuten setzte sie mich wieder ab und ließ etwas locker, hielt jedoch weiter meine beiden Hände, als wollte sie nun mit mir tanzen. Bevor das aber geschehen konnte, blickte sie mir endlich auch ins Gesicht, und ich bemerkte, dass sie das Fremde jetzt ebenfalls spürte, ja, sie zuckte ein wenig zusammen und verlagerte ihr Gewicht wie nach einem kurzen Stolpern von einem Fuß auf den ändern.
Dann aber ließ sie meine Hände los, und wir standen uns frei gegenüber. Ihr Mund stand etwas offen, ihre Lippen zitterten ein wenig, was mich jedoch am meisten hinschauen ließ und meine Blicke anzog, das waren ihre Haare, die durch das Baden im See vollkommen durcheinandergeraten waren und ihrem Gesicht etwas Wildes und Schönes verliehen.
So wild und schön hatte ich sie noch nie gesehen! Das offene Haar wirkte viel fülliger und üppiger als das gekämmte, geordnete, und das schmale Gesicht sah in diesem dunklen Wirrwarr noch schmaler als gewöhnlich aus, als bildete es eine strenge Maske, mit deutlich markierten Zügen. Die stark hervortretenden Backenknochen! Die sanft abfallende Stirn mit der alten Wunde über dem rechten Auge!
Wenn ich mich heute an diesen Anblick erinnere, so glaube ich, etwas beinahe Antikes, aber auch Rohes gesehen zu haben. Alles an diesem Kopf war Strenge, aber hinter dieser Strenge spürte ich etwas von Atemlosigkeit oder sogar von Gehetztheit, als wäre sie in Köln ununterbrochen unterwegs gewesen. Ihre Haut war von diesem Unterwegssein gebräunt, so dass der Schmuck, den sie nur an der rechten Hand trug, besonders hell aufleuchtete. Der Armreif, den mein Großvater ihr einmal geschenkt hatte! Der Hochzeitsring, den sie einmal verloren hatte und der dann doch im Keller unseres Kölner Wohnhauses wieder aufgetaucht war!
Ich staunte sie an, aber auch sie staunte, denn in vielen Zügen glich mein Äußeres dem ihren so, als wären wir nicht einige Zeit getrennt, sondern vielmehr ganz im Gegenteil noch enger als sonst zusammen gewesen. Auch ich war von den vielen Aufenthalten im Freien gebräunt, und auch meine Haare waren ganz anders als sonst, viel länger und außerdem vollkommen blond. Hinzu kam, dass die Spaziergänge und Wanderungen zusammen mit dem fast täglichen Schwimmen meinen Körper gekräftigt hatten, so dass an diesem Abend vor ihr in der Gaststube ein körperlich geschulter, ja beinahe athletischer Junge stand.
Später hat Mutter einmal behauptet, ich hätte den Eindruck einer Skulptur gemacht, die man gerade aus einem großen Steinblock herausgemeißelt habe, so glatt und kantig seien meine Umrisse gewesen. Meine Nase sei ihr viel spitzer und länger vorgekommen als zuvor, außerdem aber hätte ich hungrig ausgesehen, mein Gott!, wie mager ist er geworden!, habe sie mehrmals gedacht, wobei sie sich diese Magerkeit aber nicht habe erklären können, da jeder Gast von Hof und Wirtschaft im Normalfall wegen des guten und reichlichen Essens meist zugelegt habe.
Zum Glück kam in diesem Augenblick, als wir uns noch musterten, mein Vater hinzu, Vater ging direkt zu mir und legte mir den Arm um meinen Hals, als wollte er mich wie ein Schaustück präsentieren. Na, sieht er nicht
gut aus?, fragte er, und ich sehe Mutter noch lächeln, als lächelte sie nicht über mich, sondern über den Stolz meines Vaters, der so tat, als habe er mich die ganze Zeit eigenhändig versorgt und gepäppelt.
Dann aber zog er mich mit in die Küche, wir essen in einer halben Stunde zu Abend, Katharina, höre ich ihn noch sagen, und ich wusste sofort, dass er Mutter mit diesem Satz aufforderte, sich die Haare zu kämmen und sich umzuziehen, damit sie später am Tisch einen ordentlicheren Eindruck machte.
Ich sah, wie sie mir noch einen letzten Blick zuwarf und dann wirklich die Treppe hinauf verschwand, während Vater und ich in die Küche gingen, um bei der Vorbereitung des Abendessens zu helfen. Da Mutter an diesem Abend aus Köln angereist war, wollte man sie mit einer besonders festlichen Mahlzeit begrüßen, zwei Schwestern meines Vaters hatten bereits den ganzen Nachmittag lang gekocht, und der älteste Bruder ging die Reihenfolge der Speisen noch einmal laut durch und gab den beiden jungen Kellnerinnen weitere Anweisungen. Daher herrschte in der Küche ein solches Gedränge, dass Vater mich bat, zu Mutter aufs Zimmer zu gehen, mir die Hände zu waschen und, wenn er uns rufe, mit ihr gemeinsam zum Abendessen zu erscheinen.
Ich ging also die Treppe zu unserem Zimmer hinauf und überlegte, ob ich noch weiter in diesem Zimmer schlafen oder ob man mich aus Platzmangel noch an diesem Abend in eines der anderen Fremdenzimmer verlegen würde. Die Tür unseres Zimmers stand ein wenig offen, so dass ich hineinschauen konnte. Mutter stand vor dem Spiegel und betrachtete ihr Spiegelbild, sie probierte ein Kleid an, das ich zuvor noch nie gesehen hatte. Dieses Kleid war rot, ja, genau, es handelte sich um ein rotes, nein, dunkelrotes Sommerkleid mit einem runden Ausschnitt über der Brust und einer langen Knopfleiste, die vom Ausschnitt aus bis hinunter zu den Knien verlief.
Da das Kleid keine Ärmel, sondern nur zwei einfache Träger hatte, waren Mutters Rücken, der Nacken und die Oberarme in weiten Partien frei, diese Partien aber waren nun viel heller als ihr Gesicht und erinnerten mich an den hellen, goldgelb aufschimmernden Körper, der kurz zuvor noch den See durchschwömmen hatte. Die Holzbohlen im Flur quietschten ein wenig, als ich noch vor der Tür stand, deshalb drehte Mutter sich um, und ich sah sie bereits zum zweiten Mal an diesem Abend auf eine neue Weise, denn jetzt erschien sie mir plötzlich viel jünger als sonst und derart gut gekleidet, als habe sie sich fein gemacht für einen Auftritt ...
Komm her., mein lieber Junge!, eine Aufforderung etwa dieser Art verbinde ich mit ihrer knappen, einladenden Geste, so dass ich endlich Mut fasse, das Zimmer auch zu betreten. Sie zieht mich wieder an sich, aber jetzt viel sanfter und geduldiger als noch eben unten in der Gaststube, sie wiegt sich mit mir eine Weile hin und her und dann küsst sie mich auf die Stirn. Wir müssen uns erst wieder aneinander gewöhnen, nicht wahr?, etwas in der Art will sie mir anscheinend sagen, und ich sehe mich vor ihr stehen, unendlich verlegen und hilflos, weil ich nicht weiß, was ich tun soll.
Der Raum, in dem ich mich jetzt befinde, ist aber nun Mutters Raum, ich rieche es genau, in diesen Raum ist nun der altertümliche, schwere Duft eingezogen, den ich später einmal als Maiglöckchenduft identifizieren werde. Noch aber weiß ich natürlich nichts von einem Maiglöckchenduft, sondern begreife nur, dass ich in diesem Zimmer nicht mehr übernachten werde, weil es nun das Elternzimmer ist.
Dieser kurze Gedanke, der Gedanke, gerade aus dem Zimmer vertrieben worden zu sein, in dem ich mich in den letzten Wochen so wohlgefühlt habe, lässt mich einen Moment lang traurig und damit noch hilfloser werden, Mutter aber bemerkt so etwas natürlich sofort, sie vermutet allerdings, dass meine plötzliche Traurigkeit von ihrer langen Abwesenheit herrühre. Immer wieder streicht sie mir über den Kopf, als wollte sie diese Traurigkeit mit allen Mitteln vertreiben, dann aber kommt ihr ein Gedanke, und sie geht hinüber zum Bett, auf dem noch immer ihr schwerer, noch nicht ausgepackter Koffer liegt.
Ich sehe sie, wie sie in diesen Koffer greift und einige Lagen ihrer Kleidung beiseite legt, schließlich stößt sie auf eine größere Mappe. Sie zieht diese Mappe hervor und winkt mir, ich solle zu ihr kommen, und dann öffnet sie die Mappe auf dem Bett und lässt mich sehen, was sich darin befindet: Meine Mutter hat mir das Alphabet in Hunderten von bunten, anscheinend von ihr selbst aus Buntpapier ausgeschnittenen Buchstaben mitgebracht. Die bunten Buchstaben liegen in der Mappe alle wild durcheinander, aber ich erkenne sie deutlich, jedoch
nicht als einzelne Buchstaben, sondern so, dass sich diese einzeln daliegenden Buchstaben in meinem Kopf sofort zu Wörtern verbinden.
P und A ...- und sofort funkt mein Kopf: Pappel. R, E und I ...- und sofort funkt mein Kopf: Reiher. In Windeseile verbinden sich die wild verstreut herumliegenden Buchstaben in meinem Kopf zu Wörtern und kleinen Sätzen, es geht viel zu schnell, das spüre ich sofort, es geht so schnell und so rasant, dass mir schwindelt, ich schließe die Augen, aber die Buchstaben verbinden sich miteinander, auch ohne dass ich sie anschaue, es ist, als habe nun ein Automatismus Gewalt über mich, es schüttelt mich richtig durch, mir wird schlecht, ich schaffe es gerade noch, das Waschbecken aufzusuchen und mich zu übergeben.
Mutter aber versteht anscheinend nicht, was da gerade mit mir geschehen ist, sie denkt wohl, dass mich ihre Ankunft so mitnimmt, jedenfalls lege ich ihr tröstendes Streicheln so aus, beruhige Dich doch, wir sind ja wieder zusammen, das will sie mir anscheinend sagen, denn sie tut nichts, mich von den bunten Buchstaben zu befreien, sondern breitet sie wenig später auch noch auf dem Bett aus, während ich mit dem Rücken zu ihr am Fenster stehe und mich an das Fensterbrett klammere.
Ich will, dass diese bunten Buchstaben verschwinden, am liebsten würde ich sie sofort aus dem Fenster oder am besten gleich ins Feuer werfen, das aber geht natürlich nicht, denn diese Buchstaben sind Mutters Geschenk an ihren lieben und einzigen Sohn, mit dem sie doch eigentlich ein neues Leben beginnen wollte.
Ich versuche, mich zu beruhigen, ich schaue hinunter in den Garten und sehe, dass an diesem Abend wegen Mutters Ankunft auf dem Hof im Freien gedeckt wird, die Kellnerinnen sind schon beinahe mit dem Decken der langen Tafel fertig, ich aber habe nicht den geringsten Appetit, nein, der Appetit ist mir wirklich vergangen. Dann aber höre ich schon, dass Vater uns ruft, Johannes, Katharina! und noch einmal: Johannes, Katharina!
Da nimmt Mutter mich an der Hand und geht mit mir hinaus auf den Flur, ich gehe links von ihr, sie rechts, und als wir so nebeneinander die kleine Treppe hinabgehen, weiß ich auf einmal, was nun geschehen wird. Ich weiß es ganz genau, es ist nicht nur eine Ahnung, nein, ich weiß es wirklich, und bis heute ist mir unerklärlich, woher ich derart genau wissen konnte, was als Nächstes passieren würde.
Ich erkläre es mir so, dass ich unseren gemeinsamen Gang die Treppe hinab als den Beginn eines Auftritts erlebte. Mutter ist so seltsam festlich gekleidet, wie eine Künstlerin, wie eine Sängerin ... - genau eine solche Vermutung ging mir wohl durch den Kopf, und als wir unten, in der leeren Gaststube, ankamen, wusste ich auch sofort, zu welchem Zweck sie sich so festlich gekleidet hatte: Mutter wollte Klavier spielen.
Die abendliche Tischgesellschaft hatte sich längst draußen im Garten versammelt. Einige Fackeln brannten und die Laternen warfen ein weiches, diffuses Licht, während die Fenster der Gaststube weit geöffnet standen, um die frische Abendluft einmal durch den Raum ziehen zu lassen. Mutter aber ging mit mir nicht nach draußen, sondern direkt auf das Klavier zu, auf dem ich an jedem Morgen gespielt hatte. Kurz überlegte ich, ob ich ihr nicht zuvorkommen und ihren Auftritt verhindern sollte, dann aber setzte ich mich auf ihren Wink hin an einen Tisch und beobachtete sie, wie sie den Deckel des Klaviers öffnete, die Finger ihrer beiden Hände für einen Moment auf die Tasten legte, sich noch einmal nach mir umschaute und zu spielen begann.
Sie begann sehr leise, ja sogar unglaublich leise, ihr Klavierspiel war wohl zunächst gar nicht draußen zu hören, dann aber setzte der konstante Rhythmus sich durch, es war ein Walzer-Rhythmus, das bekam ich sofort mit, Mutter spielte einen schmeichlerischen, sich langsam erst aufbauenden, dann aber immer schneller drehenden Walzer. Nach kaum einer Minute hatte ihr Spiel auch eine gewisse Lautstärke erreicht, jedenfalls näherten sich draußen einige Personen den Fenstern, um hineinzuschauen und zu sehen, wer dort gerade spielte, ich hörte das Flüstern, es ist Katharina, nein, das kann doch nicht sein, doch doch, es ist Katharina, die spielt, aber ich bitte Dich, was redest Du denn, doch doch, ich schwöre, es ist Katharina!
Dieses Flüstern wuchs immer mehr, draußen herrschte ein regelrechtes Stimmengewirr, einige konnten es noch immer nicht glauben, doch an den Fenstern waren jetzt kleine Trauben von Neugierigen aufgetaucht, die, sobald sie Mutter erkannten, ruhiger wurden und endlich ganz schwiegen. Niemand kam jedoch hinein in die Gaststube, niemand wagte sich dort einzufinden, selbst die jungen Kellnerinnen, die eben noch durch die Gaststube geeilt waren, um die letzten fehlenden Gläser nach draußen zu tragen, blieben im Eingang der Küche stehen und trauten sich nicht mehr, die Gaststube zu durchqueren.
Nur ein einziger Mensch kam schließlich von draußen herein, ich sah, wie der große Schatten sich im Laternenlicht der Tür näherte, es war mein Vater, mein Vater kam in die Stube und ging weiter bis zu meinem Tisch, und dann setzte er sich neben mich, während meine Mutter spielte, als habe sie ihn nicht bemerkt.
Damit also hatte sie sich die Zeit meiner Abwesenheit in Köln vertrieben! Sie hatte sich wieder ans Klavier gesetzt und anscheinend unermüdlich geübt, denn ihr Spiel war so sicher und so gefestigt, als hätte sie in dieser Hinsicht nie eine Krise erlebt. Sie spielte sogar mit einer gewissen Brillanz, obwohl sie keine Virtuosenstücke ausgewählt hatte, sondern einen Walzer nach dem ändern vortrug, es waren jedoch, wie dann auch rasch getuschelt wurde, Walzer von Frederic Chopin, in denen es Passagen genug gab, die etwas durchaus Virtuoses hatten.
Ich möchte an dieser Stelle meiner Erzählung kurz innehalten und zugeben, dass dieses abendliche Vorspiel meiner Mutter der Grund für eine kuriose Hassliebe wurde, die mich bis heute mit den Kompositionen Frederic Chopins verbindet. Ich muss das an dieser Stelle erwähnen, weil diese Hassliebe in meinem Leben immer wieder eine große Rolle gespielt hat und später der Anlass sowohl für eigentlich überflüssige Katastrophen als auch für bestimmte Sternstunden war.
Mein angespanntes Verhältnis zu den Kompositionen Chopins hatte zum einen damit zu tun, dass ich von Mutters Spiel hingerissen war wie noch von keinem ändern zuvor. Ab und zu hatte ich auf Schallplatten große Pianisten spielen gehört, aber ich hatte noch nie einen spielen sehen. Mit Mutters Spiel erlebte ich daher zum ersten Mal live einen mir perfekt vorkommenden Auftritt, der die Verführungskraft der Musik inszenierte und sich dafür genau der richtigen Stücke bediente.
Die Walzer Chopins nämlich hatten etwas außerordentlich Verführerisches, ja sie kokettierten geradezu mit der Verführung, indem sie sich von Walzern in Traumtänze und wieder zurück in Walzer verwandelten, aparte Läufe einstreuten und daher letztlich ein raffiniertes Spiel mit dem Walzer trieben, das auch all denen gefiel, die an klassische Musik nicht gewöhnt waren, wohl aber sofort erkannten, dass es sich offenbar um Walzer handelte.
In Bewunderung dieses Raffinements und der Spielkunst meiner Mutter saß ich also mit offenem Mund da, ich liebte dieses Spiel, ich liebte es in diesem Moment über alles, und doch begann ich es von Minute zu Minute auch mehr und mehr zu hassen. Warum hatte Mutter mir nichts von ihrem Klavierüben verraten? Warum trat sie an diesem Abend unseres Wiedersehens so demonstrativ auf, als habe sie endlich Zeit gefunden, wieder ordentlich Klavier zu üben? Und warum spielte sie genau auf jenem Klavier derart perfekt, auf dem ich zuvor meine einsamen Übungen gemacht hatte?
Während sie brillierte und weiter und weiter spielte, kam es mir so vor, als geriete mein wochenlanges
Üben in Vergessenheit, ja als würde es vollkommen ausgelöscht. Nein, ich hatte in diesen Wochen nicht Kompositionen von Frederic Chopin, sondern Stücke von Johann Sebastian Bach und Domenico Scarlatti gespielt, und diese Stücke hatten nicht im Geringsten an das verführerische Raffinement herangereicht, das die Stücke Chopins mit jedem Takt ausstrahlten. Gefragt, ob ich schon einmal Stücke von Chopin gespielt hätte, hätte ich sogar antworten müssen, dass dies bisher nicht der Fall gewesen sei, nein, verdammt, ich hatte noch nie Chopin gespielt, und wenn es in der Zukunft nach mir ginge, würde ich wohl auch nie Stücke von Chopin spielen, denn diese Stücke waren ein verführerisches und sich einschmeichelndes Träumer- und- Mitsummer-Gedudel, erfunden nur deshalb, um mit unlauteren Mitteln zu prunken.
Träumer- und- Mitsummer-Gedudel - das war meine erste, vom Hass auf das Spiel meiner Mutter genährte Beleidigung, die nun den Kompositionen Chopins galt, und leider muss ich zugeben, dass ich mich in meinem weiteren Leben geradezu darin übertroffen habe, immer neue Beleidigungen der Kompositionen Chopins zu erfinden. Natürlich konnte der Komponist Frederic Chopin nichts dafür, dass meine Mutter seine Stücke missbrauchte, um bei all ihren Zuhörerrinnen und Zuhörern gut anzukommen, natürlich traf ihn an alledem nicht die geringste Schuld, es ging in der Beziehung zwischen Chopin und mir aber auch nicht um Gerechtigkeit und Anerkennung, sondern um etwas Emotionales, Diffuses: Ich konnte Chopins Musik nach einiger Zeit, so verführerisch sie auch immer sein mochte, nicht mehr ertragen und ausstehen, in meinen Ohren war sie gerade wegen ihres Raffinements unerträglich durchschaubar, ein Narkotikum, das ich am liebsten sofort verboten oder auf andere Weise ausgeschaltet hätte.
Nun gut, lassen wir es vorerst dabei bewenden, von Chopins Kompositionen wird später noch ausführlicher die Rede sein ..., wichtig ist im Augenblick nur, dass ich Chopin zu lieben und gleichzeitig zu hassen begann und dass dieselbe Liebe und derselbe Hass dem Spiel meiner Mutter galten, das nicht aufhören wollte, sondern einen Walzer nach dem ändern kredenzte, Walzer für Walzer, und alle waren sie Walzer des Komponisten Frederic Chopin.
Beinahe eine halbe Stunde, behauptete Vater später einmal, habe Mutter damals gespielt, und am Ende habe selbst das Küchenpersonal ein wenig gemurrt, weil man kein abendliches Konzert, wohl aber eine Abendmahlzeit in mehreren Gängen geplant hatte, die nun alle warm gehalten werden mussten, über eine halbe Stunde lang.
Dann aber war es vorbei, und der Beifall war groß, und mein Vater umarmte meine Mutter, die nun endlich nach draußen ging und sich dort weiter feiern und an ihrem Ehrenplatz in der Mitte des langen Tisches platzieren ließ. Nach ihrem Spiel hatte sie nicht nach mir geschaut, sie hatte mich übersehen oder nicht mehr an mich gedacht, auch das schmerzte mich, sie war also nach draußen geeilt, um den Beifall und das Lob zu genießen, darauf war es ihr angekommen, nicht aber darauf, den Abend vor allem als jenen Abend zu feiern, an dem sie ihren einzigen, geliebten Sohn nach langer Trennung wiedersah.
Am Ende ihres Auftritts saß ich also wahrhaftig allein in der Gaststube. Nur mein Onkel Hubert war noch in meiner Nähe, na, Johannes, fragte er, willst Du uns später auch noch was spielen? Ich stand auf und schüttelte den Kopf, nein, ich wollte auf keinen Fall später noch irgend ein Stück spielen, dessen Komponist kein Mensch genau kannte und das keiner unbedingt hören wollte, nein, das wollte ich auf gar keinen Fall.
Ich verließ die Gaststube und ging draußen zu dem langen Tisch, an dem schon die meisten Hofbewohner Platz genommen hatten, ich sah, dass Mutter in der Mitte einer Tischseite saß und anscheinend direkt neben ihr ein Platz auch für mich vorgesehen war. Ich wollte aber jetzt nicht neben ihr sitzen, ich war völlig verbockt, ihr Auftritt hatte mich tief gekränkt, in meinen Augen hatte sie mit den dürftigen Walzern Chopins auf meine Kosten einen billigen Sieg errungen.
Und so ging ich nicht hinüber auf ihre Tischseite, sondern zu der anderen Seite und setzte mich ihr genau gegenüber, Auge in Auge mit ihr wollte ich dieses Abendessen hinter mich bringen, und ich hatte mir vorgenommen, kein einziges Mal zu lächeln oder sonst eine freundliche Geste zu machen. Willst Du denn nicht neben Deiner Mutter sitzen?, fragte mich jemand, ich aber tat, als hätte ich die Frage nicht gehört, sondern setzte mich einfach hin, die Tischordnung musste wohl rasch geändert werden, aber das alles interessierte mich nicht, ich saß nicht neben Mutter, sondern ihr gegenüber, und nur darauf kam es jetzt an.
Endlich nahmen dann alle Platz, und Onkel Hubert sprach das Tischgebet. Danach sagte er noch zwei oder drei Sätze zu Mutters Begrüßung, und dass alle an diesem Tisch sich über ihre Anreise aus Köln freuten. Einen Moment war es in dem von vielen Fackeln zusätzlich erleuchteten Garten beinahe andächtig still, ich glaubte sogar, den nahen Fluss rauschen zu hören, so still kam es mir in diesem Moment vor. Der Onkel wünschte allen schließlich einen guten Appetit und setzte sich wieder ..., als ich, noch in die Stille hinein, zu sprechen begann: Da ist eine Suppenschüssel, und daneben ist eine Suppenkelle. Da ist ein Unterteller, da ist ein flacher Teller., da ist ein tiefer Teller. Der tiefe Teller ist ein Suppenteller, der kleine Teller ist ein Nachspeisenteller. Da ist eine Soßenschüssel mit einem Soßenlöffel. Da ist eine Gemüseschüssel, und daneben ist eine Salatschüssel, und daneben ist das Salatbesteck. Da ist Salz, da ist Pfeffer. Da ist Öl, da ist Essig. Da ist ein Messer, da ist eine Gabel, da ist ein Löffel. Da ist eine Salatgabel, da ist ein Salatlöffel, da ist ein Wasserglas, da ist ein Bierglas, da ist ein Bierhumpen, da ist ein Weinglas. Da ist ein Weißweinglas, da ist ein Rotweinglas. Da ist der Brotkorb, da ist Brot ...
Während ich das alles aufsagte, hatte ich die Augen geschlossen. Ich brauchte mir die Dinge auf dem Tisch nicht lange anzuschauen, ich hatte ihre Bilder im Kopf, und indem ich mich an die Bilder erinnerte, erinnerte ich mich an die Worte. So sprach ich nicht von dem schön gedeckten Tisch vor meinen Augen, sondern von dem mit Bildern und Worten gedeckten Tisch in meinem Kopf.
Als ich fertig war und die Augen wieder öffnete, schaute ich Mutter an und erkannte auf den ersten Blick, dass sie völlig überrascht und fassungslos war. Sie hatte die Schultern hochgezogen, als fürchtete sie sich vor etwas, sie saß angespannt da, als wäre sie geradezu entsetzt und als zöge sie den Kopf ein, weil die Welt um sie herum gleich zusammenzustürzen drohte. Eben hatte sie noch den Beifall und die Eleganz ihres Auftritts genossen, jetzt aber hatte ich meinen eigenen Auftritt folgen lassen, keine Kompositionen von Chopin, sondern glasklare Sätze, da ist ..., da ist ..., und da ist...
Sie war gar nicht fähig, auf diesen Auftritt zu reagieren, sondern sie hielt sich die rechte Hand vor den Mund, als wäre gerade etwas Schreckliches, ja geradezu Furchtbares geschehen. Auch die anderen Teilnehmer an der festlichen Mahlzeit rührten sich nicht, sondern starrten mich an, als wäre ich ein außerirdisches Fabelwesen, das gerade aus dem Weltall gekommen und an diesem Tisch gelandet wäre. Es war wieder still, und die Stille kam mir noch schlimmer und anstrengender vor als die Stille nach dem Tischgebet und den Begrüßungsworten des Onkels. Warum sagt denn niemand etwas?, dachte ich, warum, verdammt, sagt nicht endlich jemand einen ersten, freundlichen Satz? Und warum, verdammt, bekomme ich keinen Beifall?
Niemand, wirklich niemand sagte zunächst einen Ton, alle waren anscheinend noch viel zu sehr damit beschäftigt, zu begreifen, was gerade geschehen war. Niemand sagte etwas, niemand klatschte, dann aber begann endlich doch jemand zu sprechen, und er tat es auf eine Art und Weise, die mir noch heute den größten Respekt und alle Bewunderung abverlangt.
Es war mein Vater, der endlich zu sprechen begann, mein Vater hatte sich zuerst gefangen, vielleicht gelang ihm das in diesem schwierigen Augenblick besser als den anderen, weil er meine täglichen Fortschritte am besten von allen mitbekommen und immer daran geglaubt hatte, dass sein Sohn einmal sprechen würde.
Das Erstaunliche war nur, dass Vater mit keiner einzigen Bemerkung auf mein Sprechen einging, dass er es weder kommentierte noch mich lobte, sondern aufstand und auf die Gastwirtschaft zeigte: Und was ist das, Johannes?, fragte mein Vater.
Perfekt! Mein Vater fragte mich, was das war, so wie er die ganzen letzten Wochen für mich gefragt und mir gezeigt hatte, was dieses oder jenes Ding da vor meinen Augen war. Mein Vater forderte mich also auf, vor den anderen das Frage- und Antwort-Spiel mit ihm zu spielen, mein Vater verlangte noch mehr von mir, mein Vater war nicht damit zufrieden, dass ich eine Kostprobe meines Sprechens oder ein paar luftige Kompositionen zum Besten gab, mein Vater wollte, dass ich den ganzen Reichtum meines neuen Wissens zeigte.
Ich stand auf, so wie er, ich stand jetzt hinter dem Tisch und schloss die Augen, und dann setzte ich wieder an: Das ist die Wirtschaft. Das ist der Eingang mit einem Geländer. Das ist die Laterne. Das ist die Wand mit den Fenstern. Das ist der Balkon und der Balkonstuhl und der Balkontisch und die Balkonpflanze. Das ist das Dach und die Traufe und der First. Das ist der Schornstein und der Giebel und das Giebelfenster ...
Da hörte ich, dass geklatscht wurde, ja, es wurde wirklich geklatscht! Das Klatschen wuchs und wurde lauter, und nun waren auch die ersten Stimmen zu hören, anfeuernde Stimmen, Stimmen, die mich zu Höchstleistungen anspornen wollten, gleichzeitig aber wurde auch auf den Tisch getrommelt, als wollte jemand den Rhythmus zu meinen Worten und Aufzählungen klopfen, weiter, weiter, ich machte weiter, das Weitermachen war für mich ja kein Problem, ich hätte die halbe Nacht weitermachen können, schließlich hatte ich Hunderte, ja vielleicht sogar Tausende Worte auf Lager.
Dann aber spürte ich, dass mich jemand an der Schulter berührte, ich öffnete die Augen, Vater packte mich jetzt an der Schulter, und ich sah, dass er mir vormachte, wie ich mich verbeugen sollte. Ich sollte mich also zum Klatschen der anderen verbeugen, tief verbeugen sollte ich mich, mehrmals, wie ein Klavierspieler nach seinem großen Auftritt sollte ich mich verbeugen.
Ich trat einen Schritt vom Tisch zurück, und dann verbeugte ich mich tief, wie Vater es mir gezeigt hatte, alle lachten und freuten sich, nur Mutter saß noch immer fassungslos hinter dem Tisch und schaute mich an, als könnte sie nicht begreifen, was ich gerade vollbracht hatte.
So stand ich minutenlang und verbeugte mich immer wieder nach allen Seiten, bis Vater mich an der Hand nahm und mit mir in die Gaststube zurückging. Warum tat er das? Was hatten wir beide noch in der Gaststube zu suchen?
In der Gaststube kam es mir jetzt sehr dunkel vor, ich konnte Vater kaum erkennen, dann aber hörte ich ihn in der Dunkelheit sprechen: Das war wunderschön und großartig, Johannes! Du hast Deinem Vater gerade eine sehr große Freude gemacht! Alles, was wir hier auf dem Hof gemeinsam getan haben, war also nicht umsonst, nein, es war nicht umsonst. Manchmal habe ich, ehrlich gesagt, nicht mehr daran geglaubt dass wir beide es schaffen, aber wir haben es doch geschafft. Du und ich, wir haben es geschafft, vor allem aber hast Du es geschafft! Wenn Du so weiter machst, kann Dir jetzt nichts mehr passieren! Wir sind über den Berg, Du kannst jetzt sprechen, lesen und schreiben! Ab jetzt wirst Du es allen zeigen ...
Ich war so unglaublich stolz, dass mein Vater das sagte, und noch stolzer war ich darauf, dass er mit mir in die Gastwirtschaft gegangen war, um mir das alles nicht vor den Augen der anderen, sondern allein nur mir zu sagen. Wir beide hatten es geschafft, ja, wahrhaftig, wir beide, Vater und Sohn, hatten etwas Großes hinbekommen.
Ich war nun kein einsames, stummes und zurückgebliebenes Kind mehr, ich war ein Junge wie alle anderen, mit einem nicht mehr zu bändigenden, jahrelang unterdrückten, jetzt aber umso vehementer ausbrechenden Wissensdrang. Von nun an würde ich alles lesen, was mir unter die Augen kam, und von nun an würde ich alles aufschreiben, was ich an neuen Dingen sah. Ich war nun bereit, an die Volksschule zurückzukehren und es, wie Vater gesagt hatte, allen zu zeigen ...

#23 
regrem патриот23.04.14 16:49
NEW 23.04.14 16:49 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 17:09 (regrem)

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GESTERN NACHMITTAG bin ich nach meinem täglichen Schreibpensum wieder einmal Mariettas Mutter im Treppenhaus begegnet. Wir sind stehen geblieben und haben uns etwas unterhalten, und da wir gerade so leicht ins Gespräch geraten waren, nahm ich einen Anlauf und lud sie und ihren Mann zu einem Abendessen in meine Wohnung ein. Können Sie denn kochen?, fragte Mariettas Mutter, und ich antwortete, dass ich recht ordentlich kochen könne und dass sie keine Angst haben müsse, etwas Ungenießbares zu essen zu bekommen.
Sie lächelte, sie tat etwas scheu, und als sie weitersprach, verstand ich auch sofort, warum. Sie berichtete nämlich davon, dass sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammenlebe, ihr Mann und sie lebten seit einiger Zeit getrennt, doch er kam alle paar Tage vorbei, um Marietta zu sehen und etwas mit ihr zu unternehmen.
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf erwidern sollte, ich hatte ihren Mann beinahe noch häufiger als sie im Treppenhaus und zweimal sogar unten in der Buchhandlung im Parterre gesehen. Er hatte allerdings keinen Kontakt mit mir aufgenommen, sondern mich jedes Mal nur mit einem kurzen, aber freundlichen Nicken gegrüßt, jeder von uns war seiner Wege gegangen, wir hatten anscheinend beide keine Lust verspürt, uns miteinander bekannt zu machen.
Jetzt aber, nach der Auskunft von Mariettas Mutter über den bedauerlichen Zustand ihrer Ehe, verstand ich sofort, warum sich ihr Mann mir nicht vorgestellt hatte und nicht auf mich zugekommen war. Er war dabei, sich von dem Haus, in dem er vielleicht ein paar Jahre gelebt hatte, zu entfernen, deshalb wollte er keine neue Verbindung zu einem anderen Hausbewohner mehr aufnehmen und gewiss keine zu einem Fremden, von dem er nicht wusste, ob er sich nicht nur für kurze Zeit in Rom aufhielt.
Der Hinweis von Mariettas Mutter auf ihre Ehe führte im weiteren Verlauf unseres Gesprächs dann dazu, dass wir das Thema Einladung %um Abendessen gar nicht mehr berührten, das Thema hatte sich anscheinend von selbst erledigt, und so sprach ich auf mehrere Nachfragen hin von etwas anderem, wie zum Beispiel davon, dass ich kein Rom-Neuling sei, sondern in meinen Jugendjahren und später immer wieder längere Zeiten in Rom verbracht habe. Meine Erläuterungen schienen Mariettas Mutter zu interessieren, denn ihr Interesse ging weit über das übliche, höfliche Maß einer kurzen Konversation hinaus, ja sie fragte mich sogar danach, in welchen Gegenden Roms ich früher einmal gelebt und was mich in diesen vergangenen Zeiten nach Rom geführt habe.
Wir gaben uns schließlich die Hand, sie ging einige Stufen hinauf zu ihrer Wohnung, und ich ging hinab ins Freie und machte einen kurzen Abstecher in die Buchhandlung, die ich für eine der besten Buchhandlungen Roms halte. Ich widmete mich ein wenig dem belletristischen Sortiment und suchte nach neuen italienischen Romanen, deren Lektüre meine Sprachkenntnisse weiter verbessern könnte, da ich aber nicht einen einzigen Titel fand, der mich irgendwie interessierte, kaufte ich mir eine historische Studie über das Leben Konstantins des Großen, ließ das Buch als Geschenk einbinden und verließ die Buchhandlung wieder.
Wie meist nach einem langen Schreibtag hatte ich starken Durst (ich trinke während des Schreibens nichts, nicht mal einen Kaffee, keinen Tee, nicht einmal Wasser, ich trinke rein gar nichts), und so streunte ich etwas über den großen Platz vor meinem Wohnhaus, um die richtige Adresse für ein erstes Getränk am Nachmittag zu finden. Meist trinke ich zunächst eine kleine Flasche Wasser, dann aber einen Campari, ich trinke Campari beinahe ausschließlich am späten Nachmittag oder am frühen Abend, nie käme ich auf die Idee, nachts noch einen Campari zu trinken, und erst recht würde ich niemals einen Campari nach einer Mahlzeit trinken.
Ich dachte ein wenig über meine merkwürdigen Trinksitten nach und spielte im Kopf zunächst das Campari-Spiel durch (wann und wo trinke ich Campari, vor welchen Mahlzeiten trinke ich ihn am liebsten, trinke ich ihn gerne zu zweit?), um nach einer Weile zu bemerken, dass meine morgendliche Romanarbeit mich noch immer im Griff hatte. Von diesen Spielen im Kopf mit bestimmten Begriffen, von diesem Ein- und Zuordnen und Sortieren und Umsortieren hatte ich nämlich am Morgen erzählt und geschrieben, jetzt aber wurde ich diese Themen nicht los und verhielt mich wie der kleine Junge, der am Tisch einer Gartenwirtschaft saß und lauter Worte für bestimmte Tischgeräte aufzählte und durchging.
Als ich mich dabei ertappt hatte, musste ich lächeln, ich wusste ja aus Erfahrung, wie stark mich das Schreiben usurpierte, am besten war es, quer über den Markt zu gehen und eine der kleinen Bars zu betreten, in denen ich angesprochen und damit auf andere Gedanken gebracht wurde. Und so ging ich quer über den Testaccio -Markt und dann in die nächstbeste kleine Bar und bestellte, ganz gegen meinen Vorsatz, einen schwarzen Kaffee und einen Anisschnaps, mein Gott, ich war anscheinend wirklich etwas durcheinander, denn es gehörte gewiss nicht zu meinen Gewohnheiten, den späten Nachmittag mit einem Anisschnaps einzuleiten.
Ich dachte noch darüber nach, warum mir diese Bestellung unterlaufen war (Campari ist im Grunde ein typisches Träumer- und Mitsummer-Gesöff, dachte ich), als ich Mariettas Mutter die Bar betreten sah. Als wir uns erkannten, war es uns beiden peinlich, einander gleich wieder zu begegnen, sie lächelte aber tapfer und kam sofort auf mich zu und erklärte mir, dass sie während ihres Einkaufs etwas vergessen habe und deshalb noch einmal schnell auf den Markt geeilt sei.
Was trinken Sie denn da?, fragte sie, und ich erklärte es ihr, obwohl ich mich schämte, ja, ich schämte mich wahrhaftig, gerade ein so blödes Getränk wie einen Anisschnaps zu trinken, was hinterließ das bloß für einen Eindruck?, und was würde ich selbst von einem Menschen halten, der etwas so Dämliches wie einen Anisschnaps trank?
Was möchten Sie trinken?, fragte ich sie daher rasch, sie überlegte einen Moment, dann aber sagte sie, dass sie seit ewigen Zeiten keinen Anisschnaps mehr getrunken habe und eigentlich gar nicht mehr wisse, wie so etwas schmecke, und dass sie deshalb gern einen solchen Schnaps trinken würde, einen solchen Schnaps und einen schwarzen Kaffee.
Wir unterhielten uns dann eine Weile sehr angeregt, mein leerer, ausgeschriebener Kopf machte erstaunlich gut mit, ich erfuhr, dass Mariettas Mutter mit Vornamen Antonia und mit Nachnamen Caterino hieß, Letzteres hatte ich bereits gewusst, aber nicht behalten, irgendwann war mir der Name auf dem Türschild der Wohnung aufgefallen.
Antonia Caterino war von Beruf Historikerin, sie hatte einige kurze und anscheinend erfolgreiche Jahre als Assistentin an der Universität hinter sich, dann aber hatte sie geheiratet und Marietta geboren, der Karriereeifer war ein wenig gebrochen, sie hatte die universitäre Stelle verloren, schließlich war sie Gymnasiallehrerin geworden. Ich verstehe, sagte ich am Ende ihres kurzen Vita-Berichts, deshalb sehe ich Sie nie am Vormittag, ich sehe Sie nie, weil Sie in der Schule sind!
Zum Glück ging sie über diese einfältige Bemerkung hinweg und befragte mich nach weiteren biographischen Angaben zu meiner Person, ich sagte ihr, dass ich Schriftsteller sei und gerade an einem Roman über meine Biographie arbeite, weswegen ich gerade jetzt nicht gern über mein bisheriges Leben sprechen würde, dieses Sprechen würde mich durcheinanderbringen, und gegenüber einem Schreibstoff gelte sowieso ein absolutes Schweigegebot.
Sprechen Sie mit niemandem über ein in Arbeit befindliches Manuskript?, fragte sie neugierig, und ich bedauerte sofort, nicht gelogen und mich als Architekt oder Immobilienhändler ausgegeben zu haben. Die meisten Menschen geraten nämlich, wenn sie einem Schriftsteller begegnen, in eine gewisse Verzückung, als wäre es das Großartigste und Seltenste auf der Welt, einem Menschen zu begegnen, der täglich einige Seiten mit Buchstaben und Worten füllt. Meist beginnt dann ein ewiges Fragen (Schreiben Sie noch mit der Hand? Machen Sie sich vorher Notizen? Wie lange arbeiten Sie an einem Roman?^), es handelt sich um eine Fragerei, die niemand einem Architekten oder Immobilienhändler zumuten würde (Besichtigen Sie die Wohnungen, die Sie verkaufen wollen, vor einem Kundengespräch selbst? Machen Sie sich dabei Notizen? Wie lange brauchen Sie für einen Verkauf?^), mit der ausgerechnet Schriftsteller aber unaufhörlich genervt werden.
Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich während der Arbeit an meinem Manuskript mit niemandem über dieses Manuskript sprechen würde, und ich gab zu erkennen, dass ich wirklich nicht gern über dieses Thema sprach, nein, ich wollte am Ende eines anstrengenden Schreibtages wahrhaftig nicht über Einzelheiten meiner Arbeit sprechen.
Wir schafften es dann erstaunlicherweise, das Thema fallen zu lassen, und unterhielten uns etwa noch eine Viertelstunde weiter, am Ende unseres Gesprächs kam Antonia dann jedoch seltsamerweise noch einmal auf mein früheres Angebot zurück und schlug mir vor, einmal zu ihr und Marietta zum Abendessen zu kommen, wir könnten gemeinsam etwas kochen, Marietta mache das Kochen Spaß und außerdem spiele sie Gästen gern etwas auf dem Klavier vor.
Ich war von diesem Angebot regelrecht betört, sehr gut, dachte ich, endlich sind meine einsamen Tage zu Ende, nichts tue ich jetzt lieber als mit anderen Menschen nach einem langen Schreibtag ein Abendessen zu kochen, während der Kocharbeit etwas Wein zu trinken und einem leidlich gut spielenden Kind dabei zuzuhören, wie es den ersten Satz von Johann Sebastian Bachs Italienischem Konzert spielt.
Ich schlug vor, noch an diesem Abend schriftlich ein kleines Menü zu komponieren, meine Menü-Angaben würde ich Antonia in den Briefkasten werfen, sie könnte sie korrigieren oder ergänzen, je nach Mariettas und ihrem Geschmack, und dann solle sie den Zettel zurück in meinen Briefkasten werfen, damit ich am nächsten Tag einkaufen gehen und die Bestandteile unserer Mahlzeit besorgen könne.
Wollen wir gleich morgen Abend zusammen essen?, fragte ich, und Antonia Caterino lächelte wieder und stimmte zu, nicht ohne sich über das Procedere lustig zu machen, das ich für die Zusammenstellung des abendlichen Menüs vorgeschlagen hatte. Dann aber leerten wir unsere Gläser Anisschnaps, und Antonia Caterino verabschiedete sich.
Als sie verschwunden war, griff ich gleich nach meinem Notizheft und notierte noch im Stehen an der Bar die Zusammenstellung des Menüs, ich dachte an etwas typisch Römisches, an eine Kichererbsensuppe mit etwas Pasta, an Penne mit Artischocken und an eingekochte, fruchtige Aprikosen mit etwas Eis. Kein Fleisch, kein Fisch, sondern geradezu spartanische, einfache Gerichte! Marietta, vermutete ich, würde so etwas mögen, und Antonia mochte so etwas wahrscheinlich auch, jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich den beiden mit gut gewürzten Fleischspeisen oder raffiniert zubereitetem Fisch eine Freude gemacht hätte.
Noch am gestrigen Abend warf ich diesen Menuvorschlag, den ich zuvor noch ordentlich abgetippt und ausgedruckt hatte, in den Briefkasten der Familie Caterino und erhielt ihn bereits heute Morgen mit der Bemerkung, dass meine Vorschläge mit Freude angenommen würden und es nichts zu ändern gebe, zurück. Nun gut, so etwas hatte ich mir ja bereits gedacht, ich hatte den Geschmack von Marietta und Antonia anscheinend genau getroffen.
Da mich der Gedanke an das abendliche Menü jedoch sehr beschäftigte, verbrachte ich den halben heutigen Morgen, ganz gegen meine sonstige Gewohnheit, auf dem Markt und in seiner Umgebung. Ich kaufte ein, ich unterhielt mich hier und dort über die beste Zubereitung einer traditionell römischen Kichererbsensuppe, ich notierte mir lauter Details, ja ich ging geradezu verschwenderisch mit meiner morgendlichen Zeit um, die ich doch sonst immer mit Schreiben verbracht hatte.
Kurz vor Mittag hatte ich meine Einkäufe dann endlich hinter mir und brachte alles zunächst in meine Wohnung. Ich stellte den Wein kühl und breitete meine Einkäufe auf dem Küchentisch aus, offensichtlich hatte ich viel zu viel eingekauft und mich keineswegs an die Menü-Vorschläge gehalten, schon allein all die Käsesorten, die ich in einem nahe gelegenen, stadtbekannten Feinkost-Geschäft erstanden hatte, hätten für eine passable Abendmahlzeit gereicht, ganz zu schweigen von den hervorragenden Würsten, die ich aus reiner Schaulust gekauft hatte und von denen ich zwei oder drei - ganz gegen meine Vorsätze - am Abend in der Pfanne braten würde.
Während ich so noch in der Küche hantierte, hatte ich plötzlich Lust, die gekauften Sachen zu einem Stillleben zu ordnen, im Grunde war das alles ja bereits in ungeordnetem Zustand ein schöner Anblick, um wie viel schöner aber würde es noch erscheinen, wenn ich es zu einem Stillleben komponiert hätte.
Ich begann auch gleich damit, ging aber zuvor hinüber in mein Arbeitszimmer, um eine CD einzulegen, ich dachte an ältere Bach-Aufnahmen des Pianisten Alfred Cortot, die ich lange nicht mehr gehört hatte, ich drückte die Play -Taste und ging wieder in die Küche zurück, als ich aber in der Küche ankam, bekam ich ausgerechnet eine Cortot-Aufnahme mit den Walzern Frederic Chopins zu hören.
Im Grunde war es natürlich zum Lachen, ich lachte aber nicht, ja es amüsierte mich nicht ein bisschen, statt der
erwarteten Stücke von Bach nun die Walzer von Chopin zu hören. Im ersten Ärger wollte ich sofort wieder zurück ins Arbeitszimmer gehen, um die falsch einsortierte CD aus dem CD-Player zu nehmen und durch eine andere zu ersetzen, dann aber blieb ich auf halbem Weg stehen, hörte einige Minuten zu und ging dann wieder zurück in die Küche, wo ich mich an den großen Tisch setzte, auf dem die Bestandteile des heutigen Abendessens lagen. Ich setzte mich, ich begann, etwas aufzuräumen, ich verteilte die eingekauften Lebensmittel auf dem großen Tisch, und ich hörte dabei ununterbrochen die Walzer Chopins. Sofort war die alte Szenerie wieder da: Der Hof und die Gastwirtschaft, meine Mutter, die letzten Tage auf dem Land ...

#24 
regrem патриот23.04.14 16:51
NEW 23.04.14 16:51 
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MUTTER UND ich — wir hatten nach unserer mehrwöchigen Trennung nicht sofort wieder zueinandergefunden. Jeder von uns beiden spürte es, unser früherer gemeinsamer Rhythmus passte nicht mehr, der eine tat dies und der andere jenes, mehr als den halben Tag verbrachte jeder für sich allein.
Wenn ich mich am frühen Morgen an das Klavier setzte, nahm sie zwar neben mir Platz und kontrollierte mein Spiel, ich mochte diese Kontrolle aber eigentlich nicht mehr und noch viel weniger mochte ich, dass sie sich später selbst an das Klavier setzte und übte, während ich draußen im Freien einer anderen Beschäftigung nachging.
Während der letzten Wochen hatte jeder von uns beiden ohne den anderen auskommen müssen, darunter hatte die frühere Symbiose gelitten. Wir hätten versuchen können, die Risse wieder zu kitten, aber inzwischen hatte jeder bestimmte Eigenheiten und Vorlieben entwickelt, auf die er nicht wieder verzichten wollte.
Ich selbst bemerkte zwar an vielen Kleinigkeiten, dass Mutter sich Mühe gab, die alte Nähe zu mir wiederherzustellen, hielt mich aber ihr gegenüber etwas zurück, weil ich ihren Brief noch genau im Kopf hatte. Sie hatte doch geschrieben, dass wir nicht so weitermachen wollten wie bisher, ja sie hatte doch ausdrücklich den Wunsch geäußert, dass sich etwas ändern müsse. Wenn sie aber wirklich dieser Meinung war und es sich nicht nur um Absichtserklärungen handelte, durften wir beide nicht mehr einen Großteil des Tages in der Nähe des anderen verbringen.
Dass ich mich ihr gegenüber zurückhalten müsse und dass ich meinen bisherigen Tagesablauf nicht wieder ändern dürfe - das alles ging mir die ganze Zeit durch den Kopf, ich konnte über so etwas aber noch nicht sprechen, da ich vorerst nur über eine sehr einfache Sprache verfügte.
Ich antwortete jetzt zwar meist, wenn ich etwas gefragt wurde und die Frage verstanden hatte, aber ich antwortete in kurzen, einfachen Hauptsätzen, die auf die Fragesteller nicht selten komisch wirkten. Alle Bewohner des Hofes waren zwar gebeten worden, mich nicht auszulachen und meine ersten sprachlichen Äußerungen nicht gleich wieder im Keim zu ersticken - die jüngeren hielten sich daran aber nicht, sondern begannen immer wieder zu lachen und lachten dann hinter vorgehaltener Hand weiter.
All dieser Spott machte mir aber nicht mehr viel aus, zum einen deshalb, weil ich an Spott schon seit den ersten Kinderjahren gewohnt war, zum anderen, weil ich fest daran glaubte, bald besser und freier sprechen zu können. Vorerst brauchte ich zum Sprechen noch sehr konkrete Bilder, ich musste sie vor Augen haben, und ich musste genau wissen, wie man die Gegenstände auf diesen Bildern benannte. Was mir jedoch fehlte, waren die Verben und Adverbien, die Bewegung und Aktionen in meine Sprache gebracht hätten. Deshalb antwortete ich zum Beispiel auf eine Frage wie Wohin gehst Du, Johannes? nicht mit einem Ich gehe zum Fluss, ich gehe schwimmen, sondern mit einem Da ist der Fluss. Am Fluss sind die Pappeln, womit ich ausdrücken wollte, dass ich in der Nähe der Pappeln im Fluss schwimmen wollte.
Um mich richtig zu verstehen, musste man also meine Sätze miteinander kombinieren und ein Gespür dafür haben, wie die Lücken in meinen Sätzen zu füllen waren. Der einzige, der das perfekt beherrschte, war mein Vater, der meist genau ahnte, was ich sagen wollte. Meine Mutter dagegen, die unsere Spaziergänge und Streifzüge ja nicht mitbekommen hatte, stand nicht selten vor einem Rätsel, zumal sie ja selbst noch nicht sprach und daher nicht weiter nachfragen konnte.
Auch von meinen anderen Fortschritten hatte sie selbst zunächst wenig, Mutter hatte keine Freude daran, sich viel draußen im Freien zu bewegen, und sie unternahm mit mir auch sonst nichts, obwohl ich zum Beispiel damit gerechnet hatte, dass sie mich einmal zum Baden in dem uns beiden vertrauten See mitgenommen hätte. Das aber tat sie nicht, sie nahm mich nicht mit, ging aber, wie ich rasch herausgefunden hatte, durchaus manchmal allein in das Wäldchen und damit zum See.
Für mich hatten ihre einsamen Gänge zur Folge, dass ich selbst den See nicht mehr aufsuchte, sondern nur noch im Fluss schwimmen ging, manchmal badeten und schwammen wir wahrscheinlich zur selben Stunde in zwei getrennten Gewässern, ich verstand das nicht, ich verstand nicht, warum Mutter nicht daran dachte, ihrem einzigen, geliebten Sohn einen Waldsee zu zeigen, in dem sie selbst doch offensichtlich gern badete.
Da ich mich aber auch nicht aufdrängen wollte, ging ich jetzt meist mit einigen anderen Kindern baden, wobei es mich immer häufiger zu der steilen Felspartie hinzog, von der aus die etwas älteren ihre waghalsigen Sprünge ins Wasser machten. Direkt unterhalb des Felsens war der Fluss sehr dunkel, schattig und viel ruhiger als an anderen Abschnitten, in einigem Abstand zu dieser fast kreisrunden, glatten und in den Felsen hinein ragenden Fläche dagegen strömte er schnell, so dass sich die jüngeren Kinder, die sich noch nicht auf den Felsen wagten, dort einige Meter mittreiben ließen.
Das tat nun auch ich immer wieder und beobachtete dabei aus einer gewissen Entfernung die älteren, die nahe
an den Felsen heranschwammen, ihn über eine schmale, kurvenreiche Fährte hinaufkletterten, sich oben zu mehreren auf dem Felsplateau versammelten und dann einer nach dem anderen heruntersprangen.
Ich hatte mir schon oft ausgemalt, wie schön es sein müsste, ebenfalls einmal von dort oben zu springen, als ich an einem Nachmittag von einem der älteren Kinder aufgefordert wurde, mit hinaufzugehen. Hast Du etwa Angst?, fragte der Junge und sagte, nachdem ich den Kopf geschüttelt hatte: Na dann komm mit hinauf!
Angst war ein Wort, das ich nicht mehr gerne hörte, denn dieses Wort hatte ich meine halbe Kindheit lang hören müssen. Der 'Junge hat ja eine solche Angst ..., Seine Mutter hat noch immer Angst ..., Die stehen vielleicht eine Angst aus ..., Haben die etwa schon wieder Angst? - ich hatte alles, was mit der Angst zu tun hatte, in fast allen denkbaren Formulierungen geboten bekommen und schließlich selbst nicht mehr verstanden, warum anscheinend alles, was mit Mutter und mir zu tun hatte, immer wieder auf diese verdammte Angst hinauslief.
Hier, auf dem Land, hatte ich keine Angst, die Angst war bereits nach wenigen Tagen verschwunden und danach hatte es überhaupt keinen Grund mehr gegeben, sich ängstlich zu fühlen oder vor lauter Angst ein Versteck aufzusuchen. Nein, ich hatte wahrhaftig keine Angst mehr, und ich wollte nicht, dass wieder von Angst die Rede war, ich hatte keine Angst mehr zu sprechen und erst recht hatte ich keine Angst, von einem Felsen ins tiefe Wasser zu springen.
Weil ich mir in dieser Sache sehr sicher war, folgte ich dem älteren Bub, den ich sonst gar nicht kannte, vielleicht wusste er nicht, mit was für einer ehemals furchtsamen Kreatur er es zu tun hatte, ja vielleicht wusste er überhaupt nicht, wer ich war - umso besser, dann würde er mich auch nicht laufend beobachten, wenn ich mit ihm den Felsen hinaufkletterte.
Wir schwammen hintereinander zu der dunklen Stelle des Flusses, wir klammerten uns an dem Felsen fest und zogen uns hoch, bis wir Boden unter den Füssen hatten, dann kletterten wir den Felsen hinauf, ich hinterher, mit gesenktem Kopf, mich mit beiden Händen absichernd.
Oben angekommen, schaute ich hinunter. Ich erkannte die nahe Gastwirtschaft, die lang gezogenen Hügel am Horizont, das Wäldchen, die Wiesen mit den verstreut herumstehenden Gruppen von Kühen — all das war aus dieser Höhe gut zu überblicken und machte einen friedlichen, ruhigen Eindruck. Wenn ich jedoch direkt nach unten, in die Tiefe, schaute, bekam ich es nun doch mit der berüchtigten Angst zu tun. Wie weit das Wasser entfernt war, wie unglaublich weit! Wie dunkel und abstoßend es wirkte, als wollte es einen hinabziehen und nicht mehr freigeben! War es schon einmal vorgekommen, dass einer der Springer in der Tiefe geblieben war, konnte so etwas geschehen, konnte es vielleicht passieren, dass man sich in der Tiefe in irgendwelchen Algenwäldern verfing und dann nicht mehr auftauchte?
Wir standen zu zweit hoch oben auf dem Plateau, und mein Begleiter schaute mich an: Du hast doch Angst! Du
bist noch nie hier runtergesprungen, habe ich recht? Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, ich wollte nicht zugeben, noch nie gesprungen zu sein, denn ich war schließlich genau so groß und wohl auch genau so kräftig wie mein Gegenüber, der anscheinend schon viele Male den Sprung gewagt hatte. Gab es einen Satz mit Angst, den ich hätte sagen können? Fast hätte ich in der Eile Die Angst ist tief gesagt, dann aber fiel mir gerade noch eine andere Formulierung ein: Der Fluss ist tief.
Der Junge, der neben mir stand, nahm diesen hilflosen, ja törichten Satz aber anscheinend ernst, er beugte sich jedenfalls etwas vor, schaute herunter und antwortete: Fünf Meter! Der Fluss soll hier über fünf Meter tief sein, aber nur an dieser Stelle, nur hier! Er blickte kurz noch einmal zur Seite und schaute mich fragend an, ob sein Satz bei mir angekommen war und mich beeindruckt hatte, dann aber wurde es ihm zu viel. Einen Schritt trat er noch zurück, dann nahm er einen kleinen Anlauf, und ich sah ihn in die Tiefe fliegen, wo er im Wasser verschwand, bald aber wieder auftauchte und mir zuwinkte, als wäre der Sprung ein großer Spaß gewesen.
Nun war also ich dran, aber ich zögerte noch, verdammt, jetzt hatte ich wirklich wieder Angst, jetzt hatte mich dieses lähmende, erstickende Gefühl wieder gepackt, so dass ich mich nicht rühren konnte, sondern, wie früher als kleines Kind, auf der Stelle erstarrte. Hätte es hier oben bloß ein Versteck gegeben, in das ich mich hätte zurückziehen können! Sollte ich einfach wieder hinabsteigen oder was zum Teufel sollte ich tun?
Ich blickte noch einmal Hilfe und Rat suchend in die Ferne, als ich meine Mutter bemerkte, die vom Wäldchen aus näher kam und über die Wiese auf den Fluss zulief. Sie hatte mich anscheinend oben auf dem Felsen erkannt, denn sie winkte energisch, um mir zu bedeuten, auf keinen Fall in den Fluss zu springen. Ihr Laufen, ihre Unruhe, ihr dramatisches Abwinken - ich schaute mir das nicht gerne an, zumal es mich an viele Szenen in meiner Kindheit erinnerte, in denen sie mich immer wieder davon abgebracht hatte, einmal irgendetwas zu wagen.
Warum mischte sie sich wieder ein? Warum überließ sie nicht mir die Entscheidung und brachte mich jetzt wieder wie früher so durcheinander, dass ich am Ende gar nicht mehr wusste, was ich tun sollte?
Sie rannte auf den Fluss zu und blieb dann an seinem Ufer, direkt gegenüber dem Felsen, stehen, immer wieder signalisierte sie etwas mit beiden Armen, sie wollte mir anscheinend unbedingt verbieten, von der Höhe zu springen, am Ende war sie vor lauter Erregung beinahe außer sich.
Ich formte meine beiden Hände zu einem Trichter und rief ihr von der Höhe aus zu: Der Fluss ist hier tief, aber sie schüttelte nur abwehrend den Kopf, als stimmte nicht, was ich sagte. Der Fluss ist sehr tief, rief ich weiter, sie aber wollte das nicht hören und geriet derart in Panik, dass ich kaum noch hinschauen konnte.
Ich spürte genau, dass es für mich jetzt darauf ankam, bei meinem Vorhaben zu bleiben: Ich musste springen, ganz unbedingt, die alten Zeiten, in denen Mutter mir immer wieder gesagt hatte, was ich tun durfte und was nicht, waren endgültig vorbei.
Deshalb trat ich, wie ich es bei meinem Vorgänger gesehen hatte, einen kleinen Schritt zurück, um für den Anlauf auszuholen ... - als ich Mutter vom gegenüberliegenden Ufer her schreien hörte: Johannes, Du springst nicht! Spring nicht! Tu das Deiner Mutter nicht an!
Es war, als habe sie die stärkste und letzte Waffe eingesetzt, um mich von meinem Vorhaben abzubringen. Ich dachte aber in diesem Moment keinen Augenblick darüber nach, dass ich meine Mutter gerade zum ersten Mal einige zusammenhängende Sätze hatte rufen hören, nein, ich kam gar nicht dazu, darüber lange nachzudenken, sondern ich folgte dem starken inneren Impuls, den ich gerade noch gespürt hatte, lief an und sprang von der Höhe hinab ins Wasser.
Was für ein wunderbarer Moment! Das Eintauchen in die Kälte, das Verschwinden in der Tiefe, die plötzliche Erleichterung darüber, dass nicht das Geringste passiert war, das Vergnügen an der momentanen Entfernung von Licht, Luft und Sonne, die sekundenlange Zugehörigkeit zu den Bewohnern des Wasserreichs, das langsame, verzögerte Auftauchen und, am schönsten: das stolze Herausstrecken des Kopfes aus dem Wasser, wie nach einer zweiten Geburt! ...
Kaum eine Stunde später ist mir auf der Toilette der Gastwirtschaft schlecht geworden. Ich saß draußen an
meinem Gartentisch und notierte meine Tages-Lektion, als ich eine plötzliche Schwäche und einen heftigen Schwindel spürte. Ich sagte niemandem etwas davon, aber als ich mich auf der Toilette befand, wusste ich, dass die Angst mich nun doch noch einmal gepackt hatte. Verdammt! Ich hatte sie längst besiegt, und nun rächte sie sich und verfolgte mich noch ein letztes Mal!
Wahrhaftig, ja, es stimmt, es war ein letztes Mal, denn seit diesem Abend habe ich nie wieder Angst gehabt, vor nichts und vor niemandem mehr. Später hat mir diese Angstfreiheit sehr geholfen, denn sie war wohl auch mit ein Grund dafür, dass meine Verlegenheit oder Scheu gegenüber anderen Menschen verschwand. So konnte ich zum Beispiel bereits wenige Monate nach diesem Ereignis die anderen Klavierspieler nicht verstehen, die mir vor einem gemeinsamen Klaviervorspiel in der Schule zuflüsterten, dass sie große Angst hätten oder sogar vor Angst vergingen. Nein, ich verging nicht vor Angst, und es war sogar noch viel besser: In angespannten Situationen, in denen es auf viel ankam, war ich besonders ruhig und konzentriert, als begleiteten mich die Schreie meiner Mutter gerade in solchen Augenblicken.
Ändern mag so etwas seltsam vorkommen, aber ich hatte wahrhaftig in bestimmten, wichtigen Augenblicken meines Lebens das sonderbare Gefühl, von diesen Schreien meiner Mutter mit gesteuert zu werden. Diese Schreie, die ich nie aus dem Ohr bekommen habe und die mich seither begleiten, hatten auf mich nämlich nicht die erhoffte abschreckende Wirkung, sondern sie immunisierten mich vielmehr gegen die Angst, ja sie sorgten dafür, dass ich mich von der Außenwelt vollkommen zurückzog und mich ganz auf mich selbst konzentrierte.
Man muss es sich in etwa so vorstellen, dass mir in genau dem Moment, in dem meine Mutter zu schreien begann, eine Art Panzer wuchs. Dieser Panzer wehrte alle Attacken und Zugriffe auf meinen Körper ab und sorgte dafür, dass dieser Körper nur noch seinen eigenen, von außen nicht mehr zu beeinflussenden Regungen folgte. Vielleicht kennen Hochleistungssportler, die ja ebenfalls in bestimmten Momenten aufs Äußerste konzentriert sein und sich von niemandem ablenken lassen dürfen, dieses Gefühl, ich weiß es nicht, ich weiß aber, dass mich später vor vielen Auftritten am Klavier und später am Flügel eine Art Engelsruhe befiel, die mir jede Art von Aufregung oder sogar Angst ersparte.
Vielleicht waren diese Ruhe und diese Trance, die ich auch nach meinem Sprung noch eine Zeit lang empfand, letztlich der Grund dafür, dass ich auf die ersten Worte meiner Mutter überhaupt nicht reagierte. Ich ging ans Ufer und trocknete mich ab, und ich gesellte mich nicht zu den vielen anderen Menschen, die von den Schreien meiner Mutter angelockt worden waren und sich nun um sie kümmerten.
Nachdem ich aufgetaucht war, war sie erst langsam wieder still geworden. Sie war vor Aufregung und Erschöpfung auf den Boden gesunken und hatte kurze Zeit später wegen ihres heftigen Zitterns von den anderen eine Decke umgelegt bekommen. Man hatte nach meinem Vater geschickt, der noch auf dem Feld gearbeitet hatte, schon bald aber zur Stelle gewesen war. Mutter war in die Gastwirtschaft gebracht und ins Bett gelegt worden, man hatte einen Arzt kommen lassen. Angeblich war sie bald eingeschlafen und hatte sehr fest geschlafen, so dass der Arzt unverrichteter Dinge wieder hatte abziehen müssen. Vater hatte die ganze Zeit an ihrem Bett verbracht, und als sie tief in der Nacht wieder aufgewacht war und eine Zeit lang mit ihm gesprochen hatte, kam er zu mir in mein Zimmer, setzte sich an mein Bett und sagte: Johannes, es ist alles in Ordnung! Deine liebe Mutter spricht wieder mit uns ...
Die Walzer von Chopin liefen die ganze Zeit, als ich mich an all diese Szenen erinnerte. Ich räumte meine Küche ein wenig auf und ordnete die Lebensmittel, die ich gekauft hatte, immer wieder neu auf dem großen Küchentisch. Als ich sie in Ruhe überschaute, konnte ich erkennen, dass sie wohl für eine ganze Woche gereicht hätten. Warum hatte ich bloß so viel eingekauft und warum hatte ich mich nicht an die Idee eines schlichten Abendessens gehalten?
Das große Stillleben, das ich schließlich komponiert hatte, war derart schön, dass ich es Antonia und Marietta nicht vorenthalten wollte. Ich legte eine CD mit Stücken von Domenico Scarlatti auf und klingelte bei meiner Nachbarin, obwohl es noch früh am Nachmittag war. Antonia Caterino erschien in einem strengen, seidenen Morgenmantel in der Tür und vermutete, dass ich mich in der Zeit vertan habe. Ich sagte ihr, dass sie sich zusammen mit Marietta unbedingt all die schönen Sachen anschauen müsse, die ich am Vormittag gekauft habe. Sie lachte, sie verstand nicht genau, was ich meinte, vielleicht war ich auch etwas zu durcheinander, um mich klar auszudrücken. Jedenfalls sagte Sie: Kommen Sie doch erst einmal herein!, und dann betrat ich die Wohnung der Familie Caterino und hörte sofort, dass in einem der hinteren Zimmer der erste Satz des Italienischen Konzerts von Johann Sebastian Bach gespielt wurde.
Die Wohnung war viel größer und eleganter als meine, sie hatte vier Zimmer, von denen aus man auf den weiten Platz vor dem Wohnhaus schauen konnte, und dazu noch mehrere kleinere, die nach hinten, zum Innenhof hin, gingen. Antonia führte mich durch die vorderen, mit viel Geschmack möblierten, während sie die hinteren nur kurz erwähnte, als habe sich im einen Teil der Wohnung der schönere, im anderen aber der finstere Teil des Lebens abgespielt. Seltsamerweise brachte ich den hinteren Teil denn auch sofort mit ihrem inzwischen abwesenden Mann in Verbindung, ja die Vorstellung, dass dieser Mann in genau diesen Zimmern zum Innenhof hin gehaust habe, setzte sich wie eine dumme Fixierung sofort fest.
Im Grunde interessierte mich das alles aber nicht besonders, mich interessierte vielmehr das Klavierspiel, das ich die ganze Zeit hörte, nichts reizte mich jetzt so sehr, wie in die Nähe eines halbwegs gestimmten Klaviers zu geraten, mein Gott, mein Verhalten hatte sogar beinahe etwas von dem eines Süchtigen. Antonia bemerkte davon nichts, sie konnte ja nicht ahnen, was ich alles mit dem Klavierspiel verband, ich hörte sie fragen, ob wir nicht bereits einen Aperitif trinken wollten, und ich nickte sofort und sagte, dass ich gern einen Campari trinken und dabei am liebsten Marietta etwas beim Üben zuhören würde.
Antonia freute mein Vorschlag, sie führte mich auch sofort in das Zimmer ihrer Tochter, nehmen Sie doch Platz, flüsterte sie leise, und dann sah ich, dass ich direkt neben dem Klavier auf einem Sessel Platz nehmen sollte, auf dem anscheinend gerade noch Antonia selbst gesessen hatte, um das Spiel ihrer Tochter Marietta zu verfolgen und vielleicht hier und da zu korrigieren.
Ich setzte mich auf den Sessel und bemerkte sofort, dass mir in diesem Moment seltsam heiß wurde. In meinem ganzen Leben hatte ich keine Klavierschüler gehabt und niemanden im Klavierspiel unterrichtet, wohl aber war ich selbst ein Leben lang von den verschiedensten Klavierlehrerinnen und Klavierlehrern und am Ende sogar von einigen großen Pianisten unterrichtet worden. Ich kannte mich also mit diesem Sesselplatz aus, ich wuss-te, wie und wann ein guter Lehrer von diesem Sessel aus am besten in die Übungen seiner Schüler eingreift, ich wusste es ganz genau, und es reizte mich schon in dem Augenblick, in dem ich Platz nahm, genau das zu tun.
Ich schlug jedoch ein Bein übers andere und lehnte mich zurück, Marietta spielte immerhin so konzentriert, dass sie auf mein Erscheinen nichts gab, sie spielte weiter und weiter, aber ich sah auf den ersten Blick, dass sie an vielen Stellen einen völlig falschen, ja geradezu abwegigen Fingersatz benutzte. Wer hatte ihr diesen Fingersatz beigebracht, wer war der Idiot? Ein Kenner oder ein halbwegs erfahrener Klavierspieler konnte es nicht sein, dafür war alles zu chaotisch und unüberlegt.
Es reizte mich immer mehr, sofort einzugreifen, aber ich riss mich zusammen, zunächst wollte ich abwarten, bis der Campari serviert wurde. Ich versuchte, nicht auf die Tasten zu schauen, und blickte mich stattdessen etwas im Zimmer um, das in der Tat noch ein richtiges Kinderzimmer war, mit einigen Bildern einer mir unbekannten britischen Pop-Band an der Wand. Wie brachte so jemand wie Marietta das zusammen, die Stücke dieser Band, die sie doch wahrscheinlich sehr mochte, und den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Johann Sebastian Bach?
Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie gegen ihren Willen übte, nein, es sah nicht so aus, sie hatte anscheinend durchaus Freude daran, diesen Satz zu spielen, und sie spielte ja auch gar nicht schlecht, wenn auch noch viel zu gehemmt.
Als Antonia mit zwei Gläsern Campari und einem Glas Orangensaft erschien, hörte Marietta sofort auf zu spielen und drehte sich nach mir um. Sie war nicht erstaunt, mich zu sehen, nein, sie lächelte, es kam mir beinahe so vor, als freute sie sich über mein Erscheinen. Ich nickte, ich klatschte betont theatralisch, Marietta lachte jetzt sogar so, als wäre der freundliche, gerade aus dem Nichts erschienene Herr sehr willkommen.
Wir stießen mit unseren Gläsern an, wir nahmen einen Schluck, dann aber erklärte Antonia ihrer Tochter, dass auch ich einmal Klavier gespielt habe, das stimmt doch?, das habe ich doch richtig in Erinnerung?, fragte sie. Sie hätte so etwas nicht fragen, sie hätte meine sowieso bereits bestehende starke Anziehung durch das einen Meter vor mir stehende Klavier nicht verstärken sollen, ich antwortete jedenfalls nicht, sondern nickte nur und fragte Marietta dann sofort, wer für den Fingersatz verantwortlich sei, den sie eben benutzt habe.
Marietta begriff nicht, was?, was wollte ich wissen?, es ging um die Fingersätze?, waren Fingersätze denn wichtig? Sie fragte so naiv und so drollig, dass Antonia lachen musste, dann aber lachten die beiden zusammen, als hätten sie sich nie einen Gedanken über Fingersätze gemacht und als hätte ich gerade eine besonders unsinnige Frage gestellt.
Das Lachen der beiden reizte mich ein wenig und forderte mich gleichzeitig heraus, dochdoch, sagte ich, Fingersätze sind sehr wichtig, es gibt Menschen auf der Welt, die machen sich überhaupt nur darüber Gedanken! Marietta staunte: Wirklich? Und ich machte gerade keinen Spaß, sondern es gab wirklich Menschen, die sich nur über Fingersätze Gedanken machten? Aber nein, das war ja unmöglich, aber nein, ich machte ja nur einen Scherz!
Ich saß nicht kaum einen Meter vor einem halbwegs gestimmten Klavier, um mir nach beinahe zwei Jahrzehnten eines pianistischen Studiums sagen zu lassen, dass ich bloß einen Scherz machte, wenn ich über Fingersätze sprach. Marietta, darf ich Dir mal etwas zeigen?, fragte ich leise und war regelrecht erleichtert, als sie sofort ihren Platz räumte. Wir tauschten die Plätze, ich saß jetzt an einem römischen, halbwegs gestimmten Klavier, es war zu seltsam, wie war ich eigentlich hierher geraten?, ganz offensichtlich war ich doch einzig und allein diesen Klavierklängen gefolgt und hatte mir auf raffinierte Art Zugang zu dieser Wohnung und ihren Bewohnern verschafft, die mich im Augenblick vor allem deshalb interessierten, weil sie ein spielbares Klavier besaßen.
Schau mal., Marietta, hier diese Stelle ..., sagte ich, an dieser Stelle bleibst Du immer wieder hängen, weil Du einen falschen Fingersatz verwendest. Ich spielte die Passage betont langsam, Note für Note, damit man genau beobachten konnte, welche Finger ich benutzte. Als ich damit durch war, spielte ich sie noch zwei-, dreimal, und jedes Mal spielte ich ein wenig schneller. Und schau mal, Marietta, genau dieselben Probleme hast Du wegen eines falschen Fingersatzes an dieser Stelle ...
Ich geriet sofort in Fahrt und ging eine Stelle nach der ändern an, viel hätte nicht gefehlt, und ich hätte meine Korrekturen sofort in die Noten eingetragen, in die eine unbeholfene Hand keine Fingersätze, wohl aber einige Angaben über die jeweils notwendige Lautstärke eingetragen hatte. Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf, anscheinend hatte Marietta wirklich einen miserablen Lehrer, der sich statt um die durchaus wichtigen Fingersätze um Angaben über die Lautstärke kümmerte, die jeder einigermaßen musikalische Spieler gar nicht benötigte, weil sie sich von selbst verstanden.
Vielleicht hatten Marietta und Antonia erwartet, dass ich mir nur zwei oder drei kurze Passagen vornehmen wollte, da hatten sie sich verrechnet, denn natürlich genoss ich es sehr, endlich wieder einmal Klaviertasten zu berühren. Als ich gar nicht mehr aufhörte, stand Marietta auf und verließ das Zimmer, ich unterbrach mein Spiel und fragte Antonia, ob ich das Kind etwa langweile, na ja, antwortete sie, vielleicht wäre es besser gewesen, Marietta zunächst einmal für ihr Spiel zu loben.
Ich nahm einen Schluck Campari und antwortete: Mein Gott, Sie haben völlig recht, ich bin ein Idiot, ich hätte Marietta zunächst loben müssen, anstatt gleich über die falschen Fingersätze zu sprechen. Aber einmal unter uns: Die Fingersätze sind wirklich das Letzte, und die Angaben für die Lautstärken hier in den Noten sind geradezu kindisch. Ich an Ihrer Stelle würde dem Kind einen besseren Klavierlehrer besorgen.
Antonia lächelte wieder, aber ich bemerkte, dass sie leicht verkrampft lächelte. Und dann sagte sie: Ich bin ihr Klavierlehrer, ich bin es selbst!
Ich drehte mich auf dem runden Klavierhocker ganz zu ihr herum und ließ meine Arme an beiden Seiten des Körpers heruntersinken. Entschuldigen Sie, Signora, ich wollte Sie nicht kränken, und ich kann zu meiner Ehrenrettung nur anführen, dass ich keineswegs ein paar Jahre Klavierunterricht erhielt, sondern ein paar Jahrzehnte, so dass ich, mit anderen Worten, ein ausgebildeter Pianist bin. Zum Teil wurde ich sogar hier in Rom ausgebildet, kaum einige Kilometer von hier, im römischen Conservatorio. Ich rede also nicht einfach daher und mokiere mich über Fingersätze oder Lautstärken-Angaben, sondern ich spreche als ein Mann vom Fach. Dennoch, Sie haben recht, ich hätte das nicht tun sollen, ich hätte feinfühliger und freundlicher vorgehen müssen, es tut mir leid.
Ich stand auf, um mich vom Klavier zu entfernen, als Antonia eine entschiedene Bewegung machte, die mich stehen bleiben ließ. Sie antwortete, dass sie natürlich keine Ahnung von alldem gehabt habe und dass sie meine Reaktion unter diesen Umständen verstehe. Jetzt, wo sie über mein Vorleben Bescheid wisse, erinnere sie sich sogar daran, dass sie einmal vermutet habe, dass ich gut Klavier spielen könne. Ich habe nämlich in ihren Augen wie ein Pianist ausgesehen, ja, genau, ich habe auf sie den Eindruck eines Pianisten gemacht.
Ich konnte mir nicht richtig ausmalen, welche Vorstellung Antonia Caterino von einem Pianisten hatte, vor vielen Jahrzehnten hatte man sich darunter doch eher ephebische Jünglinge mit einer dekadenten Liszt-Mähne und damit einen Typus vorgestellt, mit dem mein Äußeres nicht das Geringste gemein hatte. Ich war groß, kräftig und in extremen Sonnenperioden zudem noch blond - man hätte mich vielleicht auch für einen norwegischen Speerwerfer oder einen finnischen Filmregisseur halten können, wie man aber auf den Gedanken kam, in mir einen Pianisten zu vermuten, war mir völlig unklar.
Egal, ein wenig fühlte ich mich sogar geschmeichelt, anscheinend hatte Antonia sich über mich und mein Vorleben ein paar Gedanken gemacht, so etwas gefiel mir schon allein deshalb, weil sich viele Jahre meines Lebens kein Mensch irgendwelche Gedanken über mich und mein Leben gemacht hatte.
WAS meinen Sie, wie kann ich meinen Fehler wiedergutmachen?, fragte ich Antonia. Sie legte einen Finger auf ihren Mund, stand auf, verließ das Zimmer und kam nach kaum einer Minute wieder mit ihrer Tochter zurück. Sie sagte, dass sie Marietta erzählt habe, dass ich einmal Pianist gewesen sei, und dann sagte sie weiter, dass mir Mariettas Spiel gut gefallen habe. Aber ja, setzte ich sofort nach, es hat mir sehr gefallen, wahrhaftig, Du hast mir damit eine große Freude gemacht, Marietta!
Anders als ich befürchtet hatte, wirkte Marietta nicht beleidigt oder sogar gekränkt, sondern erleichtert, ja sogar zufrieden. Sehr gut, sie war also psychisch durchaus stabil und hatte auch noch nicht die üblichen Marotten pubertierender Mädchen, die es schaffen, jede kleine und noch so unschuldige Geste eines Gegenübers als eine Beleidigung auszulegen.
Danke, sagte Marietta also, und dann bat sie mich, ihr und ihrer Mutter nun den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Johann Sebastian Bach am Stück vorzuspielen. Am Stück?! Um Himmels willen! Das hatte ich nun wiederum gar nicht gewollt, ich hatte das Klavier zwar berühren, aber keineswegs am Stück auf ihm spielen wollen, schließlich war ich auf so etwas nicht vorbereitet, nein, wirklich nicht.
Ich spürte aber sofort, dass es auch nicht gut angekommen wäre, sich jetzt noch lange zu zieren, ich hatte nun einmal von meinem früheren Pianisten-Dasein erzählt, da konnte ich jetzt nicht so tun, als koste es mich endlose Überwindung, ein Stück von Johann Sebastian Bach zu spielen. Ich habe das Stück verdammt lange nicht mehr gespielt, sagte ich und wusste noch in demselben Moment, dass all meine Entschuldigungen und Ausreden nicht halfen. Ich sollte spielen - und zwar sofort!
Nun gut, was stellte ich mich denn so an, es handelte sich schließlich nicht um ein Konzert, sondern um eine private Vorstellung, da durften mir durchaus ein paar Fehler unterlaufen, darauf kam es jetzt gar nicht an, es kam vielmehr darauf an, Marietta und ihrer Mutter eine Freude zu machen. Als Einstimmung auf unser Abendessen! Oder vielleicht sogar als Beginn einer Freundschaft!
Ich setzte mich, ich drehte den Klavierhocker etwas höher, ich legte beide Hände, so wie ich es gewohnt war, kurz auf die Tasten, ohne sie anzuschlagen. Dann konzentrierte ich mich und begann zu spielen.
Es hörte sich gar nicht so schlecht an, ich spielte nur etwas zu schnell. Durch irgendwelche trüben Erinnerungen hatte ich eine sehr rasche Version des Stückes im Ohr, ja, wahrhaftig, ich spielte es viel rascher als etwa Alfred Cortot, vor allem aber spielte ich es lauter, ich spielte es wirklich verdammt laut. Aber ich spielte nicht schlecht, nein, keineswegs, dafür, dass ich dieses Stück seit Jahrzehnten nicht gespielt hatte, spielte ich es sogar ganz ausgezeichnet! Was für eine Freude es machte, diese Finger wieder genau dafür einzusetzen, wofür sie eigentlich seit meiner Kindheit bestimmt waren! Nicht für das Schreiben mit einem Stift, nicht für das Tippen auf einer Computer-Tastatur waren sie nämlich bestimmt, nein, Gott hatte mir diese kräftigen, schönen Finger geschenkt, damit ich mit ihnen Klavier spielte!
Meine Finger ... - später hat mir Antonia auf meine Nachfrage hin einmal erklärt, dass sie mich nach einem angeblich zufälligen Blick auf meine Finger für einen Pianisten gehalten habe. Die Finger hatten mich also dazu gemacht, nicht mein sonstiges Äußeres! Ich wäre nie darauf gekommen, dass meine Finger das entscheidende Kriterium für diese Vermutung gewesen waren, so ein spezifisches Merkmal fiel wohl vor allem einer genau beobachtenden Frau und bestimmt nicht häufig einem Mann auf.
Jetzt, während meines Spiels, aber verstand ich nicht mehr, wie ich nicht selbst darauf gekommen war. Diese Finger waren doch wirklich auffällig, sie waren auch in früheren Jahrzehnten manchen Menschen sofort aufgefallen, zum Beispiel hier in Rom einer jungen Frau hinter der Theke einer kleinen Bar im Norden Roms, die mich bei meinem zweiten Besuch dieser Bar gefragt hatte, ob ich etwa ein Pianist sei. Diese Frage hatte damals ..., nein, ich erzähle diese Geschichte hier jetzt nicht weiter, nein, auf keinen Fall, ich erzähle vielmehr jetzt, was in der Wohnung von Antonia und Marietta Caterino geschah, als ich den ersten Satz von Bachs Italienischem Konzert spielte ...
Nach drei oder vier Minuten bemerkte ich nämlich plötzlich, dass Antonia ans Fenster ging und es öffnete. Sie strich die weißen Gardinen beiseite und dann ging sie auf Zehenspitzen anscheinend ins Nebenzimmer, um
auch dort die Fenster zu öffnen. Da wir uns im ersten Stock des Wohnhauses befanden, musste mein Spiel nun auch draußen, auf dem weiten Platz, zu hören sein, sie hätte mich fragen müssen, ob mir das recht ist, dachte ich und überlegte, ob ich mein Spiel abbrechen sollte, eine solche Aktion kam mir aber zu eigensinnig und divenhaft vor, nein, ich war nie ein zickiger Jungpianist im Stile einiger zickiger Altmeister gewesen, das zickige Klavierspiel Arturo Benedetti-Michelangelis zum Beispiel hatte mir nie etwas bedeutet, obwohl es damals, als ich am römischen Conservatorio studiert hatte, als das Nonplusultra des italienischen Virtuosentums gegolten hatte.
Also weiter und, wie immer, nicht auf die Umgebung geachtet! Und so spielte ich den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Johann Sebastian Bach zu Ende und empfand dieses Spiel sogar als ein großes, wiedergefundenes Glück, warum hatte ich mich bloß so lange dagegen gesperrt, wieder einmal Klavier zu spielen, warum hatte ich mich so lange von der schwersten Krise meines Lebens, die unter anderem dazu geführt hatte, das s ich das Klavierspiel abgebrochen hatte, entmutigen lassen?
Auch von dieser Krise erzähle ich an dieser Stelle meiner Lebenserzählung noch nichts, denn diese Passage meiner Erzählung hier ist ja eine rundum glückliche, ich spielte wieder Klavier und indem ich spielte, lockte ich die Bilder des kleinen Knaben wieder an, der damals ..., damals zum Schluss des langen Landaufenthalts auf dem Klavier in der Gaststube der großväterlichen Gastwirtschaft einmal Bachs Italienisches Konzert gespielt hatte.
Das Kind sitzt an einem halbwegs gestimmten Instrument, das Kind beherrscht dieses Stück, seit Kurzem beherrscht es auch das Sprechen einigermaßen, vor allem aber hat es jetzt eine Mutter, die wieder spricht, mühelos, ja sogar so gewandt, dass das Kind sie überaus gern sprechen und vorlesen hört, keine Stimme hört das Kind lieber als die Stimme seiner Mutter ..., und während in der Gaststube die halbe Belegschaft der Wirtschaft und beinahe all ihre Bewohner versammelt sind, gehen in der Küche drei junge Köchinnen der Vorbereitung des abendlichen Abschiedsessens nach ..., auf dem langen Küchentisch liegen die großen, glänzenden Fleischstücke und die frisch gefangenen Forellen, und daneben liegen Berge von Pfifferlingen, Steinpilzen, Hallimasch und Morcheln, die Vater und ich im nahen Wäldchen gefunden haben ...
Ich spiele weiter und weiter, und kurz vor dem Ende gehen die alten Bilder vor lauter Vorfreude über in die Bilder meines eigenen Tisches in der Wohnung gleich nebenan, auch dort ist ja der Tisch festlich und üppig gedeckt, es gibt zwar keine Pfifferlinge und keine Morcheln, wohl aber weiße Trüffeln. Die letzten Töne, der Schlussakkord! ... - und Antonia und Marietta beginnen zu klatschen, es ist ein Klatschen, das sofort überspringt, hinunter auf den weiten Platz vor dem Wohnhaus, auf dem sich anscheinend Gruppen von Zuhörern versammelt haben, um das Fest dieses glücklichen Moments mit uns zu begehen ...

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regrem патриот23.04.14 17:49
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ALS WIR zu dritt nach Köln zurückkehrten, war alles anders als zuvor. Wir waren nicht mehr eine in vielen Hinsichten hilflose und beeinträchtigte Familie, sondern ein inzwischen stark gewordenes Trio, dessen Mitglieder jetzt ihre jeweils eigenen, aber durchaus auch gemeinsame Ziele verfolgten. Jedes dieser Mitglieder konnte sich nun alleine behaupten, jedes hatte seine besonderen Aufgaben und Pflichten, und doch spielte dieses Trio inzwischen auch zusammen und bemühte sich, die neu erworbene Sicherheit zu festigen und auszubauen.
So arbeitete meine Mutter nur wenige Wochen nach unserer Rückkehr wieder in einer Bibliothek. Als ausgebildete Bibliothekarin und langjährige Leiterin einer Bücherei auf dem Land fand sie sich schnell zurecht, sie liebte ihre Arbeit sehr, und wir alle hatten von dieser Tätigkeit schon deshalb viel, weil sie alle paar Tage einige neue Bücher mitbrachte, die sie vor deren Auszeichnung mit einer Signatur und vor der Einreihung in das Ausleihkontingent unbedingt lesen wollte.
Auch in den vergangenen Jahren hatte sie sich durch ihre täglichen Lektüren auf dem neusten Stand gehalten, sie hatte sich durch ihre Krankheit nicht abhängen
lassen, nein, im Gegenteil, die Krankheit hatte letztlich sogar dazu beigetragen, dass sie noch viel mehr gelesen hatte als in früheren Jahren.
Wegen dieser ausschweifenden Lektüren wurde sie in der Bibliothek eine geschätzte Ansprechpartnerin für viele Leserinnen und Leser, die ein ganz bestimmtes Buch oder aber ein Buch suchten, das ihrem persönlichen Lesegeschmack entsprach. Meine Mutter musste die Kunden der Bücherei also gut kennen, sie musste um ihre Lesevorlieben wissen, ja sie musste wohl auch über einige Details ihres Privatlebens informiert sein. Das aber gelang ihr, ohne dass ihre Gesprächspartner es merkten, denn meine Mutter konnte sich mit anderen Menschen auf eine so leichte, lockere und angenehme Weise unterhalten, wie ich es in meinem Leben bei kaum einem anderen Menschen erlebt habe.
Man muss sich nun aber vorstellen, mit welchen Kontrasten ich nach unserer Rückkehr nach Köln zu leben hatte. Hatte ich zuvor jahrelang nicht nur darunter gelitten, dass meine Mutter kein einziges Wort sprach, sondern vielleicht noch mehr darunter, dass sie sich beinahe allen Kontakten mit anderen Menschen entzogen hatte, so erlebte ich jetzt eine Mutter, die nicht nur sprach, sondern sich beinahe unentwegt unterhielt und von einer so verblüffenden Freundlichkeit war, dass sich manche Menschen sogar danach drängten, mit ihr zu sprechen.
Ich höre Sie so gerne reden ... — so etwas bekam nun ausgerechnet meine zuvor stumme Mutter zu hören, die auf solches Lob gar nicht reagierte, sondern einfach in ihrem melodiösen, warmen Tonfall weitersprach, dessen besondere Tonlage ich erst viel später als eine Folge ihrer sehr guten französischen Sprachkenntnisse begriff. Die französische Sprache und die französische Musik — meine Mutter liebte das beides seit ihrer Jugend, sie hatte damals eine gewisse Zeit ihres Lebens im Elsass verbracht und dort ihr Französisch verbessert.
Dabei hatte sie aber anscheinend nicht nur eine bestimmte Musikalität der Aussprache adaptiert und sich einen ungewöhnlich weichen und tiefen Sprachton angewöhnt, sondern auch eine Vorliebe für den, wie sie es nannte, schönen Satz entwickelt.
Der Satz, den sie für einen schönen Satz hielt, war gar kein besonderer Satz, sondern ganz einfach ein vollständiger Satz in einem abgerundeten Schriftdeutsch, dessen Formulierungen dazu führten, dass man Mutters Sprechen fast immer für ein Erzählen und weniger für ein Behaupten hielt. So gelang es ihr nur mühsam, einen knappen und auf den Punkt und die Pointe hin zu sprechenden Dialog zu führen, sie brauchte vielmehr Zeit, viel Zeit, sie holte aus, erinnerte sich, machte Umwege, streute kleine Exkurse ein, und das alles in einer Sprache, die sich keiner knappen Wendungen, sondern abgerundeter Formulierungen bediente.
Erst viel später habe ich für ihre Sprechweise eine genauere Erklärung und auch eine Bezeichnung gefunden. Während ihres Französisch-Unterrichts im Elsass hatte meine Mutter nämlich an rhetorischen Übungen teilgenommen, wie sie in Frankreich für junge Französinnen selbstverständlich waren. Diese Übungen umfassten nicht nur Übungen im korrekten und eleganten Ausdruck, sondern griffen auch auf ein Standard-Repertoire bestimmter guter Formulierungen und sprachlicher Preziosa zurück. Wissbegierig wie sie war, hatte meine Mutter all diese Formulierungen und Wendungen aufgeschnappt und keine Ruhe gegeben, bis sie ihren französischen Mitschülerinnen in der Kenntnis und sogar im Gebrauch derartiger rhetorischer Formeln ebenbürtig war.
So war sie bereits in ihren jungen Jahren eine Rhetoriken» geworden, die Freude daran hatte, sich gewandt und lebendig auszudrücken. Und ausgerechnet diese Rhetorikerin hatte nach dem Verlust von vier Söhnen die Sprache verloren!
Ich aber erlebte nach all den damit verbundenen, stummen Jahren nun das genaue Gegenteil davon: Jetzt nämlich lebte ich mit einer Mutter zusammen, die beinahe ununterbrochen sprach, und das auf eine Art und Weise, die mich von Anfang an in einen gewissen Bann zog. Immer wieder bat ich meine Mutter, mir etwas vorzulesen oder mir etwas zu erzählen.
Auch mein Vater kam von unserem Aufenthalt auf dem Land verändert zurück. War er vorher der treu sorgende, pflichtbewusste und hilfsbereite Familienvater gewesen, der sich um all die Details kümmerte, die Mutter und Sohn nicht allein bewältigen konnten, so färbte Mutters neu erstandene sprachliche Eleganz jetzt auch auf ihn ab. Diese Eleganz machte ihm nicht nur gute Laune, sie ließ ihn insgesamt noch um einige Grade lebendiger und lebenslustiger werden.
Hatten wir uns früher in einem relativ kleinen Terrain der Stadt bewegt, so konnten unsere Ausflüge und Wochenendfahrten nun gar nicht weit genug gehen: Auf nach Holland! Auf an den Mittelrhein! Auf in den Rheingau und nach Franken!
Während solcher Reisen stürmte Vater mit einer geradezu gnadenlosen Lebenslust voran, alles wollte er in wenigen Tagen erkunden und genießen, es durfte einfach nichts mehr geben, was uns abschreckte oder von einem Vergnügen abhielt, nein, wir sollten alles kennenlernen, alles, aber auch wirklich alles!
Anfänglich machte meine Mutter bei solchen Reisen noch mit, aber dieses unruhige, nimmersatte und draufgängerische Unterwegssein war im Grunde nicht ihr Fall. Sie wollte sich länger an bestimmten Orten aufhalten können, sie wollte lesen, und zwar täglich eine bestimmte Ration, mit Vater war das aber nicht gut möglich, so dass sie sich bestimmten Unternehmungen oft entzog und Vater und Sohn am frühen Morgen allein aufbrechen ließ.
Meinem Vater war das nicht recht, er verstand nicht, wie meine Mutter bei sehr schönem Wetter das Sitzen und Lesen in einem Gartenlokal am Rhein einer mehrstündigen Schifffahrt auf demselben Fluss vorziehen konnte. Da er sich jedoch daran gewöhnt hatte, meine Mutter nicht zu kritisieren, und da er überhaupt ein Mensch war, der anderen nichts vorschreiben wollte, äußerte er sich zu ihrem Verhalten lieber nicht.
Vielleicht hatten wir beide, Vater und Sohn, während unseres Landaufenthalts auch bestimmte, andere Menschen ausschließende Eigenheiten des Zusammenlebens entwickelt, heute erscheint mir das sehr wahrscheinlich, damals aber bemerkte ich das natürlich nicht und dachte deshalb auch nicht weiter darüber nach.
Nicht zu übersehen war jedenfalls, dass wir beide während der Reisen eine geradezu ideale Kombination abgaben. Durch unser wochenlanges Naturstudium hatten wir uns daran gewöhnt, den Dingen auf den Grund zu gehen und die Umgebung weniger als einen zufälligen, denn als einen gewachsenen Raum zu betrachten. Um sich diesen Raum zu erklären, machte mein Vater die seltsamsten Anstalten: Er verwickelte die Menschen auf der Straße in ein Gespräch, er besuchte Wirtschaften und Kneipen, er fuhr mit mir den halben Tag in Straßenbahnen und Bussen — und das alles nur, um auf möglichst direkte Weise Informationen zu sammeln, nebenbei noch unterhalten zu werden und das, was er Land und Leute nannte, schließlich auch noch in vollen Zügen zu genießen.
Der körperliche, sinnliche Genuss — er spielte bei Vaters Reiseplänen eine nicht zu unterschätzende Rolle. All die Kenntnisse, die wir uns tagsüber aneigneten, kulminierten nämlich letztlich in einer Ausübung der von ihm so bezeichneten Sinnenfreuden (wie etwa schwimmen, spazieren gehen, trinken und essen), so dass man Vater kein größeres Vergnügen machen konnte, als abends in einer ländlichen Wirtschaft zu sitzen und mit den Einheimischen über die vielfältigen Aspekte ihres Landlebens zu reden.
Meine Mutter langweilte das nicht nur, nein, meine Mutter fand an diesen sich bis tief in die Nacht hinziehenden Gesprächen überhaupt kein Gefallen. Nachdem sie mit uns zu Abend gegessen hatte, verließ sie uns und legte sich ins Bett, der lange Abend war die Zeit der schönen Lektüren, während mein Vater dieselbe Zeit für seine sehr eigenen, letztlich aber immer auf Information zielenden Formen der Konversation nutzte.
Ich selbst aber konnte mich oft nicht entscheiden. Manchmal, wenn mich eine bestimmte Lektüre sehr lockte, folgte ich Mutter auf ihr Zimmer und ließ mir dann etwas vorlesen, manchmal blieb ich jedoch auch bei Vater und seinen meist männlichen Trinkkollegen und hörte zu, wie viel ein bestimmter Weinberg während eines Jahres an Einkünften brachte oder wie ein bestimmter Landrat es geschafft hatte, den gesamten Landkreis für seine Motorsägenfabrik einzuspannen.
Mit der Zeit aber kippte die Waage dann doch nach einer Seite, und diese Seite war die meines Vaters. Mit meiner Mutter war ich in Köln lange und häufig genug zusammen, auf Reisen dagegen sehnte ich mich nach Abwechslung und nach Gesprächen mit anderen Menschen, außerdem hatte ich ein großes Vergnügen an jener temperamentvollen und offenen Lebensweise, die mein Vater so mühelos kultivierte.
Daher reisten wir nach einiger Zeit nur noch zu zweit. Wir reisten zu den Salzburger Festspielen, wo ich zum ersten Mal einen großen Solo-Abend eines weltweit gefeierten jungen kanadischen Pianisten miterlebte, wir reisten an den Bodensee und nach Berlin, Wien, Prag und Paris, wir fuhren auf Fahrrädern die Mosel, den Main und den Rhein entlang, wir bestiegen ein Frachtschiff, um von Rotterdam aus halb Europa zu umrunden und erst in Istanbul wieder an Land zu gehen ...
All diese Reisen von manchmal nur wenigen Tagen, manchmal aber auch mehreren Wochen fanden zwischen meinem achten und vierzehnten Lebensjahr statt, jedes Jahr planten Vater und ich unsere Aufbrüche genau, und jedes Jahr blieb meine Mutter in Köln oder auf dem Land zurück, um französische Chansons zu hören, Bücher zu lesen, sich mit ihren Geschwistern, Freundinnen und Verwandten zu unterhalten und das Leben einer Frau zu führen, die einen unverwechselbaren Lebensstil pflegte, der zwar von vielen anderen Menschen als »schön« empfunden und daher manchmal sogar bewundert wurde, auf langen Reisen jedoch oft hinderlich wirkte.
Und mir?! Wie erging es mir nach meiner Rückkehr vom Land? Ich besuchte weiter dieselbe Volksschule wie bisher, kam jedoch in eine andere Klasse und erhielt durch diesen Klassenwechsel nun eine Lehrerin. Es handelte sich um eine kleine, schwarzhaarige und noch sehr junge Frau, die sich als ein Glücksfall herausstellte, weil sie einen ganz anderen Unterrichtsstil hatte als die jähzornige Lehrer-Figur, die mich zuvor unterrichtet hatte.
So verging kein Vormittag, ohne dass sie die große Klasse in kleinere Gruppen eingeteilt und diesen Gruppen bestimmte Lern- oder Spielaufgaben gestellt hätte. Gerade dieses Arbeiten in kleinen Gruppen kam mir sehr zugute, da mir zum einen von anderen Schülern, zum anderen aber von der Lehrerin selbst in einem kleinen Kreis besser geholfen werden konnte, wenn ich etwas nicht verstand.
Überhaupt war die Atmosphäre in meiner neuen Klasse viel angenehmer als in der alten. Meine Mitschüler akzeptierten sofort, dass ich noch nicht so flüssig sprach wie sie, ja sie gaben sich sogar Mühe, mir mit bestimmten Worten beizuspringen, wenn mir die passenden nicht sofort einfielen. Auch das ewige Rempeln, Schlagen, Verhöhnen und Verspotten kam nicht mehr vor, vielleicht auch deshalb, weil ich nun bei allen sportlichen Veranstaltungen mitmachte und in einigen Wettbewerben wie Laufen, Springen und Schwimmen sogar zu den besten in der Klasse gehörte.
Seltsamerweise kam ich mit meinen früheren Mitschülern kaum noch in Kontakt, ja ich vermutete sogar manchmal, dass sie gar nicht begriffen, dass ich derselbe Mensch war wie jener blasse und nur in seiner eigenen Welt lebende Schüler, der die Schule vor einiger Zeit verlassen hatte. Über den an die Schule Zurückgekehrten hieß es dagegen, dass er vom Land käme, diese Formulierung erweckte den Eindruck, ich sei mit meinen Eltern vom Land nach Köln gezogen, vielleicht dachten viele also, sie hätten einen ganz anderen Menschen vor sich, niemand sprach mich jedenfalls auf die Vergangenheit an, zudem gehörte ich ja inzwischen auch in eine andere Klasse und wurde deshalb nicht weiter nach irgend-etwas gefragt.
So verlief meine Rückkehr an die Schule beinahe reibungslos, ich war in Gestalt einer größeren, kräftigeren und vor allem sprechenden Person an die Schule zurückgekehrt, und damit waren anscheinend auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, aus mir einen einigermaßen soliden Schüler zu machen.
Der einzige Mensch, der über diese Verwandlung überhaupt ein paar Worte verlor, war der Direktor, der mich einige Tage nach meiner Rückkehr zu sich bestellt hatte. Er unterhielt sich mit mir ein paar Minuten, die wir zu zweit in seinem Direktorenzimmer verbrachten, er tat freundlich und besorgt, er erkundigte sich, womit ich die Zeit auf dem Land verbracht habe, verabschiedete mich dann aber mit dem Satz: Ein begnadeter Schüler wird aus Dir nicht mehr werden, aber die Klasse könntest Du jetzt vielleicht schaffen, ich wünsche es Dir jedenfalls.
Dass er noch immer so skeptisch war, lag wohl daran, dass ich auf dem Land zwar begonnen hatte zu sprechen, mich aber natürlich noch nicht flüssig und mühelos ausdrücken konnte. Vielmehr muss man sich mein Sprechen eher wie die Wiedergabe von eingeübten, ja trainierten Sätzen vorstellen, die ich auf eine durchaus willkürliche Weise mit anderen eingeübten Sätzen verband.
Insgesamt bewegte ich mich also noch in einem starren sprachlichen Kosmos, in dem zwar durchaus so seltene und jeden Gesprächspartner überraschende Wörter wie Eisvogel, Silberpappel oder Speisemorchel vorkamen, in dem es andererseits aber zu wenige Angebote für die Variationen von Sätzen gab. So äußerte ich mich vor allem in der Form von Hauptsätzen, die fast ausschließlich einen stark behauptenden oder feststellenden Charakter hatten, konnte aber kaum Aussagen über meine Empfindungen oder Gefühle machen. Dass etwas gut, schlecht, schön, hässlich, unangenehm oder angenehm war, sagte ich also nicht, wohl aber konnte ich sagen, dass ein Pilz dick, eine Maas flink oder ein Fluss breit war.
Die Erweiterung meines mit Vaters Hilfe aufgebauten einfachen Wortschatzes ließ freilich nicht lange auf sich warten, denn die Quelle für diese Erweiterung war ja zur Hand: Es war die Bibliothek, aus der meine Mutter beinahe täglich Bücher mitbrachte, ja es war die Lesewelt meiner Mutter insgesamt, in die ich schon deshalb gleich eintauchte, weil ich seit den frühsten Kindertagen eigentlich auf nichts so neugierig gewesen war wie auf alles, was in den Büchern stand.
Ohne dass mich jemand angeleitet hätte, begann ich daher bald, auch aus den gelesenen Büchern Sätze und kürzere Abschnitte abzuschreiben. Es handelte sich um Passagen, die ich behalten oder von denen ich Teile in meinen Wortschatz einbauen wollte, oder es handelte sich um Stellen, die ich für besonders schön hielt, meist aber gar nicht bis in Letzte verstand. Gerade jene Stellen, die mir etwas dunkel oder jedenfalls anspielungsreich oder schwer verstehbar erschienen, hielt ich nämlich damals noch für besonders schön, in ihnen kamen Worte wie Analyse, Stigma oder Volumen vor, die einen magischen Klang hatten und hinter denen sich nach meinen Vermutungen lauter Geheimnisse verbargen.
Mein tägliches Notieren von neuen und seltsamen Worten aus meiner Umgebung machte zusammen mit dem Abschreiben von merkwürdigen oder gar schönen Stellen aus den Büchern ein unentwegt schreibendes Kind aus mir, das freilich keinen einzigen Satz aufschrieb, den es sich selbst ausgedacht hatte. Ich schrieb also ab, ich exzerpierte und ich kombinierte meine jeden Tag wachsenden Wort- und Satz-Sammlungen unaufhörlich, ohne je irgendeinen persönlichen Eindruck von der Welt um mich herum festzuhalten.
Begleiteten uns Freunde oder Bekannte auf einem Spaziergang, wunderten sie sich nicht wenig, wenn ich sofort, nachdem wir in einer Gartenwirtschaft Platz genommen hatten, damit anfing, die Speisekarte oder den Aufdruck einer Limonadenflasche abzuschreiben. Jede Eintragung stand unter einem genauen Datum, ich fixierte den Tag und die Uhrzeit, dann ging es los. Zwischen die in meiner Umgebung gefundenen Texte mischten sich die aus Büchern abgeschriebenen, daneben aber gab es kleine Zeichnungen, Skizzen und Ausschnitte aus Zeitungen oder Zeitschriften, die ich noch zusätzlich in meine Kladden klebte.
Bei flüchtiger Betrachtung hätte man durchaus denken können, dass es sich bei diesen Kladden um Objekte eines naiven oder auch wahnsinnigen Künstlers handelte, so einen geradezu manisch systematischen und irritierend kleinteiligen Eindruck machten sie. Und wahrhaftig habe ich in späteren Jahren viele Projekte und Installationen von Künstlern kennengelernt, die gewisse Ähnlichkeiten mit meinen früheren Schreibbüchern aufwiesen.
Seit ich mit diesen Kladden angefangen habe, habe ich sie gesammelt, keine einzige ist je verschwunden, und da ich diese Kladden bis zum heutigen Tag — wenn auch später in anderer Form — weitergeführt habe, ist inzwischen eine große Sammlung entstanden, die auf einem Gelände untergebracht ist, das ich bis heute Die Familienphantasie nenne.
Dieses Gelände befindet sich ganz in der Nähe der großelterlichen Gastwirtschaft, vor der ich den ersten Satz meines Lebens sagte, und es befindet sich gleichzeitig auch ganz in der Nähe des Wohnhauses meiner mütterlichen Großeltern. Ein Geodät wie mein Vater hat einmal errechnet, dass Die Familienphantasie zusammen mit den beiden großelterlichen Häusern fast exakt ein gleichschenkliges Dreieck bildet.
Die Familienphantasie ist also ein utopischer, konstruierter Raum. Er entstand, als wir in Köln ein wenig zur Ruhe gekommen waren und begannen, uns in regelmäßigen Abständen nach einem Aufenthalt auf dem Land zu sehnen.

#26 
regrem патриот23.04.14 17:50
NEW 23.04.14 17:50 
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SEIT WIR das Land wieder verlassen hatten, war nämlich die Sehnsucht, noch einmal oder immer von Neuem solche Tage wie in jenen unvergesslichen Sommer- und Herbstwochen zu erleben, ununterbrochen vorhanden. Natürlich sprachen wir nicht laufend davon, aber ich
glaube, dass jeder von uns beinahe täglich Bilder dieses Aufenthaltes im Kopf hatte. In meinem Fall waren es die Bilder des Sees und des schmalen Flusses und damit die Bilder vom Schwimmen, daneben aber auch die Bilder der weiten, oft bis in die Nacht ausgedehnten Spaziergänge mit meinem Vater.
In Köln taten wir unsere Pflicht, wir gingen unseren Aufgaben nach, arbeiteten und knüpften im Laufe der Zeit viele neue Kontakte, auf dem Land aber verwandelten wir uns in Naturwesen, die sich auf ganz andere Erebnisse freuten. Schon beim frühmorgendlichen Aufstehen spürte man dort die Freiheit, ja im Grunde war die Lebenslust sofort da, weil man sich durch nichts und niemanden eingeschränkt fühlte und der Kontakt mit der Natur jeden Tag tiefe Spuren einer inneren Befriedigung und eines stabilen Glücks hinterließ.
Auch meine Mutter, die sich an unseren Spaziergängen nur selten beteiligte und bei den üblichen Arbeiten auf dem Hof und in der Wirtschaft weniger mitmachte als andere, genoss diese Aufenthalte sehr. Selbst auf dem Land unterhielt man sich gerne mit ihr, sie war die Frau, die im Schatten der Gartenwirtschaft hinter einem Bücherstapel saß, anderen aus diesen Büchern vorlas und sich lange mit Freunden und Gästen unterhielt.
Auf dem Hof nannte man diese Stunden Die Sprechstunden, und genau diesen Eindruck machte es auch, wenn Mutter an ihrem kleinen Tisch saß und, ein Bein über das andere geschlagen, ein Buch auf dem Schoß, leicht vorgebeugt, als wollte sie keine Silbe ihres Gegenübers verpassen, ihre Unterhaltungen führte. Manchmal
dehnten sich diese Unterhaltungen zu regelrechten Gesprächsrunden aus, und obwohl sich unter deren Teilnehmern oft auch Männer befanden, die durchaus wussten, wie man das große Sagen inszenierte, gelang es meiner Mutter doch fast immer, die Gesprächsführung zu behalten.
Mein Vater beobachtete das alles amüsiert, machte bei solchen Runden aber nicht mit. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, sich über bestimmte Themen auszutauschen oder sogar über sie zu debattieren, nein, das alles war überhaupt nichts für ihn, bei ihm ging es stattdessen immer um Faktisches und damit um Berichte darüber, wie die Welt sich gestaltete und wie sie von ihren jeweiligen Bewohnern geordnet wurde.
Als ich bereits etwas älter war, habe ich ihm gesagt, dass ich meine Spaziergänge und Reisen mit ihm als eine Art Feldforschung betrachtet hätte, da schaute er mich verblüfft an und sagte: Richtig, genau das war es, das Wort lag mir ein Leben lang auf der Zunge!
Ihren Höhepunkt erreichte diese Feldforschung, als ich in einer Pfingstferienwoche mit ihm wieder täglich auf dem Land unterwegs war und wir dabei mehrere Male, aber ohne jede Absicht, auf ein Höhenplateau zusteuerten, auf dem sich, wie Vater detailliert erklärte, ein sogenannter trigonometrischer Punkt befand.
Ich bemerkte sofort, wie begeistert er von dem weiten Ausblick war, den man von diesem Plateau aus hatte. Der Höhenpunkt wurde von mehreren kleinen, separat stehenden Wäldern eingerahmt, die in ihrer Mitte eine Lichtung frei ließen, von der aus man die gesamte Umgebung überblicken konnte.
Wir ließen uns auf dieser Lichtung nieder, wir aßen dort unseren Proviant, oder wir streckten uns aus, um uns von unseren langen Wegen ein wenig zu erholen. Unten im Tal lag das Dorf, in dem meine Eltern zur Schule gegangen waren, auf der anderen Seite des Hügels aber lag die Gastwirtschaft, in der mein Vater aufgewachsen war. Ich bin sicher, dass er diese ja geradezu aufdringlich bedeutungsvollen Bezüge jedes Mal im Kopf hatte, als wir auf dem Höhenkamm ankamen. Solche Bezüge merkte er sich, und auf sie spielte er gerne an, wenn er etwa behauptete, X sei von Y genauso weit entfernt wie Y von Z, das wiederum von X halb so weit entfernt sei wie Y von X. Mich brachte er mit solchen Rechnungen gern durcheinander, weil er in mir ein Opfer gefunden hatte, das er leicht schwindlig rechnen konnte, er machte so etwas aber nicht nur mit mir, sondern auch mit Erwachsenen, ja sogar mit gestandenen Geodäten und Mathematikern, mit denen er für sein Leben gern Rechenaufgaben löste. Auch das Schachspiel liebte er sehr, weil Schachspielen mit dem Lösen von Rechenaufgaben durchaus vergleichbar war. Ich dagegen mochte Rechenaufgaben und Schachspielen gar nicht, mein seltsames Hirn reagierte auf derartige Aufgabenstellungen überhaupt nicht, sondern stellte sich sofort tot.
Vater konnte mir also lange erklären, dass der Höhenkamm mit dem trigonometrischen Punkt vom Haus seiner Eltern genauso weit entfernt sei wie vom Haus der Eltern meiner Mutter, so etwas vergaß ich sofort wieder,
weil ich es mir nicht vorstellen konnte. Sagte er dagegen, dass wir nun wieder auf die Höhe gingen, von der aus man das Sonnenpanorama sehen könne, wusste ich sofort, was er meinte. Sonnenpanorama war eines der dunklen, magischen Wörter, die ich so liebte, während geometrische Angaben zu jener Welt gehörten, die mir wohl für immer verschlossen bleiben würde.
Auffallig war jedenfalls, dass auch mein Vater sich immer wieder von diesem Sonnenpanorama anziehen ließ, dass er die Lichtung mit der weiten Wiese in allen Richtungen ablief, sich länger als nötig in den kleinen Wäldchen aufhielt und schließlich sogar begann, in einem dieser Wäldchen etwas von unserem Proviant zu deponieren. So wurde der Höhenpunkt mit den Tagen zu unserer Höhenstation oder unserem Außenposten, den wir bald so betrachteten, als gehörte er ganz selbstverständlich zu uns und zu unseren Wanderungen.
Am vorletzten Tag dieses Pfingstaufenthaltes bat Vater meine Mutter, uns ausnahmsweise während eines Spaziergangs zu begleiten. Er sagte, dass er ihr das Sonnenpanorama zeigen und dass man dort etwas essen und trinken wolle, die notwendigen Utensilien hatte er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit selbst in einem kleinen Korb zusammengestellt.
Ich sehe Vater genau, wie er mit diesem Korb in der rechten Hand vorausgeht, Mutter und ich machen Witze über seine Planungen, er aber geht stur voran, schaut sich nicht nach uns um und reagiert kein einziges Mal auf unsere Bemerkungen. Nach einer Weile kommt es uns sogar so vor, als stimmte mit ihm etwas nicht, Josef, ist was mit Dir?, fragt meine Mutter zum Beispiel, aber sie erhält keine Antwort und keine Auskunft.
Vater geht vielmehr voran, als grübelte er über etwas nach oder als ginge er allein gegen einen schweren Sturm an, erst als wir auf dem Sonnenpanorama ankommen, atmet er durch, bleibt stehen und bittet uns, auf einer Decke Platz zu nehmen, die er nebenbei auch noch mit hinaufgeschleppt hat. Mutter und ich - wir machen weiter unsere Witze, denn Vater ist seltsam feierlich und wirkt gleichzeitig etwas abwesend, Mutter vermutet, dass er uns jetzt einen längeren Vortrag über Land und Leute halten werde, und als Vater zu sprechen beginnt, hört es sich so an, als habe sie mit dieser Vermutung recht gehabt.
Vater steht nämlich vor uns und erklärt das Terrain, er deutet auf die umliegenden Orte, er zeigt uns die Straßen und Verbindungen zwischen den Dörfern, die wir nur undeutlich im tiefen Maigrün erkennen. In etwa einer Viertelstunde geht er die gesamte Umgebung durch, benennt die Hügel, dreht sich im Kreis, spricht von den Verkehr s Verbindungen früher und jetzt und erläutert dann die Lage der größeren Höfe in der Umgebung, zu dem einen gehört Land in der Größe von so und soviel Hektar, zum anderen in der Größe von so und soviel, hier gab es einmal einen Erbschaftsstreit, und dort gehörte das Land einmal einem jungen Aufschneider, der es, ohne dass seine Brüder davon wussten, Parzellenweise an Jagdfreunde aus dem Rheinland verkaufte.
Dann aber macht er eine Pause und stellt den Korb auf unsere Liegedecke, Vater hat alles dabei, was die Gastwirtschaft zu bieten hat, frische Leber- und Blutwürste, Kartoffelbrot, frischen Käse und Butter und dicke, schwere Radieschen und große, feste Tomaten und eingelegte Gurken vom letzten Jahr. Es gibt kühles Bier, auch Mutter trinkt sogar ein Glas kühles Bier, und ich, ich bekomme ein Glas Libelle-Limonade, ebenfalls gut gekühlt.
Was ist denn bloß heute los?, fragt Mutter eher rhetorisch, denn sie ahnt bereits, dass sie von Vater keine Antwort erhält, und als er wirklich nicht antwortet, sondern nur die Flaschen öffnet und uns einschenkt, beginnt sie leise zu summen, ja, ich weiß genau, was sie summt, sie summt genau jenes Chanson, das sie auch damals während ihres Lustbads im See gesummt hat. Und weil ich mich an dieses Summen genau erinnere und die Noten im Kopf habe, summe ich mit, es ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich so etwas summe, aber das fällt Mutter nicht auf, nein, sie bemerkt wirklich nicht, dass ich ein großer Kenner und Liebhaber gerade dieses Chansons bin, von dessen Text ich allerdings kein einziges Wort verstehe.
Vater stößt aber nun mit uns an, und dann sagt er, dass er sich über unsere gute Laune sehr freut, und dann leert er sein Glas in einem Zug, reckt sich ein wenig in die Höhe, geht sogar für einen Moment auf die Zehenspitzen und erklärt: Genau hier, meine Lieben, werden wir bauen, ich habe die Pläne bereits im Kopf.
Mutter summt nicht mehr, sie antwortet nicht, und ich kann mir nicht richtig vorstellen, wie man es fertig bringen könnte, ein Haus auf dieser einsamen Lichtung zu bauen. Gut vorstellen kann ich mir dagegen, was wir nun zu hören bekommen, und ich habe recht, ich habe es mir ganz richtig vorgestellt: Vater geht jetzt mit uns das gesamte Terrain ab und entwirft nicht nur einen Plan für ein einzelnes Haus, sondern einen Plan für den gesamten Raum, in dem wir uns befinden. Alles hat er im Kopf, jedes Detail, von der Farbe und Form der Dachziegel bis hin zur Beschaffenheit der Steinplatten rings ums Haus.
Im Grunde geht es aber gar nicht um dieses Haus, das Haus ist lediglich eine kleine räumliche Form unter vielen anderen räumlichen Formen, denn zum Haus gehören, wie er sagt, die angrenzenden Wälder, zwei Äcker, die Lichtung sowie die westlichen und östlichen Zufahrtswege. Die gesamte Lichtung wird sich einmal in einen großen Hanggarten verwandeln, die Wälder sollen durchforstet und gelichtet werden, und auf den Ackern werden wir Kartoffeln und Rüben anbauen, ganz zu schweigen von den kleinen Gemüse- und Gewürz-Rabatten in der angeblich windstillen Partie hinter dem Haus, in der es neben Gemüse und Gewürzen übrigens auch einen Steingarten geben wird ...
Während Vater spricht und gar nicht mehr aufhören will, kommt mir aber immer wieder ein Wort in den Sinn, das ich gerade irgendwo gelesen habe, es ist das Wort Phantasie und damit bereits vom Klang her ein Wort, das ich mag und unter die dunklen und magischen Wörter einordnen würde. Was Vater erzählt, das ist eine Phantasie, denke ich und meine damit, dass es nicht so richtig klar ist, ob er von etwas Wirklichem, Möglichem oder ganz und gar Ausgedachtem spricht.
Ich selbst kann das alles sowieso nicht entscheiden und erst recht nicht übersehen, so etwas muss Mutter tun, daher schaue ich sie an und warte darauf, dass sie etwas sagt. Ich erwarte, dass sie etwas Ablehnendes sagt oder einen Scherz über diese weit ausholende Phantasie-Konstruktion macht, sie aber sagt nur: Wir sollten kein allzu großes Haus bauen, sondern vor allem ein Haus für uns Drei ...
Genau in diesem Moment begannen die Planungen für all das, was ich Die Familienphantasie genannt habe und was dann wenige Jahre später zunächst als eine Art Feriendomizil verwirklicht wurde: der große Hanggarten, die Wälder, die Beete und Rabatten, ein kleines Haus für uns drei, dazu noch ein Blockhaus für meinen Vater und sein Büro, die schmalen Gehwege und Pfade und dazu von allen Seiten aus ein geradezu überwältigender Blick auf das umgebende Land.
An diesen Planungen und ihrer allmählichen Durchführung waren wir alle drei beteiligt: Vater war so etwas wie der Architekt und der Koordinator, Mutter kümmerte sich um die Stimmungsmomente und die Atmosphären der Landschafts- und Gartengestaltung bis hin zu den Sitzplätzen sowie den großen und kleinen Gärten, und ich brachte meine Ideen mit ein, indem ich mir allerhand Spielplätze im Haus und im Freien und vor allem einen Raum für einen Flügel wünschte.
In den späten fünfziger Jahren war unsere Familie so weit, sich Gedanken über eine solche Planung machen zu können. Sie galt einem Gelände, das den labilen Grund, auf dem wir uns vorerst noch bewegten, sichern sollte. Die Familienphantasie war das Projekt unserer allmählichen Gesundung, an ihm war abzulesen, was wir uns alles zutrauten und wie wir in Zukunft leben wollten. Natürlich kam ein vollständiger Umzug auf dieses Gelände vorerst nicht in Frage, an eine derartig endgültige Aktion hatten wir aber auch gar nicht gedacht.
Die Familienphantasie war vielmehr die Planung eines Raums, in den wir uns flüchten konnten, wenn uns danach war. Es war ein einsamer Raum im Abseits, unzugänglich für andere, ja es war im Grunde der Raum einer geplanten und dann mit viel Energie aufgebauten Idylle. Wenn wir in Köln etwas Schönes entdeckten, sagte daher oft einer von uns, dies sei etwas für unser Domizil.
Das Domizil war die Bezeichnung, die wir alle Drei diesem Märchenraum gaben, ich selbst aber nannte ihn für mich immer nur Die Phantasie und später, als ich in der Jugend auf Distanz zu diesem Raum ging, weil ich ihn in diesem Alter einfach zu schön und zu geschlossen fand: Die Familienphantasie.
Die Familienphantasie entstand in jahrelanger Arbeit gegen unsere Ängste und Sorgen und auch gegen die Erinnerungen an die Vergangenheit. Und doch hinterließ diese Vergangenheit auch in diesem Schutzraum ihre Spuren, denn es gab in ihm viele kleine Verstecke und Fluchtmöglichkeiten mit absonderlichen Behausungen sogar für den Ernstfall.
Den Ernstfall nämlich hatten wir trotz all unserem Hang zur Idylle, zur Abschottung und zur Stille natürlich nicht vergessen, nein, wir hatten gar nichts vergessen. Wir waren zwar auf dem Weg der Gesundung und taten alles nur Mögliche, um dabei voranzukommen, aber wir erlebten auch Rückfälle in Verhaltensweisen früherer Zeiten. Manchmal resignierte Mutter zumindest für einige Tage, dann zog sie sich in unsere Wohnung zurück und sprach kaum ein Wort, und manchmal wurde ich in der Schule aufgerufen und brachte vor lauter Stottern kaum eine Silbe über die Lippen.
Unter der Oberfläche waren wir also noch immer verwundet, beschädigt und nicht selten auch hilflos, nach außen hin aber wollten wir das nicht mehr zu erkennen geben. Manchmal schämten wir uns sogar, wenn wir wieder als jene hilflosen Gestalten dastanden, die wir längst abgestreift geglaubt hatten. In solchen Momenten erinnerten wir uns an unser Domizil und fuhren dann wenigstens für ein Wochenende aufs Land.
Mitten in dem weiten Terrain, das wir erst so ausführlich zu dritt geplant und auf dem wir dann gebaut haben, steht heute ein kreisrundes, doppelstöckiges, erst nach dem Tod meiner Eltern entstandenes Holzhaus, das sein Licht nur vom Dach her bezieht, weil es keine Fenster besitzt. Statt der Fenster gibt es durchlaufende Wände, die vom Boden bis zur Höhe mit Archiv-Kästen gefüllt sind. In diesen Kästen befinden sich meine Schreibbücher und all das Material über meine Familie und mich, das ich seit Jahrzehnten gesammelt habe.
Jedes Jahr wächst dieses Archiv um mehrere Meter, inzwischen ist es an allen Seiten des Holzhauses so hoch, dass ich in den ersten Stock steigen muss, um all die vorhandenen Kästen zu übersehen. Wenn ich dort oben ankomme, schaue ich hinab auf das ebenfalls kreisrunde, leere Zentrum des Hauses. In diesem Zentrum steht ein schwarzer Flügel, der, von oben angestrahlt, den Eindruck eines Bühnenraums komplettiert. Die Bühne ist menschenleer, aber der angestrahlte Flügel erweckt die Illusion, gleich werde ein Pianist erscheinen und zu spielen beginnen.
Ich habe viele Jahre bloß auf diesen Flügel hinabgeschaut und seine Tasten nicht berührt. Ich habe mich in einen Winkel dieses seltsamen Baus gesetzt, ein Buch gelesen oder Musik gehört. In diesem Haus kann man so laut Musik hören, wie man will, es gibt keine Nachbarn.
Wer das Terrain aber einmal in seiner vollen Ausdehnung überschauen möchte, sollte das am besten aus der Luft tun. Von dort oben würde man lauter dichte Laub und Nadelwälder erkennen, als wäre die Natur dabei, die vielen Behausungen zu überwuchern.

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regrem патриот23.04.14 17:52
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NUN IST eingetreten, wovor ich mich vor einigen Wochen noch streng gehütet und wovon ich die ganze Zeit Abstand genommen habe: Ich habe nicht nur Kontakt zu
meiner römischen Umgebung aufgenommen, sondern ich bin sogar ein Teil von ihr geworden. Seit jenem frühen Abend, an dem ich für Marietta und Antonia den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Bach gespielt habe, kreist das Gerücht, ich sei ein in vielen Ländern der Erde gefeierter Pianist.
Rund um den kleinen Markt hat sich mein Ruf inzwischen so verbreitet, dass ich von wildfremden Menschen begrüßt und auf meine besonderen Fähigkeiten hin angesprochen werde. Die Details meines nicht beabsichtigten Auftritts tun bereits nichts mehr zur Sache und sind daher längst durcheinandergeraten. So haben mich einige Marktbesucher angeblich um Mitternacht spielen gehört, und andere waren bei einem Wohltätigkeits-Konzert im Freien zugegen, das ich direkt auf der vor meinem Wohnhaus liegenden Piazza gegeben habe.
Längst herrscht auch Unklarheit darüber, was ich eigentlich in dieser wundersamen Nacht gespielt haben soll. Die meisten Optionen gelten Stücken Beethovens, aber auch Mozart und Schumann sind im Gespräch, nur von Bach ist seltsamerweise niemals die Rede. Wenn ich versuche, die Angaben zu korrigieren und erkläre, dass ich lediglich den ersten Satz des Italienischen Konzerts von Bach gespielt habe, kommen auch diese Korrekturen nicht richtig an. Meist fragen meine Gesprächspartner nämlich noch einmal nach und wiederholen korrekt, dass es sich also um das Italienische Konzert gehandelt habe, der Name Bach ist dabei aber nur in seltenen Fällen hängen geblieben, weil man Bach anscheinend nicht mit einem Italienischen Konzert in Verbindung bringt.
So hat sich mit der Zeit das unsinnige Gerücht durchgesetzt, dass ich ein Italienisches Konzert gegeben habe, wahrscheinlich verstehen manche darunter sogar, dass ich gesungen oder die Gitarre gespielt habe. Hier und da wird auch behauptet, ich habe mich selbst auf dem Klavier begleitet und einige Opernpartien zum Besten gegeben, all das ist so grotesk, dass ich es irgendwann aufgegeben habe, die Sache richtig zu stellen, und nur noch freundlich nicke, wenn von meinem splendiden Italienischen Konzert die Rede ist.
Wichtiger als das Rumoren dieser Gerüchteküche erscheint mir aber die Frage, wie ich mit dieser Veränderung meines Status umgehen soll. Gefällt mir meine Aufnahme in die römischen Zirkel meiner näheren Umgebung? Bin ich erleichtert, dass ich jetzt überall angesprochen werde, nachdem ich doch wochenlang den schweigsamen und etwas abwesenden Fremden herausgekehrt habe, der nur zu einem kurzen Kaffee in einer Bar erscheint?
Ehrlich gesagt, macht es mir ein gewisses Vergnügen, dass meine Anwesenheit in einer Bar oder auf dem Gelände der weiten Piazza jetzt jedes Mal von kurzen Presto-Dialogen eingeleitet wird. Jeder, der mich zu erkennen glaubt, spricht mich zunächst auf meinen Auftritt an, man wechselt einige rasche Bemerkungen zur Musik und ihrer angeblich enorm erlösenden und befreienden Kraft, dann aber wird das Neuste vom Tag verhandelt und besprochen, bis am Ende wieder eine knappe Bemerkung über die Musik und die pianistischen Zauberkünste fällig ist.
So hat jedes Gespräch jetzt einen Rahmen und eine Struktur, ich erfahre viel mehr als zuvor, manchmal werde ich sogar zu einem Getränk eingeladen, ja, ich gebe zu, dass mir mein neuer Ruf in dieser Hinsicht durchaus gefällt.
Ganz anders und viel komplizierter verläuft jedoch meine neue Bekanntschaft mit Antonia und ihrer Tochter. Der fragliche Nachmittag und der spätere Abend in der Wohnung der beiden - sie haben mich zu einem Freund der Familie gemacht. Ein solcher Freund ist kein Fremder mehr, den man kurz grüßt und mit dem man ein paar knappe Worte wechselt, er ist vielmehr ein Mensch, den man mehr als andere schätzt und dessen Nähe man täglich sucht.
Daher haben sich zwischen uns gewisse Vertraulichkeiten ergeben, und ich habe noch keine Methode gefunden, damit umzugehen. Kommt Marietta am Mittag aus der Schule noch Hause, klingelt sie inzwischen bei mir, betritt meine Wohnung, trinkt mit mir in der Küche ein Glas Wasser und erzählt mir, was sich an diesem Vormittag in ihrer Schule ereignet hat.
Trifft wenig später Antonia ein, um für ihre Tochter und sich selbst das Mittagessen zu kochen, so erscheint sie ebenfalls zunächst bei mir, weil sie Marietta abholen möchte. Meist werde auch ich dann zum Mittagessen geladen, oder ich erhalte irgendeine kleine Aufmerksamkeit zum Geschenk, die Antonia mir und nur mir mitgebracht hat: Ein Glas Orangenmarmelade aus Sizilien! Ein irisches Dunkelbier! Einige frische Datteln vom Markt!
All diese Leckereien sind so etwas wie der Köder, den Antonia auslegt, weil sie genau weiß, wie empfänglich ich für solche Genüsse bin. Die Gegengabe, die sie dafür erwartet, besteht nun aber keineswegs aus ähnlichen kleinen Aufmerksamkeiten, die nun wiederum von meiner Seite her aufzubieten wären, sondern ausschließlich darin, dass ich ihr, wann immer sie es für nötig erachtet, für ein längeres Gespräch zur Verfügung stehe.
Auch damit könnte ich noch leben, wenn es in all diesen Gesprächen, wie ich übrigens erst nach einer Zeit der Verblendung bemerkt habe, nicht vor allem um die Trennung von ihrem Mann und eine eventuell bevorstehende Scheidung gehen würde. Jedes unserer Gespräche beginnt dabei noch relativ harmlos, biegt dann aber nach wenigen Minuten unweigerlich auf das eine Thema ab.
Nun kann ich ja durchaus verstehen, dass Antonia nach, wie ich inzwischen weiß, dreizehn Jahren Ehe damit zu kämpfen hat, eine Trennung von ihrem Mann hinzunehmen und zu ertragen, unverständlich dagegen war mir eine Zeit lang, warum ausgerechnet ich dazu berufen sein sollte, die Einzelheiten eines solchen Lebensumbruchs mit ihr in allen nur denkbaren Aspekten durchzugehen.
Erst langsam begriff ich dann, dass ich für Antonia der geradezu ideale Gesprächspartner bin: Anders als ihre Freundinnen und Bekannten bin ich in die Geschichte nicht involviert, und anders als diese Freundinnen und Bekannten bringe ich wohl eine geradezu grenzenlose Geduld auf, wenn es darum geht, sich in die Einzelheiten der Geschichte zu vertiefen.
Warum aber tue ich das? Warum sage ich ihr nicht einfach, dass mir die Trennung von ihrem Mann relativ gleichgültig und die Tatsache, dass er nach dreizehn Jahren Ehe noch einmal mit einem Fitnessprogramm begonnen hat, sogar noch gleichgültiger ist?
Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich gar nicht selten in solche Gespräche wie die mit Antonia hineingezogen werde. Anscheinend sende ich bestimmte Signale aus, als würde ich mich für derartige Gespräche wahrhaftig eignen. Ich werde mit den Details einer Freundschaft oder einer Liebe vertraut gemacht, ich erhalte Informationen zu den sexuellen Vorlieben von langjährigen Lebenspartnern, ich werde gebeten, darüber nachzudenken, ab wann und warum körperliche Attraktivität in bestimmten Liebesbeziehungen wohl nachlässt - und ich gehe wahrhaftig auf alle diese Themen ein, manchmal sogar gegen meinen Willen.
Eine gute Freundin hat mir einmal erklärt, dass ich in solchen Gesprächen eine bestimmte Aura aufbauen würde, und dann hat sie mir auf meine erstaunte Nachfrage sogar noch genau beschrieben, worin diese Aura besteht. Das Wort Aura gefiel mir natürlich, wieder mal war ich auf eines meiner dunklen, magischen Lieblingswörter gestoßen, was jedoch mit dem Wort gemeint war, gefiel mir ganz und gar nicht. Angeblich vermittle ich nämlich den Eindruck einer besonderen Hingabe und Einfühlung, und angeblich würde meine Gesprächspartnerin das bemerken, weil sich der Raum um uns während des Gesprächs allmählich schließen und dadurch immer
intimer würde. Emotionale Raumaufladung!— so nannte sie das Kunststück, das ich angeblich, ohne es zu wissen, beherrschte.
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, sondern achtete seither darauf, dass so etwas nicht mehr vorkam, leider war es während meiner ersten längeren Begegnung mit Antonia an dem fraglichen Nachmittag und dem späteren Abend dann doch vorgekommen, ich hatte mich im Hochgefühl meines pianistischen Auftritts einfach nicht in der Gewalt gehabt.
Nun hätte ich Antonia ja irgendwann durchaus sagen können, dass ich in die Geschichte der Trennung von ihrem Mann nicht hineingezogen werden wollte, das aber unterließ ich sträflicherweise auch, und zwar deshalb, weil es in der ganzen Geschichte eben doch gewisse Details gab, die immerhin für ein schwaches Interesse und schließlich sogar für eine gewisse Neugierde von meiner Seite sorgten.
All diese Details hatten mit dem Umstand zu tun, dass Antonias Mann sich von einem Tag auf den ändern aus der gemeinsamen Wohnung abgesetzt und dafür keine andere Erklärung außer der, dass er das Eheleben nicht mehr ertrage und dass es ihn abgrundtief langweile, gegeben hatte. Antonia glaubte diesen schnörkellosen und simplen Formulierungen nicht, sie vermutete vielmehr, dass hinter der ganzen Sache ein ganz anderes Motiv steckte. Eine andere Frau? Oder eine angebliche Erbschaft, die ihr Mann allein genießen wollte? Zu all diesen Vermutungen hatte ihr Mann nur gesagt,
dass sie allesamt dummes Zeug seien, das aber genügte Antonia nicht, nein, es genügte ihr einfach nicht, dass ihr Mann die gemeinsame Wohnung so leicht wie ein Vogel verlassen hatte, um auf dem gegenüberliegenden Tiber-Ufer eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Ausblick auf den Fluss zu beziehen. Nichts hatte er mitgenommen, nichts, nicht einmal seine Anzüge und Schuhe! Stattdessen hatte er erklärt, er wolle das alles nicht mehr sehen, Antonia könne seine Siebensachen verschenken oder verkaufen und das Geld könne sie auch behalten, er wolle einfach nicht mehr an die Vergangenheit erinnert werden, sondern ein neues Leben beginnen.
In unseren Gesprächen waren wir die ganze Sache immer wieder durchgegangen, und als es mir allmählich zu viel geworden war, hatte ich Antonia sogar gefragt, ob ihr Mann nicht vielleicht am Ende einfach recht gehabt und ihre Ehe nicht wirklich Anzeichen einer gewissen Übermüdung gezeigt habe. Antonia hatte das sofort zugegeben, ja, so sei es gewesen, eine gewisse Übermüdung habe es gegeben, aber nicht mehr als in solchen langjährigen Verbindungen üblich. In den Ehen all ihrer Freundinnen gebe es diese Übermüdung, man gehe deshalb aber doch nicht auseinander, sondern arrangiere sich und jeder führe im schlimmsten Fall dann eben ein Leben für sich, mit allem Respekt vor dem Leben des ändern. Sich aber einfach auf und davon zu machen und nicht zu verraten, was sich hinter dieser Flucht verberge, das sei respektlos und unaufrichtig, und so etwas Respektloses und Unaufrichtiges ertrage sie nicht.
Ihre Unruhe, ihre Verbissenheit, ihr ganzer Furor — das alles ließ mich nicht los, ja es trieb mich sogar an, als wäre ausgerechnet ich dazu berufen, Licht in die reichlich dunkle Geschichte zu bringen. Manchmal begegnete ich Antonias Mann noch immer im Treppenhaus, wir grüßten uns weiter kurz, er konnte ja nicht ahnen, dass ich mir überlegte, ihn direkt zur Rede zu stellen: Nun heraus mit der Sprache! Oder, noch etwas dramatischer: Sie Lump, ich erwarte eine Erklärung.' Oder, in einer eher melodramatischen Version: Darf ich Sie auf einen Drink einladen?
Statt auf eine Klärung der Geschichte zu drängen, sagte ich nichts, so dass es mit den Vermutungen und Verdächtigungen weiter und immer weiter ging. Doch damit nicht genug: Antonia erklärte mir, dass sie wegen der Trennungs- und Scheidungs-Geschichte durcheinander und nicht recht zurechnungsfähig sei und aus diesem Grund den Noten des Italienischen Konzertes einen in der Tat unmöglichen Fingersatz verpasst habe. So etwas sei ihr noch nie passiert, sie schäme sich, außerdem aber schäme sie sich auch, weil sie es in den letzten beiden Jahren versäumt habe, ihrem fleißig Klavier übenden Kind einen guten Lehrer zu beschaffen. Sie selbst sei jedenfalls keine gute Klavierlehrerin und sie habe sich auch nicht für eine solche gehalten, sie habe vielmehr nur die Aufsicht über das Klavierspiel ihrer Tochter geführt, und das sei eindeutig zu wenig gewesen!
Natürlich ahnte ich, worauf sie hinaus wollte. Sie bettelte darum, dass ich Mariettas Klavierunterricht übernahm, und sie verband diese Bettelei mit der Nebenabsicht, mich noch detaillierter mit ihren Eheproblemen vertraut zu machen.
Nun war Antonias Eheproblem die eine Seite unserer gemeinsamen Geschichte, Mariettas Klavierspiel aber eine durchaus andere. Beide Seiten hatten nicht unbedingt etwas miteinander zu tun und bedurften deshalb getrennter Betrachtung. Ein Klavierlehrer wollte ich nicht gerne sein und war es ja auch bisher mein Leben lang nicht gewesen. Wohl aber fühlte ich mich verpflichtet, der kleinen Marietta zu helfen, einen gescheiten Klavierlehrer zu finden.
Das Angebot, das ich Antonia machte, war deshalb von, wie ich finde, salomonischer Weisheit: Ich erklärte, dass ich Marietta für eine gewisse Übergangszeit unterrichten, mich aber gleichzeitig um einen anderen, dauerhaften Klavierlehrer kümmern werde. Gleichzeitig bat ich sie, dass wir ihre gegenwärtigen Probleme nicht mit dem Klavierunterricht ihrer Tochter in Verbindung bringen sollten. Ich würde also ausschließlich zum Zwecke des Unterrichts in ihrer Wohnung erscheinen, über ihre Ehe-Probleme wolle ich aber nicht weiter sprechen. Wenn sie mit diesen Bedingungen einverstanden sei, könne ich mit dem Unterricht gleich beginnen.
Natürlich war Antonia einverstanden, und sie versuchte es mir zu beweisen, indem sie mir einen kleinen Brief in den Briefkasten warf, in dem sie mein Klavierspiel lobte und in einem Postskriptum versicherte, sie werde in meiner Anwesenheit kein einziges Wort mehr über ihren Mann verlieren. Ich misstraute diesem Pathos, und
ich behielt recht: Kaum zwei Tage später klingelte sie bei mir und überraschte mich mit der Einladung, mit ihr eine kleine Portion schwarzen Reis mit etwas Fisch zu verzehren und dazu einen Weißwein aus dem nahe gelegenen Frascati zu trinken.
Konnte ich diese Einladung ablehnen? Nein, ich konnte es nicht, und so erfuhr ich, während ich mich über einen Teller mit schwarzem Reis und sehr feinem, klein geschnittenen Gemüse beugte und dazu Stücke einer gegrillten Seezunge in den Mund schob, dass ihr Mann angeblich in einen Ruderverein eingetreten sei und nun zweimal in der Woche auf dem Tiber mit einer Gruppe anderer Ruderer beim Training gesehen werde ...
Als ich einen Tag später dann neben Marietta saß, um ihr meine erste Klavierstunde zu erteilen, geriet ich schon nach wenigen Minuten ins Grübeln. Ich hatte mir zuerst die Noten des Italienischen Konzerts geben lassen und rasch die Fingersätze des ersten Satzes geändert, das aufgeschlossene und auf meinen Unterricht neugierige Kind danach aber gebeten, mit dem langsamen Üben einer bestimmten Eingangspassage zu beginnen.
Ich lehnte mich etwas zurück und hörte Marietta zu, wie sie immer wieder von vorne begann, manchmal hängen blieb, und es dann wieder eher zufällig schaffte, die Passage zu spielen, ich schaute zum Fenster hinaus auf das entschiedene Blau, das oberhalb der Häuser lauerte, als ich mich plötzlich an jenen Klavierunterricht erinnerte, der mein Klavierspiel und mein Üben so sehr verändert hatte.
Er begann noch in meiner Volksschulzeit, als sich meine Mutter nach unserer Rückkehr vom Land und der Wiederaufnahme ihres Berufs als Bibliothekarin nach einem Klavierlehrer für mich umgeschaut hatte. Durch Hinweise von Bekannten war sie auf einen Klavier Pädagogen aufmerksam geworden, der damals in Köln bereits einen guten Ruf besaß. Er hieß Walter Fornemann und unterrichtete Musik an einem Kölner Gymnasium, galt zu dieser Zeit aber auch als ein ausgezeichneter Pianist, der an der Musikhochschule eine kleine Klasse von ausgewählten Schülern betreute.
Walter Fornemann war ein sehr lebendiger und ungemein ehrgeiziger Mensch. Man sah ihm den Ehrgeiz sofort an, wenn man seine raschen Bewegungen, seine Direktheit und die Zielstrebigkeit mitbekam, mit der er jede Sache anpackte. Der Unterricht an Gymnasium und Musikhochschule genügte ihm nicht, nebenbei war er noch als Dirigent tätig und veröffentlichte schließlich auch noch musiktheoretische Bücher, die wohl den größten Anteil an seinem schnell wachsenden Ruhm hatten.
Meine Mutter hatte mit Walter Fornemann telefoniert und von ihm bereits eine beinahe definitive Absage erhalten, nein, Walter Fornemann wollte ein so junges Kind nicht unterrichten, nein, Walter Fornemann hatte für Anfängerstunden überhaupt keine Zeit. Immerhin hatte er sich aber darauf eingelassen, dass ich mich kurz vorstellen durfte, ja, nun gut, meine Mutter durfte mit mir einmal erscheinen, ich durfte ein kleines Stück spielen, und Walter Fornemann würde eine Empfehlung im Hinblick auf einen geeigneten Klavierlehrer aussprechen.
Walter Fornemann hatte keine Ahnung, wozu er sich bereiterklärt hatte, denn nur wenige Minuten, nachdem er Mutter gesehen hatte, war er ihr auch schon verfallen. Sie sprach von ihrer Vorliebe zur französischen Musik, sie sprach von Berlioz, Debussy und Ravel, vor allem aber trug sie einen strengen, schwarzen und langen Mantel und dazu eine dunkle, schräg auf den schönen Kopf gesetzte Kappe.
Ihr Aussehen und ihre Worte harmonierten auf eine derart perfekte Weise, dass man ein Filmbild vor sich zu haben glaubte, Walter Fornemann konnte der Magie dieses Bildes nicht widerstehen, nach zehn Minuten sprachen die beiden miteinander auch französisch und gingen so vertraut miteinander um, als spielten sie gerade in einem Film von Jean Renoir.
So war unser Anliegen bereits auf dem besten Wege, als ich Platz nehmen und Klavier spielen durfte. Mutter bat mich, die erste Arabeske von Claude Debussy zu spielen, es handelte sich um ein Stück, das ich sehr mochte und wohl damals mit einem gewissen Kindercharme spielte.
Walter Fornemann stand mit dem Rücken zum Fenster und schaute mich an, als ich zu spielen begann, nach zwei, drei Minuten drehte er sich um und stand nun mit dem Rücken zu mir, und so blieb er auch die ganze Zeit regungslos bis zum Schluss des Stückes stehen.
Als ich damit fertig war, zeigte er keinerlei Reaktion, er spendete keinen Beifall, ja er lobte mich nicht einmal, obwohl ich nach meinem eigenen Eindruck gut gespielt hatte. Auch meine Mutter sagte nichts zu meinem Spiel, sondern sprach weiter über Debussy und die Eigenheiten seiner Klavierstücke, als wäre ich nur ein Demonstrationsobjekt für eine angeregte musiktheoretische Debatte zwischen Walter Fornemann und ihr.
Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu gehen, außerdem war ich ein wenig darüber verärgert, dass Walter Fornemann mit mir kein einziges Wort sprach und mich nicht einmal aus Höflichkeit irgendeine Kleinigkeit fragte.
Dann kam er aber doch auf mich zu und fragte, ob ich ihm noch ein zweites Stück vorspielen wolle. Als ich nickte, fragte er weiter, von welchem Komponisten ich nun etwas spielen werde. Ich schaute ihn trotzig an und antwortete: Das bestimmt Herr Fornemann.
Das bestimme ich?, lachte er, und ich spürte in diesem Lachen einen leichten Hohn, als glaubte er nicht, dass ich bereits ein kleines Repertoire mit Stücken vieler bekannter Komponisten beherrschte. Nun gut, sagte er, dann spiel uns doch eine Komposition von Frederic Chopin!
Walter Fornemann konnte nicht ahnen, was er von mir verlangte. Ich sollte Chopin spielen, ausgerechnet Chopin! Ich überlegte mir keine Ausrede, sondern sagte ihm, dass mir die Stücke von Frederic Chopin nicht gefielen, und als Walter Fornemann nachfragte, warum diese Stücke mir um Himmels willen denn nicht gefielen, antwortete ich, dass diese Stücke keinen Boden hätten. Keinen Boden?!, fragte Walter Fornemann beinahe entsetzt, keinen Boden?!
Heute vermute ich, dass mir vor allem die skurrile Aussage, Chopins Klavierkompositionen besäßen keinen Boden, damals dazu verhelfen hat, ein Schüler Walter Fornemanns zu werden. Später einmal hat Fornemann meiner Mutter gegenüber behauptet, er habe in mir ein junges Klaviergenie gewittert, eine Hochbegabung, ein rares Talent!
Ich jedoch kann mir einfach nicht vorstellen, dass mir das Vorspielen der schlichten Arabeske von Debussy diese günstige Prognose eingebracht hatte. Fornemann hatte weniger auf mein Spiel als auf meine gereizte Bemerkung über Chopin reagiert - das hatte ich doch genau bemerkt! Also hatte er in mir nicht einen jungen Virtuosen gesehen, sondern einen seltsamen, undurchschaubaren Typen mit gewissen originellen Spleens und Ideen, der ihm vielleicht einmal für seine musiktheoretischen Bücher nützlich sein konnte.
Wir haben es damals bei dem Vorspiel eines Debussy-Stücks bewenden lassen, Fornemann erklärte, dass er eine Ausnahme machen und mich ab sofort jede Woche eine Stunde privat und bei sich zu Hause unterrichten werde. Der Unterricht fand dann auch jeden Donnerstagnachmittag statt, Mutter kam von ihrer Arbeit zunächst in unsere Wohnung und brachte mich hin. Wenn ich bei Fornemann geklingelt hatte, erschien eine Hausälterin, führte mich in den Wintergarten, wo der Flügel stand, und brachte mir Tee und etwas Gebäck. Jede Unterrichtsstunde begann auf genau diese Weise, ich wartete ein paar Minuten allein und nippte am Tee, dann erst erschien Fornemann und begann mit seinem Programm.
Dieses Programm aber war darauf angelegt, die jeweiligen Stücke zunächst nicht zu spielen, sondern sie erst einmal zu verstehen. Um sie zu verstehen, zerlegte man sie in kleine Sinneinheiten und Phrasen und schaute sich an, wie diese Einheiten miteinander verbunden waren. Man übt eine Komposition niemals von vorne nach hinten!, sagte Fornemann und ließ mich die Phrasen einzeln und in völlig unterschiedlicher Reihenfolge üben.
Eine Komposition wurde so zu einem Mosaik, dessen Bausteine man aus dem Gesamtgefüge herauslöste, um sie dann wie Spielmaterial zu behandeln. Schauen wir uns diese Drei-Takte-Idee einmal genauer an!, schlug Fornemann vor und bat mich, eine bestimmte musikalische Idee in einer anderen Tonart zu spielen, sie auf zwei Takte zu verkürzen oder mit ihr zu improvisieren.
Damit solche Übungen nicht zu naiven Spielereien führten, musste ich möglichst rasch die Grundlagen von Harmonielehre und Kontrapunkt beherrschen. Diese Sache hier geht über G erwartungsgemäß nach D und kehrt dummerweise nach C zurück, zeigte er mir, um mich dann aufzufordern, es ein wenig besser als Mozart in dieser Sonate zu machen und nicht nach C, sondern nach einem verblüffenderen Ton zurückzukehren.
Was die Klaviersonaten der Klassik betraf, so war Joseph Haydn in Fornemanns Augen der uneinholbare Meister solcher Verblüffungen. Und warum war Haydn das? Weil er ein Meister des kleinteiligen, ironischen, eine Komposition in jedem Moment neu strukturierenden Denkens war! Haydn überrascht den Zuhörer ununterbrochen, sagte Fornemann, Haydns Sonaten sind raffiniert,
Mozarts Klaviersonaten sind dagegen Fingerübungen für Mannheimer Wirtshaustöchter, und genau das hört man ihnen auch an!
Zu Beginn meines Unterrichts verstand ich einen Großteil dessen, was er sagte, nicht. Warum Haydn besonders raffiniert, Mozart hier und da breitflächig oder Beethoven manchmal geradezu einfältig komponierte - das konnte ich wegen meines Alters auch noch nicht verstehen. Das Besondere an Fornemanns Unterricht aber war, dass er darauf keine Rücksicht nahm, sondern mich wie einen Erwachsenen behandelte. Diesem Erwachsenen erklärte er in allen Nuancen und Feinheiten, dass eine Komposition nichts Fertiges und Geschlossenes war, das man stumm bewunderte, übte und dann irgendwann vortrug, sondern etwas, mit dem man beinahe unbegrenzt spielen konnte. Eine Haydn-Sonate wurde so zu einer Erzählung, die man sich in Bruchstücken immer wieder anders erzählte, mit Bruchstücken anderer Erzählungen verknüpfte und dann mit der Zeit, ohne dass man einen besonderen technischen Aufwand betrieben hätte, beherrschte.
Ein solcher Unterricht war für mein damaliges Können geradezu ideal, ja er war sogar derart auf die besonderen Ticks meines Gehirns abgestimmt, dass sich die ersten Erfolge bereits nach wenigen Wochen einstellten. Bestimmte musikalische Phrasen rückwärts zu spielen, sie in eine andere Tonart zu verwandeln, sie über mehrere weitere Tonarten wieder zur Ausgangstonart zurückzuführen — das waren Nummern, die mein Kopf in Windeseile durchspielte und an denen meine Finger eine größere Freude hatten als an den eher mechanischen Übungen, die meine Mutter mir aufgegeben hatte.
Dass das Klavierspiel vor allem eine Sache des Kopfes und der Fähigkeit, sich die Noten vorzustellen, einzuprägen und sie nach Belieben neu zusammenzusetzen, war, hatte ich immer geahnt, ich hatte nur nicht über die richtigen Grundlagen verfügt, mit dieser Fähigkeit umzugehen. Das aber änderte sich durch Fornemanns Unterricht, den ich jedes Mal wie im Taumel und daher eher wie eine Zirkusdarbietung als einen typischen Klavierunterricht erlebte.
Fornemann aber wiederum hatte schnell bemerkt, an was für einen Schüler er da geraten war, es war in der Tat ein seltsamer Kopf mit verqueren Eigenheiten und kaum durchschaubaren Operationen. Jetzt spielen mir dieses D-Dur-Präludium von Bach einmal in a-Moll, sagte er und lachte, wenn ich eine solche Aufgabe fehlerfrei und ohne Nachdenken bewältigt hatte. Jetzt machen wir aus dieser kleinen Aria einmal eine kleine Gavotte, erhöhte er den Schwierigkeitsgrad und entfernte sich von seinem Platz neben dem Flügel, um meine Improvisation aus der Ferne zu verfolgen ...
Meine Mutter hat mir später einmal erzählt, wie Fornemann damals von mir geschwärmt habe. Ein solches Talent hatte er noch nie gesehen, ein solches Talent musste überall vorgeführt und genauer untersucht werden!
Deshalb wurde der Einzelunterricht zunächst auf zwei und später sogar auf drei Stunden ausgedehnt, und deshalb begann Fornemann, sich während des Unterrichts Notizen zu machen. Er wollte dahinterkommen, wie mein Hirn arbeitete, ja er wollte darüber sogar einmal etwas Längeres schreiben!
Daneben aber machte er sich rasch zunutze, dass ich keine Scheu vor öffentlichen Auftritten hatte und vor solchen Auftritten nicht aufgeregt war. Wenn er den Mund halten darf und nichts sagen muss, ist er keine Spur aufgeregt, erklärte er einmal einer Jury, der ich im Rahmen eines Wettbewerbs vorgespielt hatte. Er tat, als wäre ich seine Schöpfung und als wüsste er alles über mich, und er beeindruckte all die vielen Juroren, vor denen ich damals antrat, mit seinen Kommentaren wahrscheinlich noch mehr als ich sie mit meinem Spiel.
Die Folge dieser rauschhaften Zusammenarbeit waren die ersten Preise und Ehrungen, kleine, glänzende Pokale, die in einem Glasschrank untergebracht und regelmäßig abgestaubt und geputzt wurden. Ich machte mir nicht viel aus all diesen Preisen, nein, sie bedeuteten mir wirklich nicht viel, denn ich hatte nach meinem Empfinden bei solchen Wettbewerben keine richtige Konkurrenz. Natürlich gab es immer wieder Konkurrenten, die technisch ebenso gut oder sogar besser waren als ich, sie spielten aber meist unglaublich nervös, verhedderten sich hier und da und machten, wenn sie zum Beispiel mit einer Beethoven-Sonate kämpften, einen unangenehm überforderten Eindruck.
Passabel gespielt, aber nichts kapiert, nannte Fornemann ein solches Spiel, um kurz danach vor den Juroren damit anzugeben, wie sehr zum Beispiel gerade meinem Spiel doch Haydns Kompositionen lägen. Ich wette., er spielt Haydns Sonaten besser als Haydn sie selbst gespielt hat., behauptete Fornemann, und die Juroren, die so etwas bereits für eine brillante Bemerkung oder auch einen guten Witz hielten, lachten, ohne zu ahnen, dass Fornemann so einen Satz ernst meinte.
So traten wir beide als eine Art Duo auf, Fornemann kommentierte und brillierte mit seinen von allen als geistreich bezeichneten Einfallen, ich aber blieb stumm, setzte mich ungerührt an jeden Flügel, spielte fehlerfrei und improvisierte, auf ausdrückliches Bitten der Jury., zum Abschluss meines Auftritts außerhalb des Wettbewerbs. Dass solche Arrangements außerhalb des Wettbewerbs sehr dazu beitrugen, den Wettbewerb zu gewinnen, war Fornemann und mir natürlich bewusst, ich wunderte mich nur darüber, wie leicht die Juroren es Fornemann machten, sich mit seinen Zusatz-Wünschen und dem Zirkusdirektoren-Talent, das er in großem Maße besaß, durchzusetzen.
In meiner Familie brachte mir das alles nicht nur Anerkennung und Bestätigung ein, meine Mutter und mein Vater waren vielmehr nun überzeugt, dass meine ganze Zukunft im Klavierspiel liege. Johannes wird einmal ein Stern am Pianistenhimmel, hatte Fornemann meiner Mutter gesagt, wohingegen er mir kein einziges lobendes Wort sagte, sondern meist nur bestätigend, und als habe er nichts anderes erwartet, nickte, wenn das Publikum nach einem meiner Auftritte begeistert klatschte.
Und ich?! Genoss ich das alles nicht auch? Machte es mir nicht Freude, derart anerkannt zu werden? Ja, schon, es machte mir Freude, aber ich war noch nicht sicher, ob ich auch wirklich für den Beruf des Pianisten geeignet war und es am Ende tatsächlich zu etwas Großem bringen würde.
In meinem Innern nagte nämlich eine gewisse Skepsis, und diese Skepsis hatte damit zu tun, dass ich mich eher als Mitglied eines Zauberer-Duos denn als eigenständige Erscheinung am Flügel wahrnahm. Walter Fornemann zauberte mit mir, und er wusste mit mir auch wahrhaftig zu blenden. Ich aber fragte mich, ob dem Publikum mein Spiel auch gefallen würde, wenn es hinterher nicht zu hören bekam, dass diesem Kind dort vor Ihnen, meine Damen und Herren, ein neuer Schluss der zweiten Fuge des „Wohltemperierten Klaviers“ eingefallen ist, die unseren Großmeister Johann Sebastian Bach sehr verblüfft hätte. Und warum hätte sie ihn verblüfft?! Weil sie besser ist ah seine eigene!...
Von solchen Zirkus-Nummern waren die Auftritte der großen Pianisten, die ich zusammen mit meinem Vater etwa in Salzburg oder Wien erlebte, weit entfernt. Ich liebte diese Auftritte auf großer Bühne sehr, meist stand in ihrer Mitte nichts anderes als der schwarze, glänzende Flügel, die Rückenpartie weit geöffnet, als gäbe er sich vollkommen preis.
Minuten vor dem Beginn eines Konzerts gab es in den großen Konzertsälen noch ein aufgeregtes Hin-und-Her-Laufen, Begrüßungen wurden ausgetauscht, Programme herumgereicht, dann aber setzte endlich eine gewisse Ermattung ein, als wäre das gesamte Publikum auf einen
Schlag erschöpft. Man setzte sich, man fuhr sich noch einmal durchs Haar, man räusperte sich - und die Mienen erstarrten, als legte sich die allmählich einziehende, schwere Stille auf sie.
Am schönsten war aber dann der Moment, in dem der Pianist auf der Bühne erschien! Alle Blicke hefteten sich an seine Gestalt und begleiteten sie bis zum Flügel. Dort fand die erste, flüchtige Berührung statt, eine Kontaktaufnahme, ein erstes Streicheln, ein Touchieren des Holzkörpers! Dann das Platznehmen auf dem Klavierhocker und das Justieren seiner Höhe! Und schließlich der kurze, unmerkliche Ruck der Überwindung, heraus aus der körperlichen Zurückhaltung und Erstarrung!
Von so feierlichen und ernsten Auftritten war ich noch weit entfernt, und ich zweifelte, ob ich es jemals so weit bringen würde. Dennoch mochte ich den Unterricht Walter Fornemanns sehr, es war ein Unterricht, den ich immer als sehr lebendig, ja geradezu erregend empfand. Mit der Zeit lernten wir, einander blind zu verstehen, und mit der Zeit begriff ich auch, was er mit seinen seltsam pointierten Wendungen und Sätzen meinte. Wie üblich notierte ich auch sie in meinen Schreibbüchern: Das C-Dur-Präludium des „Wohltemperierten Klaviers“ ist ein reines Rhythmus-Stück und daher etwas für Maurer und Dachdecker ... Schumanns „Von fremden Ländern und Menschern“ hört sich an, als schilderte eine ältere Frau ihren Enkeln Länder,, in denen sie selbst niemals war .,. Beethoven hatte nur selten musikalische Einfalle, er begnügte sich damit., mehrmals auf dieselbe Taste zu schlagen ...
Das alles ging mir durch den Kopf, während ich Marietta zuhörte, die sich am ersten Satz von Bachs Italienischem Konzert zu schaffen machte. Irgendwer hatte ihr gesagt, dass dies eine bedeutende Komposition sei, doch niemand hatte ihr erklärt, warum das so war. Was von einem solchen Miss Verhältnis übrig blieb, war ein im Leeren rotierender Fleiß und eine Hartnäckigkeit, die in keinem Verhältnis zu der sich entziehenden, verborgenen Schönheit des Stücks stand. Diese Schönheit konnte Marietta in ihrem jetzigen Alter noch nicht begreifen, nein, sie hatte einfach noch nicht die richtige Aufnahmefähigkeit für so eine Komposition! Warum aber drängte man sie dann, sie zu spielen? Warum, um Himmels willen?!
Ich bat sie, mit dem Üben aufzuhören, und fragte, wie lange sie sich bereits mit dieser Komposition beschäftigte. Fast ein halbes Jahr! Fast ein halbes Jahr übte Marietta jetzt also ein Stück, das sie keineswegs gerne spielte! Ich machte weiter und fragte sie, ob ihr bestimmte Passagen dieses Stück besonders gefielen, ob es also nach ihrer Meinung besonders schöne Stellen in diesem Stück gebe.
Marietta schaute mich an und schüttelte den Kopf, nein, diese schönen Stellen gebe es nicht, das Stück sei schön, nicht aber bestimmte Stellen! Vielleicht habe sie aber doch eine Lieblingsstelle, eine Stelle vielleicht, die sie besonders gern spiele? Nein, die habe sie nicht, ihr gefalle eben das ganze Stück, eine Lieblingsstelle gebe es nicht.
Soll ich Dir meine eigene Lieblingsstelle vorspielen?, fragte ich, doch Marietta schaute mich an, als redete ich in einer fremden, unverständlichen Sprache. Ich spiele Dir eine meiner Lieblingsstellen vor, sagte ich weiter und setzte mich an den Flügel. Hör bitte genau zu!
Manchmal hatte auch Walter Fornemann mich von meinem Übungsplatz an seinem Flügel verdrängt. Er hatte selbst Platz genommen und eine bestimmte Passage eines Stückes gespielt, doch dabei war es meist nicht geblieben. Gute Pianisten erkennt man daran, dass sie einen Flügel von Weitem wittern und sofort bemerken, TPO er sich im jeweiligen Raum befindet ... Gute Pianisten erkennt man daran, dass sie die Anziehungskraft des Instruments wie einen Magneten spüren ... Gute Pianisten erkennt man daran, dass sie sich nicht leicht von einem Flügel lösen ... Gute Pianisten erkennt man an ihrer zeitlich grenzenlosen Hingabe an das Instrument ...
Der Tee, das Gebäck, ein paar leise, murmelnde Stimmen im Hintergrund. Johannes, hör genau zu!
Walter Fornemann hatte schließlich einen Plan entwickelt, wie er sich meine künftige Entwicklung vorstellte. Nach der Volksschule sollte ich ein Musik-Internat im Süden Deutschlands besuchen. Dieses Internat wurde von Zisterzienser-Mönchen geleitet, die angeblich in solchen Dingen die besten und unbestechlichsten Lehrer waren. In so einer Anstalt wird der Junge nicht eitel!
Einmal im Monat sollte ich nach Köln kommen, wo ich von Walter Fornemann einen Nachmittag lang weiter unterrichtet wurde. Wenn ich etwa vierzehn Jahre
alt war, konnte festgestellt und exakt vorausgesagt werden, ob mein Talent, mein Fleiß und meine technischen Fertigkeiten ausreichten, um eine pianistische Laufbahn einzuschlagen.
War dies nicht der Fall, würde ich statt des Internats sofort wieder ein normales Kölner Gymnasium besuchen. Flüssig und korrekt sprechen wird Johannes vielleicht nie, aber das macht nichts, alle guten Pianisten sind leicht behindert. Wenn er wirklich ein guter Pianist wird, braucht er den Mund sowieso nicht aufzumachen. Auf die Bühne, eine Verbeugung, brillantes Spiel, und wieder eine Verbeugung! Im Grunde ist das Klavierspiel für einen wie 'Johannes doch geradezu ideal...
Nein, Marietta verstand nicht, warum die Stelle, die ich gerade vorgespielt hatte, meine Lieblingsstelle war. Auf meine Nachfrage hin erklärte sie, dass diese Stelle doch gar nichts Besonderes sei, sondern einfach eine Stelle wie viele andere auch. Ich fragte sie, ob sie vielleicht einen Lieblingskomponisten habe. Nein, den hatte sie auch nicht.
Ich wollte nicht sofort wieder aufstehen, ich wollte mich nicht von Mariettas Flügel lösen. Soll ich Dir etwas anderes vorspielen?, fragte ich, etwas, das mir besonders gut gefällt? Marietta schaute mich wieder sehr ernst an, als fiele ihr einfach keine Antwort ein. Dann aber sagte sie: Spielen Sie doch einmal ein Stück, das gar keinen Komponisten hat! Ich zögerte. Ein Stück, das gar keinen Komponisten hatte? Was meinte sie denn? Vielleicht meinte sie, dass ich keine klassische Musik spielen sollte, sondern einfach ein Stück, wie man es auf den Straßen und Plätzen zu hören bekam. Ein anonymes Stück, ein Stück purer Musik, ohne Bühne, ohne Glanzlichter.
Das ist ein guter Vorschlag, Marietta, sagte ich, das ist ein sehr guter Vorschlag. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich einen Moment. Dann aber waren die Noten da und das leise Summen und eine heimlich in einem See badende Frau und das Sonnenlicht eines Abends auf dem Land ..., und während ich spielte, verschwanden diese schönen Bilder allmählich, und ich befand mich in jenem lang gestreckten, dunklen Flur einer Kölner Mietwohnung, in der ich dieses Chanson zum ersten Mal und dann immer wieder gehört hatte. Meine Mutter war in der Küche und ging dort auf und ab, meine Mutter hörte ihr Lieblingschanson und kochte.

#28 
regrem патриот23.04.14 17:53
NEW 23.04.14 17:53 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:16 (regrem)

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WALTER FORNEMANNS Plan für meine weitere Zukunft war eine Zeit lang in unserer Familie ein beinahe tägliches Gesprächsthema. Vor allem meinem Vater leuchteten Fornemanns Vorschläge ein, und da er nicht gern nur rein theoretisch über sie nachdachte, reisten wir zu dritt nach Süddeutschland und schauten uns dort das Musik-Internat an, das Fornemann für mich ausgesucht hatte und das er für eines der besten in Deutschland hielt.
Das Internat war in einem großen Klosterbezirk mit Klosterkirche, Klostergarten und barockem Klosterbau untergebracht und wurde in der Tat von Zisterzienser-Mönchen geleitet. Der zuständige Abt, der auch gleichzeitig der Direktor des Internats war, empfing uns kurz vor Mittag in seinen Privaträumen und hielt einen etwa halbstündigen, erstaunlich nüchternen Vortrag, in dem mehrfach davon die Rede war, dass an dieser Schule nur die Besten der Besten willkommen seien, dem einmal Aufgenommenen aber dafür auch alle Fürsorge und Aufmerksamkeit der Lehrenden gelte.
Meine Eltern waren nach diesem Vortrag eigenartig stumm, Mutter sagte beinahe gar nichts, sondern bat nur darum, sich den sonst unzugänglichen Kreuzgang einmal anschauen zu dürfen, und Vater informierte sich derart sachlich über die monatlichen Zahlungen, die Unterrichtspläne und die jährlichen Ferien, als wollte er nicht seinen einzigen Sohn in diesem Internat unterbringen, sondern Material für eine Dokumentation sammeln.
Ich selbst erlebte diese Stunden in einer starken Anspannung, ja ich war sehr nervös, zeigte diese Nervosität aber nicht, sondern ging still und wie abwesend hinter den Eltern her. Ein jüngerer Mönch führte uns in die Kirche und später auch in den Kreuzgang, man zeigte uns das Refektorium, die Bibliothek und die Schulräume, eigentlich machte alles einen beeindruckend soliden und weiträumigen Eindruck, und doch benahmen wir drei uns etwas seltsam, als wollten wir uns von dem, was wir sahen, auf keinen Fall allzu sehr mitreißen lassen.
Vater war es dann, der dem Abt kurz vor unserer Verabschiedung ganz unerwartet den Vorschlag machte, mich ein Stück vorspielen zu lassen, anscheinend wollte er dem Abt noch eine Andeutung darüber entlocken, ob meine Bewerbung überhaupt Chancen hatte. Der Abt lehnte diesen Vorschlag sofort ab, nein, darauf könne er nicht eingehen, solche Vorab -Prüfungen würden schon allein deshalb nicht durchgeführt, weil sonst mit einem wahren Ansturm von Eltern zu rechnen sei, die ihr Kind ebenfalls einmal testen lassen wollten.
Erst nach diesen ablehnenden Worten des Abts schaltete sich meine Mutter in das Gespräch ein, indem sie dem Abt erklärte, dass sie noch einige persönliche und eher private Fragen habe und darum bitte, diese Fragen kurz mit ihm allein besprechen zu dürfen. Weder Vater noch ich ahnten, was sie meinte, wir sagten zu ihren dunklen Sätzen aber weiter nichts, sondern warteten noch eine Weile in dem Klosterhof des Kreuzgangs, bis Mutter ihre Unterredung mit dem Abt beendet hatte.
Als sie wieder mit ihm erschien, hatte er seine Einstellung zu uns merklich verändert, er wirkte interessierter, ja geradezu passioniert, und er erklärte zu unserem Erstaunen, dass er eine Ausnahme machen werde und ich vor dem Abschied noch ein von mir ausgewähltes Stück spielen dürfe.
Seine Worte erinnerten mich an unsere erste Begegnung mit Walter Fornemann, damals hatte Mutter es mit viel Geschick bereits einmal geschafft, dass ich jemandem, der dies eigentlich gar nicht wollte, vorspielen durfte. Was aber hatte sie jetzt dem Abt erzählt? Mit Ausführungen über die besonderen Schönheiten der
französischen Musik konnte sie ihn doch nicht überzeugt haben! Was also war es gewesen?
Ich habe in meinem Leben immer wieder erlebt, dass Mutter andere Menschen auch in nur sehr kurzen Gesprächen von etwas überzeugen konnte. Ihre starke Wirkung war zum einen sicher eine Folge jenes ruhigen und melodiösen Tons, von dem ich schon erzählt habe. Jeder, der diesen Ton hörte, wurde zum Zuhören gezwungen, aber er tat es gern, als folgte er einer Verlockung.
Daneben bestand Mutters Wirkung wohl aber auch darin, dass sie in ein Gespräch immer wieder sehr grundsätzliche Sätze einstreute, die einen aufhorchen, nachdenken und innehalten ließen. Sie benutzte nie zu viele solcher Sätze, es waren höchstens zwei oder drei, doch der Zuhörer gewann oft den Eindruck, dass er gefordert oder gefragt sei.
Mutters stärkste Waffe aber waren kurze Mitteilungen über ihre Vergangenheit, die sie jedoch nur als Andeutungen in ein Gespräch einbrachte. Solchen Andeutungen konnte man sich nicht entziehen, sie hinterließen Rat- und Hilflosigkeit, und sie führten fast immer dazu, dass der Gesprächspartner ihr auf irgendeine Weise beistehen und helfen wollte.
Ich vermute, dass sie gegenüber dem Abt zu allen drei Hilfsmitteln gegriffen hat. Statt Kloster und Internat wie eigentlich vorgesehen nun zu verlassen, begleiteten wir ihn jedenfalls noch einmal zurück in die langen Fluchten der auffallend stillen Gebäude. Wo befanden sich eigentlich die dreihundert Schüler, die aus allen Gegenden Deutschlands hier hergekommen waren, um einmal gute Musiker zu werden? Nichts war von ihnen zu hören oder zu sehen, draußen, auf dem weiten Hof vor dem großen Klostergebäude, schritt nur manchmal ein Mönch oder ein schwarz gekleideter Geistlicher über den knirschenden Kies und verschwand in irgendeiner Pforte.
Als wir den Musiksaal des Internatsgebäudes erreicht hatten und der Abt noch dabei war, die Tür aufzuschließen, hörte ich meine Mutter flüstern: Kein Bach! Kein Mozart! Kein Beethoven! Ich erschrak einen Moment, weil ich dieses Diktat überhaupt nicht verstand. Warum denn keine Stücke dieser Komponisten? Und welche denn sonst?
Ich betrat den Musiksaal als Letzter, ich war etwas durcheinander, als Mutter mich zurückhielt und erneut flüsterte: Spiel die große C-Dur-Fantasie! Spiel den Anfang der großen C-Dur-Fantasie! Ich wusste jetzt zwar sofort, was sie meinte, begriff jedoch immer noch nicht, warum ich im Musiksaal dieses Internats ausgerechnet Robert Schumanns große Fantasie in C-Dur spielen sollte. Mutter selbst hatte mich das Stück nämlich noch nie spielen hören, und Vater hatte ich im Verdacht, dieses Stück überhaupt nicht zu kennen. Warum also gerade dieses Stück?
Erst später an diesem Tag, als wir bereits wieder im Zug saßen und zurück nach Köln fuhren, wurde das Rätsel gelöst, denn auf mein Nachfragen hin erklärte mir meine Mutter, dass Walter Fornemann vor wenigen Wochen behauptet habe, lange Zeit habe er keinen Schüler die große C-Dur-Fantasie von Robert Schumann so gut spielen hören wie mich.
Dass Walter Fornemann so etwas in vollem Ernst behauptet hatte, galt als ein starkes Stück, denn Walter Fornemann war niemand, der sein Lob besonders freigebig verteilte. Mir zum Beispiel hatte er davon kein Wort gesagt, und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass ich ausgerechnet diese Komposition bereits so gut beherrschte, dass der Zeitpunkt für ein öffentliches Vorspiel gekommen wäre.
Was ich dagegen wusste, war, dass ich dieses Stück anders spielte als andere Stücke, ja dass es im Grunde sogar kein einziges Klavierstück gab, das ich so spielte wie dieses. Diese Besonderheit hatte damit zu tun, dass die C-Dur-Fantasie meine inneren Bilder und damit auch meine Gefühle besonders stark ansprach und dass ich die Bilder, die ich mit diesen Klängen verband, mit unserer Familienphantasie und damit mit unserem Domizil auf der ländlichen Höhe in Zusammenhang brachte.
Der stürmische, leidenschaftliche Beginn! Die Schläge der rechten Hand zu den rollenden Wirbeln der Linken! ... - und schon stand ich allein auf der Höhe des Hügels und schaute in die weite Umgebung, an deren Horizont blasse Wolken entlang zogen ...
Vielleicht war es dieser geheime Zauber gewesen, der mein Vorspiel so besonders hatte erscheinen lassen, jedenfalls hatte der Abt mich schon bald unterbrochen und meinen Eltern im Flüsterton mitgeteilt, dass er sich eine Ablehnung durch die Aufnahme-Kommission der Lehrenden in meinem Fall nicht vorstellen könne.
Während unserer Rückfahrt im Zug sorgte diese Reaktion aber keineswegs für ungetrübte Freude, vielmehr spürten wir die Schwere der Entscheidung und waren uns noch bei der Ankunft in der Nacht unsicher, wie wir handeln sollten.
Später habe ich die geheimen Signale dieses für mein Leben wichtigen Tages immer als ein schlechtes Omen verstanden. Dass ich mit der C-Dur-Fantasie Schumanns einen so starken Eindruck hinterlassen hatte, hatte uns alle etwas betört, gleichzeitig aber auch verhindert, dass wir dem eigentlichen Hintergrund dieses kleinen Erfolges auf den Grund gegangen waren.
Die C-Dur-Fantasie war in meinen Augen nämlich damals eine große Erzählung, die nicht mit anderen Musikstücken und Erzählungen zu vergleichen war, sondern ausschließlich mit meinem eigenen Leben zu tun hatte. Ich kannte keine andere Komposition, die solche Verbindungen herstellte, wie ich überhaupt keinen anderen Komponisten neben Robert Schumann kannte, der meine eigenen Bilder und Erlebnisse mit seiner Musik derart berührte und traf. Seit ich begonnen hatte, Schumann zu spielen, war mir vom ersten Moment an klar gewesen, dass er mein Lieblingskomponist war, und nach einer Weile war meine Anhänglichkeit sogar so weit gegangen, dass ich ernsthaft glaubte, ihm ähnlich zu sehen.
Seltsam war nur, dass ich bisher niemandem von dieser besonderen Zuneigung erzählt hatte. Fornemann hatte ich nichts gesagt, weil er auch Schumann bereits einmal in seine Lästereien mit einbezogen hatte, und meiner Mutter hatte ich meine Schumann-Sympathien verschwiegen, weil die Zuneigung noch zu frisch war und ich noch nicht die richtigen Worte dafür fand.
Ausgerechnet diese Zurückhaltung war nun aber der Grund dafür gewesen, dass meine Eltern und wohl auch der Abt mein Vorspiel falsch eingeschätzt hatten. Sie hatten nicht ahnen oder gar wissen können, dass ich während dieses Vorspiels mit nichts anderem beschäftigt war als mit meinen Geschichten sowie den suggestiven Bildern der Vergangenheit, und dass hinter diesen geheimen Verbindungen nichts anderes steckte als die tiefe Sehnsucht, weiter mit den Eltern zusammen sein und leben zu dürfen.
Gerade weil Schumanns Kompositionen diese Sehnsucht beinahe ununterbrochen ansprachen, liebte ich sie also, es war jedes Mal, als entrückten sie mich in lauter Kinderszenen und erzählten von meinen einsamen Stunden in der Kölner Wohnung, von den Stunden allein mit der Mutter, von der Ankunft des Vaters am Nachmittag, vom stillen Spielen am Rhein, aber auch von der morgendlichen Begeisterung auf dem Land, von den Spaziergängen zwischen mannshohen Maisstauden und Kornähren und von der Begleitung durch den Vater auf Wegen, die nur uns gehörten.
Das alles aber konnten meine Eltern und der Abt damals nicht ahnen. Sie hörten ausschließlich brillant gespielte Musik, während ich selbst aus diesem Spiel vor allem meine Sehnsucht nach den Orten meiner Kindheit heraushörte. Dieser starken Sehnsucht hätte ich vertrauen und von ihr hätte ich unbedingt sprechen müssen, doch genau das tat ich nicht. Ich blieb still und wartete darauf, wie meine Eltern sich entscheiden würden, während meine Eltern von meinem ersten Schumann-Auftritt derart überrascht und wohl auch verführt waren, dass sie diesen Auftritt der neuen Umgebung und der angeblich besonderen Aura des Klostergeländes zuschrieben.
Niemals habe ich den Jungen zuvor so gut spielen hören, soll mein Vater nach diesem Auftritt heimlich zu meiner Mutter gesagt haben, und meine Mutter soll sich beim späteren Durchqueren des Hofes vor dem Kloster bekreuzigt haben, als hätte der gute Geist des Ortes dazu beigetragen, dass ich so glänzend gespielt hatte.
Heute frage ich mich, ob damals wirklich niemand, selbst nicht der Abt, bemerkte, dass mein Schumann-Spiel überhaupt nicht in dieses Kloster und sein Internat passte. Man hätte es hören und sehen müssen, ja man hätte von der ersten Sekunde meines Spiels an begreifen müssen, dass man einen Jungen, der derart Schumann spielte, nicht Hunderte von Kilometern von seinem bisherigen Zuhause entfernt in ein Internat stecken konnte, in dem Schumanns C-Dur-Fantasie ein beliebiges Stück unter anderen Übungsstücken war.
An jenem denkwürdigen Tag aber spürte und empfand das alles wohl keiner. Wir verließen das Internat zu dritt mit der Gewissheit, dass man mich aufnehmen würde, und seit diesem Zeitpunkt arbeitete diese Idee noch heftiger und aufdringlicher als zuvor in unseren Köpfen, ohne dass wir hätten ahnen können, dass genau
diese Idee und dieser Plan es waren, die mein Leben von Grund auf gefährden und alle bisherigen Errungenschaften wieder zum Einstürzen bringen würden ...
Vielleicht aber hätten wir uns ja noch besonnen und anders entschieden, wenn damals nicht plötzlich auch von weiteren Veränderungen die Rede gewesen wäre. Wir reisten nun schon eine ganze Weile zwischen Köln und dem Land hin und her, in Köln zahlten wir Miete, doch auf dem Land bewohnten wir inzwischen das kleine Einfamilienhaus auf der Höhe, um dessen Gärten sich meine Mutter mit besonderer Hingabe kümmerte.
Als sie hörte, dass in der ländlichen Ortsbücherei, in der sie ihren Beruf als Bibliothekarin erlernt hatte, die Stelle der Leiterin neu besetzt werden sollte, spielte sie sofort mit dem Gedanken, sich zu bewerben. Eine Weile sprach sie von der sich plötzlich eröffnenden Chance, genau dort wieder zu arbeiten, wo sie als junge Frau gearbeitet hatte, sogar mit einer Freude, als wäre unsere endgültige Übersiedlung aufs Land bereits beschlossene Sache.
Vielleicht waren es Mutters Schwung und ihre damit verbundene gute Laune, die auch Vater über seine Arbeit nachdenken ließen. Warum machte er sich nicht auf dem Land selbständig und eröffnete dort sein eigenes Büro? Im Grunde hatte er das bereits vor dem Krieg tun wollen, es sich aber in jungen Jahren wegen mangelnder Berufserfahrung noch nicht zu tun getraut. Jetzt aber war anscheinend der Zeitpunkt dafür gekommen, und diesen Zeitpunkt galt es zu nutzen.
Meine Eltern spürten das Verlockende all dieser neuen Perspektiven, und die Gespräche darüber in unserer Kölner Küche führten regelrecht zu einer Aufbruchsstimmung. Nur ich konnte sie nicht recht genießen, weil ich unsicher war, ob die Einschulung in ein Internat auch für mich eine Verbesserung darstellte. Dass ich jedoch auf dem Land kein Gymnasium besuchen konnte, das stand fest, denn auf dem Land gab es kein Gymnasium mit einer besonderen Förderung musisch begabter Schüler.
In den Planungen und Gedanken der Familie lief also alles immer entschiedener auf den endgültigen Umzug aufs Land und auf ein neues Berufsleben meiner Eltern zu. Ich sah meine Mutter bereits vor mir, wie sie jeden Morgen zu der Bücherei direkt gegenüber der alten Pfarrkirche aufbrechen würde, wo noch immer ein Jugendfoto von ihr neben der Eingangstür hing, und ich konnte mir auch meinen Vater gut vorstellen, wie er am Morgen mit seinen rot-weißen Vermessungsstäben und einem Theodolit loszog, um für die Bauern in der Umgebung Grundstücke und Felder zu vermessen.
Während ich mir das alles jedoch vorstellte, spürte ich, dass ich in den elterlichen Planungen nicht mehr so vorkam wie früher. Früher hatte man alles an meinem Befinden und dem Befinden meiner Mutter ausgerichtet, jetzt aber, wo es uns besser ging, spielte das alles kaum noch eine Rolle. Aus unserem Leben zu dritt schien jedenfalls auf einmal eher ein Leben zu zweit zu werden, ja, ich hatte wirklich den Eindruck, dass meine Eltern dabei waren, sich von mir zu entfernen.
Natürlich sagte ich so etwas nie, ich konnte so etwas nicht sagen, denn selbst in späteren Jahren habe ich es nur sehr selten und dann auch nur gegen die größten inneren Widerstände fertiggebracht, anderen von meinen Empfindungen und Gefühlen zu erzählen. Für all diese Empfindungen und Gefühle hatte ich keine Worte, denn die Worte, die ich so mühsam gelernt und dann miteinander verbunden hatte, bezogen sich noch immer auf die direkt zugänglichen, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände. Alles, was darüber hinausging, gehörte für mich in das Reich des Ungefähren und war daher schwer zu benennen und erst recht nicht zu beschreiben.
Trotz der anhaltenden Sprachlosigkeit in diesen Dingen spürte ich aber dennoch genau, welche Zukunft sich für mich abzeichnete. Ich sah mich auf mich selbst gestellt und weitgehend allein, ich sah einen Jungen, den man in einem Kloster unterbrachte, damit er von dort aus ohne weitere Ablenkungen den direkten Weg in den pianistischen Himmel fand. Und ich sah ein Elternpaar, das nun ein vor mir verborgenes Leben in der Ferne führen würde, mit lauter neuen Interessen und Beschäftigungen, die ich vielleicht nicht einmal kennenlernen würde.
Was aber sollte ich tun? Das Klavierspiel aufzugeben, war unmöglich. Mit dem üblichen Klavierunterricht weiterzumachen, war halbherzig. Nein, es war schon richtig, ich gehörte nun auf eine strenge und auf mein jetziges Können hin zugeschnittene Schule, die genau dieses Können förderte und mir den zeitraubenden Umgang mit vielen anderen Lernstoffen ersparte. Was ich an solchen Lernstoffen brauchte, das verschaffte ich mir durch die Bücher und meine Lektüren, das sogenannte Grundwissen ergab sich dann schon von allein. In früheren Jahren hatte ich oft von einer Schule geträumt, in der die Musik die wichtigste Rolle spielte, warum aber bekam ich es jetzt, wo man mich genau auf eine solche Schule schicken wollte, mit der Angst zu tun?
Ach, ich wusste es doch genau und konnte es doch mit keiner Silbe sagen: Ich wollte mich um keinen Preis von den Eltern trennen. Bis zum damaligen Zeitpunkt meines Lebens waren sie mir Freunde, Vertraute, Spielkameraden, einfach alles gewesen. Ich hatte zwar inzwischen gelernt, auch mit anderen Jungen auszukommen, mit ihnen zu spielen und mit ihnen etwas zu unternehmen. All diese Beschäftigungen aber reichten doch nicht im Geringsten an das Zusammensein mit meinen Eltern heran. Wie sollte das denn aussehen, ein Tag und eine Nacht ohne sie? Wie sollte denn überhaupt ein Morgen beginnen ohne die Stimme meiner Mutter, und wie wäre es abends, wenn ich meinen Vater nicht begrüßen konnte, wenn er von der Arbeit nach Hause kam?
Schon allein bei der bloßen Vorstellung eines Lebens ohne Eltern geriet ich in leise Panik, warum begriff das denn niemand, und warum behaupteten alle, mit denen über unser neues Leben gesprochen wurde, der Junge könne sich wirklich freuen, eine so ideale Ausbildung zu bekommen. War eine Ausbildung ohne die Gegenwart meiner Eltern wirklich ideal? Und was war das Wort ideal für ein tückisches und böses Wort, wenn man mit ihm derart leicht die Ängste eines Kindes überdecken konnte?

#29 
regrem патриот23.04.14 17:54
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DER TAG, an dem meine Eltern mich ins Internat brachten, erinnerte mich an den ersten Tag in der Volksschule, nur war alles um mich herum etwas größer, pompöser, feierlicher und daher auch ernster. Die Schüler, für die an diesem Tag ein neuer Lebensabschnitt begann, kamen aus ganz Deutschland, aus Österreich und der Schweiz, und man sah ihnen an, dass ihre Eltern sich um sie gekümmert hatten. Die meisten trugen eine auffällig modische und auf den ersten Blick teure Kleidung und wirkten daher schon in diesem frühen Alter leicht professionell. Viele von ihnen hatten ähnlich wie ich bereits einige Wettbewerbe gewonnen und ließen erkennen, dass sie über die Anfangsgründe der Musik weit hinaus und längst auf dem Karriereweg waren.
Bevor der eigentliche Unterricht begann, kamen alle in der großen Aula des Internats zusammen. Der Abt hielt eine Ansprache, das Schulorchester spielte, und einige hochtalentierte, ältere Schüler glänzten mit derart gelungenen Auftritten, dass die Neuankömmlinge gleich um eine Spur ruhiger und bescheidener wurden.
Ich schaute mir einige von ihnen genauer an und stellte mir vor, dass jeder von ihnen seit seiner Kindheit mit einem bestimmten Instrument verwachsen war. Im Grunde waren es keine normalen Schüler, die hier Mathematik oder Deutsch, Gemeinschaftskunde oder Biologie lernen wollten, es handelte sich vielmehr um lauter Jungen, die an nichts anderes dachten als daran, ihrem Instrument immer perfektere Töne und Klänge zu entlocken. Die Schwierigkeitsgrade steigern! Eine Komposition noch schneller und virtuoser spielen! Den Konkurrenten mit Stücken überraschen, die er noch nicht im Repertoire hatte! All das war die Hauptsache, der gegenüber alle anderen Lerninhalte anscheinend als nettes Beiwerk empfunden wurden. Die Jungen hier sind ganz auf die Musik konzentriert, auf die Musik, und nur darauf..., hatte der Abt während unserer ersten Begegnung gesagt.
Dieser Satz hatte im Kopf meiner Eltern wie kein anderer gezündet. Wahrscheinlich stellten sie sich vor, dass ich nach wenigen Monaten wie eine Rakete abheben und den von Walter Fornemann anvisierten pianistischen Himmel schon bald als kleiner Satellit durchkreisen würde. Ich sah, dass sie stolz waren, Mutter auf ihre begeisterte, Vater auf eher zurückhaltende Art.
Doch als ich sie später vom ersten Stock des Hauptgebäudes aus beobachtete, wie sie zu zweit hinüber zu der kleinen Bushaltestelle gingen, wären mir fast die Tränen gekommen. Da ging das Paar, mit dem zusammen ich bisher jeden Tag verbracht hatte, da entfernte es sich von mir, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen.
Es regnete, und natürlich hatten die beiden keinen Schirm dabei. Mutter hatte sich bei Vater eingehängt, und sie gingen beide mit etwas hochgezogenen Schultern. Gerade hatten sie sich von dem Menschen getrennt, der nach all den gemeinsam erlebten Katastrophen als Einziger noch übrig geblieben war. Bestimmt war es ihnen nicht leichtgefallen, so etwas zu tun, aber keiner von beiden hatte je darüber gesprochen, und auch in den letzten Stunden unseres gemeinsamen Zusammenseins hatte ich bei keinem von ihnen eine stärkere Rührung wahrgenommen. Wir drei hatten den Abschied inmitten des Trubels nach der Willkommensfeier wahrhaftig hinter uns gebracht, ohne eine Spur von Schwäche zu zeigen.
Später sah ich sie dann noch einmal, wie sie noch immer an der Haltestelle warteten, während alle anderen Eltern längst in ihren Fahrzeugen in alle Richtungen davongebraust waren. Einen kurzen Moment regte sich in mir die Erinnerung an den Beginn der Volksschulzeit, als Mutter und ich es einfach nicht fertiggebracht hatten, uns zu trennen. Jetzt waren wir über so etwas anscheinend hinweg, aber es gelang mir nicht, diese Entwicklung als einen Fortschritt zu betrachten. Vater hatte den Kragen seines Mantels hochgeschlagen, und Mutter stand in einem ihrer schönen langen Mäntel da wie eine Frau, die man sich in einem Landbus nicht vorstellen konnte.
Ich konnte nicht länger hinschauen, dieses Bild war ja beinahe ..., verdammt noch mal, wie sagte man denn? Kurze Zeit später entdeckte ich in einem Text ein Wort, das ich noch nicht kannte, und wusste sofort, dass es genau die Empfindung bezeichnete, die ich während des letzten Blicks auf meine im fernen Regen vor einer Bushaltestelle stehenden Eltern gehabt hatte: Meine Empfindung war herzzerreißend gewesen, ja genau, ich hatte eine herzzerreißende Empfindung gehabt ...
In den ersten Tagen und Wochen des Internatslebens wurde ich das Herzzerreißende nicht los, es war wie ein
Fieber, das mich jeden Tag in nicht vorhersehbaren Momenten befiel und lahmte. Irgendeine Kleinigkeit genügte bereits, um meine Sehnsucht nach Köln und unserem Zuhause auszulösen, manchmal war es ein Geruch, dann eine Geste oder eine Bemerkung, ja ich war so empfindlich, dass ich regelrecht danach suchte, wieder an etwas Vertrautes erinnert zu werden.
Denn die Entfernung von diesem Vertrauten war nichts anderes als ein schmerzlicher, gewaltiger Schock, der so groß war, dass ich ihn oft nur durch die Vorstellung, all das, was ich gerade erlebte, sei bald vorbei und sowieso nur ein böser Traum, überstand.
Dabei wurden wir Neuankömmlinge keineswegs besonders streng oder finster behandelt, im Gegenteil, jeder von uns bemerkte, dass man uns einen Bonus einräumte, indem man uns langsam und geduldig mit unserer neuen Welt vertraut machte. Es waren also nicht die Patres und die anderen Lehrer, die mir so zusetzten, es waren auch nicht die neuen Mitschüler, mit denen ich mich nach einer Weile denn doch arrangierte, nein, das alles war es nicht, es war vielmehr die gesamte Planung und das System selbst.
Über dieses System hatten sich meine Eltern, wie ich heute glaube, nicht genügend Gedanken gemacht. Sie hatten das große Ziel im Blick, nicht aber den Weg dorthin, und genau das war der entscheidende Fehler, den man erst später, als es längst viel zu spät war, bemerkte. Um eine Vorstellung von diesem Weg zu erhalten, hätten meine Eltern in Gedanken den normalen Tagesablauf eines Schülers durchspielen und sich danach auch den Ablauf einer Woche vorstellen müssen. Sie hätten sich dabei bis ins Einzelne zu vergegenwärtigen gehabt, was ich Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche an genau welchen Orten zu tun hatte. Dann hätten sie sich fragen müssen, ob eine solche Planung gut und wirklich ideal für mich war.
Mit Sicherheit hätten sie auf diese Weise nicht genau vorhersehen können, was dann später wirklich geschah, aber sie hätten doch sofort gewusst, dass sie mich in ein Leben verabschiedet hatten, das nicht das richtige für mich war, ja in dem ich mich von Tag zu Tag in eine nicht beabsichtigte Richtung verändern würde.
Ein besonders unangenehmer Bestandteil dieses Lebens war die dauernde Anwesenheit der Mitschüler in meiner unmittelbaren Umgebung. Dabei störte ich mich nicht an den besonderen Macken und Eigenheiten bestimmter Mitschüler, nein, es störte mich generell, dass ich den ganzen Tag von anderen Menschen umgeben und beinahe keine einzige Minute allein war.
Es begann schon damit, dass etwa fünfzig Schüler in einem großen Schlafsaal schliefen, Bett neben Bett. Jeden Morgen begegnete man nach dem frühen Aufwachen sofort einer kaum überschaubaren Zahl von Fremden, denen man dann bis zum Mittag nicht mehr entkam. Man ging zusammen ins Bad, man frühstückte zusammen, man besuchte manchmal den Gottesdienst und setzte sich dann wieder dicht nebeneinander in den Klassensaal. Die einzigen Minuten, die man bis zum Mittag allein verbringen konnte, waren die knappe, halbe Stunde
vor dem wiederum gemeinsamen Mittagessen, in der sich die meisten Schüler auf ihrem schmalen Bett im Schlafsaal aufhielten.
Nun war das ununterbrochene Zusammensein und das Dasein in einer Gemeinschaft an und für sich ja nichts Schlimmes, und es gab auch viele Schüler, denen so etwas überhaupt nichts ausmachte, weil sie sich in einer solchen Gemeinschaft wohlfühlten. Für mich aber bedeutete ein solches Leben eine Umstellung, an die ich mich die ganze Zeit meines Internat-Aufenthaltes nicht gewöhnen konnte. Über ein Jahrzehnt hatte ich mit nur wenigen Menschen ein sehr stilles Leben geführt, jetzt aber sollte ich mich darauf einstellen, vom frühen Morgen bis in die Nacht Teil einer unruhigen, nervösen und oft sehr lauten Gemeinschaft zu sein.
Hinzu kam die körperliche Präsenz der Mitschüler, die einem mit ihren Bewegungen und Aktionen viel zu nahe kamen. Auch diese Dauerpräsenz anderer Menschen um mich herum war ich nicht gewohnt, ich hatte, verglichen mit meinen Mitschülern, in einem großen Abstand zu anderen Menschen gelebt, so dass ich jedes plötzliche, unerwartete und meist noch heftige Eindringen in den unmittelbaren Raum um mich herum nur wie eine lästige und dazu noch überflüssige Störung empfand.
Dadurch aber entwickelte sich mein Aufenthalt in den Räumen des Internats und des Klosters zu einer einzigen Flucht, während der ich ununterbrochen damit beschäftigt war, Ruhezonen und andere Räume aufzutun, in denen ich es zumindest nur mit einer begrenzten Zahl von Mitschülern zu tun hatte.
Zur wichtigsten dieser Zonen entwickelte sich mit der Zeit die Klosterkirche, in der das Sprechen verboten war und in der es genaue Regeln für das Verweilen gab. Bald genügte es mir nicht mehr, nur zu den Gottesdiensten zu erscheinen, sondern ich versuchte, die Kirche so oft wie möglich aufzusuchen, um mich wenigstens für kurze Zeit in diesem stillen Raum aufzuhalten.
Besonders still war es in ihr in der Morgenfrühe, kurz vor sechs, wenn die Patres im Chorraum erschienen und den Tag mit ihren gregorianischen Wechselgesängen begannen. Wir Schüler waren nicht verpflichtet, bereits so früh aufzustehen, andererseits war der Besuch dieses frühen Choralgesanges aber auch nicht verboten. Und so saß ich jeden Morgen meist als der einzige, noch vor den anderen aus dem Schlafsaal geschlüpfte Schüler im hinteren, dunklen Bereich der Kirche, um nichts anderes zu erleben als die Stille des Raums und den mir neuen, aber mich von Anfang an bewegenden Gesang.
Dieser Gesang begann fast immer mit demselben Gebetsruf, der mich dann mein ganzes weiteres Leben lang begleitet hat und in ihm immer wieder eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Es handelte sich, wie bei den weiteren Gesängen auch, um einen Text in lateinischer Sprache, der zu einem einzigen, im weiten Kirchenschiff verebbenden und den Gesang daher nur stützenden Orgelklang gesungen wurde.
Ich weiß diesen lateinischen Text noch heute auswendig, er lautet: Deus, in adjutorium meum intende/ Domine, ad adjuvandum me festina, was auf Deutsch heißt: 0 Gott, komm mir zu Hilfe/ Herr, eile mir zu helfen.
Die starke Wirkung, die diese beiden Zeilen bei mir jedes Mal auslösten, hatte mit der Einfachheit der Worte zu tun, die in eine absolute Stille hinein gesungen wurden. Vor ihm gab es nichts anderes als diese Stille, es war die schwere Stille der tiefen Nacht, die noch immer den gesamten Gottesraum füllte und durch diese ersten Klänge erst langsam vertrieben wurde.
Daneben war der Gesang aber auch deshalb schön, weil er nicht aus einer Melodie, sondern nur aus der Wiederholung eines einzigen Tons bestand. Dieser Ton wurde sehr leise und mit einer geradezu rührenden Vorsicht gesungen, es war ein Ton, dessen Reinheit man in der Dunkelheit suchte und den man dann im weiten Raum langsam zum Schwingen brachte.
So begann der Tag nicht mit etwas Lautstarkem oder Demonstrativem, nein, ganz im Gegenteil, er begann mit der Bemühung, einen einzigen Ton zu treffen, um dann eine Weile lang auf ihn zu horchen. Der gesamte Gestus dieses Morgengebets hatte dadurch etwas von einer bescheidenen und vorsichtigen Annäherung, man trat aus dem Dunkel ins Helle, man lauschte dem ersten Morgenlaut und verneigte sich vor Gott, ohne mehr aufzubieten als einen einzigen Ton und die flüsternde Schwachheit der Stimme.
Dazu aber passte auch der zweizeilige Text, der ja im Grunde nur der etwas direktere Ausdruck all dieser Gebärden war und deshalb nicht mehr meinte als: Gott, ich beginne diesen Tag mit der Bitte um Deine Hilfe, ohne diese Hilfe werde ich ihn nicht bestehen. Herr, begleite mich durch den Tag, das ist meine erste und einzige Bitte.
Ich habe den zweizeiligen Text des Gesangs hier mit meinen eigenen Worten umschrieben, um deutlich zu machen, wie ich diesen kurzen Text damals verstand. Ich verstand ihn nämlich nicht als ein Gebet wie jedes andere auch, sondern ich bezog ihn direkt auf mich selbst. 0 Gott, komm mir zu Hilfe ..., besser hätte ich nicht bitten und beten können, Herr, eile mir zu Hilfe ..., ja, um den Beistand des Herrn betete ich, da ich dieses Beistands während des weiteren Tags dringend bedurfte.
So bot die frühe Stunde in der Klosterkirche einige der schönsten Augenblicke des Tages überhaupt. Im Winter trat man noch wie erstarrt in die scharfe Eiseskälte der Kirche, im Frühjahr und Sommer erlebte man in ihr aber die Erscheinung des Morgenlichts, das sich sehr allmählich durch die hohen Glasfenster im Chor in den Kirchenraum schob und sich von Minute zu Minute mehr im Altarraum verteilte.
Fühlte ich mich zu Beginn des Tages dort geborgen und sicher, so musste ich in seinem weiteren Verlauf nach anderen Orten Ausschau halten, wo ich dem üblichen Trubel entgehen konnte. Einer dieser Orte war die Küche, in der täglich einige Schüler bei der Vorbereitung der Mahlzeiten aushelfen mussten. Diese Mitarbeit war nicht sehr beliebt, sie galt als mühsam und langweilig, so dass ich als einer, der sich freiwillig zum Küchendienst meldete, jedes Mal zum Einsatz kam.
In der Küche befanden sich etwa zehn Personen, denen unter der Leitung des Chefkochs ganz bestimmte Aufgaben zugewiesen wurden. Die einen kümmerten sich nur um die Suppe, die anderen um das Gemüse oder den Nachtisch, während wir Schüler noch kleinteiligere Aufgaben, wie etwa das Schälen von Zwiebeln oder das Putzen von Salat, zu erledigen hatten. Wenn die Aufgaben verteilt waren, arbeiteten alle still vor sich hin, aus dem Hintergrund kam etwas Radio-Musik, mehr war jedoch nicht zu hören. Auch hier fand ich also Zeit und zumindest etwas mehr Raum als sonst während des Tages üblich, ich konnte abtauchen und meinen eigenen Gedanken nachhängen.
Der dritte Ort schließlich, den ich immer wieder aufsuchte, war die Klostergärtnerei. Auch für diese Arbeit konnten die Schüler sich freiwillig melden, und auch hier gab es meist nicht genug Freiwillige, um die viele Arbeit zu tun. Zweimal in der Woche wurde man hier mit leichten Tätigkeiten beschäftigt, man musste die frisch getriebenen Blumen und die Topfpflanzen begießen oder die Gemüsesteigen mit dem Frischgemüse hinauf in die Klosterküche tragen oder die Rollmatten aus Stroh auf den Dächern der Gewächshäuser ausrollen, um sie vor der Sonne zu schützen.
Schon allein das regelmäßige Aufsuchen dieser drei Fluchtorte sorgte für eine bestimmte Ordnung im Zeitplan einer Woche, diese Ordnung aber war noch gar nichts gegenüber den weiteren, für alle Mitschüler verbindlichen Ordnungen. Solche bis ins Kleinste ausgearbeiteten Zeiteinheiten regelten den Ablauf jedes Tages vom Aufstehen bis in die Nacht, sie gruppierten sich um den Schulunterricht am Morgen, die Mahlzeiten während des Tages und die musikalischen Übungsprogramme am Nachmittag.
Neben der halben Stunde kurz vor Mittag blieb jedem Schüler meist nur die Stunde vor dem Abendessen zur freien Verfügung. Die Stunden nach dem Abendessen bis zum Schlafengehen gegen 22 Uhr waren dagegen entweder den Hausaufgaben oder weiteren Musikproben vorbehalten. Tat sich durch einen Zufall oder eine Fehlplanung einmal eine Lücke im Tageslauf auf, so wurde sie für Sport genutzt. Sport! — gab es etwas Langweiligeres als Internats-Sport und damit einen Sport, der nur darin bestand, mit einigen Mitschülern, deren sportliche Fähigkeiten man bald bis ins Letzte kannte, immer wieder Fußball, Handball und andere Mannschaftssportarten zu spielen, die doch nur dann Spaß machen, wenn man es zumindest dann und wann einmal mit neuen und unbekannten Gegnern zu tun hat?
Das System Internat, wie ich es vorhin genannt habe, bestand also darin, die Schüler ununterbrochen so zu beschäftigen, dass ihnen kaum ein Moment für sich selbst blieb, ja selbst kleinere Pausen waren noch in die Zeitplanung eingebaut, weil man darauf hoffte, dass die Schüler sie für ein Gebet in der Kirche oder die Teilnahme an einer Vesper nutzen würden.
In ihren Grundlagen gingen diese Planungen auf die uralten Regeln des heiligen Benedikt aus dem sechsten Jahrhundert nach Christus zurück, die dem Mönchsleben in ganz Europa Form und Ordnung gegeben hatten. Mochten diese Regeln für die halbwilden Abenteurer des frühen Mittelalters richtig gewesen sein und mochten diese lebenslustigen Abenteurer dadurch erst erfahren haben, was man alles in einer Stunde, an einem Tag oder sogar in einer Woche bei geregeltem Dasein tun konnte, so waren sie doch gewiss nicht das Richtige für einen Jungen, der eigentlich nur Fortschritte im Klavierspiel machen wollte und bis zu diesem Zeitpunkt ein relativ freies Leben geführt hatte.
Bisher nämlich hatte ich die Schule nie als eine besonders lästige Pflicht empfunden, ich war am Morgen einige Stunden dort hingegangen, ich hatte am Nachmittag dann und wann ein paar Hausaufgaben gemacht, ansonsten aber war ich von weiteren Anforderungen verschont geblieben. Gerade wegen dieser Freiheiten war ich ja damals der festen Ansicht, das eigentliche Lernen finde nicht in der Schule, sondern außerhalb statt. Ein solches Lernen etwa am Flügel, auf einem Pferderücken oder mit dem Vater in der Natur brauchte man nicht zu planen, denn es ergab sich ganz leicht und einfach von selbst, wenn man dem eigenen Antrieb nur begeistert genug folgte. Bis zum Eintritt ins Internat hatte ich daher nicht einmal eine Uhr gehabt, jetzt aber führte die Empfehlung der Patres, jeder Schüler solle nach Möglichkeit den ganzen Tag eine Uhr tragen, dazu, dass ich auf der Suche nach jeder freien Minute nun auch mit einer Uhr herumlief.
Solche Minuten hatte ich früher täglich für mein Notieren und Schreiben genutzt, jetzt aber wusste ich nicht mehr, wann ich mich auch noch damit hätte beschäftigen können. Ich vernachlässigte also anfänglich meine Kladden und Schreibbücher, bemerkte aber bald, wie stark ich inzwischen doch bereits an das Schreiben gewöhnt und gebunden war. Wenn es nicht täglich stattfand, wurde ich unruhig, es war, als stauten sich die Worte, Sätze und Wendungen in meinem Kopf, und weil ich keine Methode mehr hatte, sie zu speichern, vermehrten sie sich unaufhörlich, wie Wildwuchs. Gregorianischer Gesang, Monstranz, Katakombe - wohin mit all diesen schönen Worten und wohin mit den kleinen Zeichnungen, mit deren Hilfe ich mich an sie erinnerte?
Als ich nicht mehr weiterwusste, nahm ich meine Kladden mit in die Kirche. Wann immer es möglich war, flüchtete ich mich für einen kurzen Aufenthalt in die Bänke oder sogar in einen Beichtstuhl, um dort in aller Eile zu zeichnen und zu notieren. Von Weitem mögen die schwarzen Hefte dabei ausgesehen haben wie Gebetbücher, ihre besondere Farbe war dann jedenfalls der Grund dafür, dass einer der Mönche, der mich einmal bei meiner Schreibarbeit beobachtet hatte, annahm, dass ich fromme Texte abschrieb oder sogar selbst welche erfand. Wegen meiner häufigen Kirchenbesuche und wegen meines Gebetseifers galt ich sowieso als fromm und damit als eine Ausnahme unter den Schülern. War ich fromm, war ich das wirklich? Ich sage gleich noch etwas zu diesem Thema, möchte vorerst aber nur andeuten, dass meine täglichen Kirchenbesuche und die Nähe des Klosterlebens auf mich in einer Weise abfärbten, an die wohl keiner gedacht hatte.
Darüber gleich mehr, zuvor aber - zum besseren Verständnis des Späteren - noch der Versuch eines Resumes: Warum also besuchte ich überhaupt dieses Internat und was brachte mir dieser Besuch?
Ich besuchte das Internat aus einem einzigen Grund: Ich wollte in der pianistischen Ausbildung rasch vorankommen, damit ich schon bald eine Musikhochschule besuchen und ein guter Pianist werden konnte. Anstatt mich auf dieses Ziel zu konzentrieren, verbrachte ich die Tage im Internat jedoch mit vielen kleinen Aufgaben, Pflichten und damit Ablenkungen, die mein eigentliches Ziel immer mehr in den Hintergrund treten ließen. So blieben jeden Tag kaum zwei Stunden für das Üben, von denen ich oft noch einen Großteil mit anderen Schülern und dem Einstudieren von Kammermusik verbrachte.
Gegen den Klavierunterricht war auf den ersten Blick nichts zu sagen, ich hatte einen soliden, jede Woche einmal aus München anreisenden Lehrer, der sich einen Tag lang mit sechs bis acht Klavierschülern beschäftigte, die in die erste Leistungs-Kategorie eingeordnet worden waren. Ich hätte stolz darauf sein können, dass ich unter diesen Schülern der jüngste war, doch ich dachte nicht einmal über so etwas nach, weil ich den Eindruck hatte, keine Fortschritte zu machen, sondern mich immer mehr zu verzetteln.
Dieser Eindruck entstand auch dadurch, dass ich es plötzlich mit ganz anderen Kompositionen und Komponisten zu tun bekam. An erster Stelle stand nämlich nun Bach, Bach und noch einmal Bach. Das Wohltemperierte Klavier und Die Kumt der Fuge bildeten gleichsam das meditative Zentrum des Unterrichts, um das sich die anderen Werke und Komponisten nur wie ferne Trabanten gruppierten. Ich spielte Händel, Corelli und Gluck, ich studierte die Sonaten Mozarts und Beethovens, danach aber war vorerst Schluss, als drohte von Komponisten wie Schumann, Brahms oder Liszt eine große Gefahr.
Im Grunde widmete ich mich also einer Musik, die noch in einer mehr oder weniger engen Verbindung zum Glauben und zur Religion stand, man schätzte und liebte die Werke der frühen Meister (wie etwa Monteverdi), und man untersuchte Stücke der sogenannten Geistlichen Musik, als bildeten sie bis in die Gegenwart die eigentlichen Fundamente der gesamten Musikentwicklung. Selbst die am Ende dieser Phalanx auftauchenden Komponisten wie Mozart, Haydn und Beethoven hatten anscheinend noch gebetet und den Kontakt mit Gott nicht verloren, während man sich im Falle Schumanns schon nicht mehr sicher war, ob er Musik überhaupt in irgendeiner Form mit Gott und der Religion in Verbindung gebracht hatte.
Dass ich Schumanns Stücke und die der Späteren nicht mehr spielen, sondern mich stattdessen in eine von Woche zu Woche unübersichtlicher werdende Zahl von viel älteren Kompositionen vertiefen sollte, fiel mir anfangs sehr schwer. Die Folge war, dass ich diese Kompositionen lustlos und mechanisch einstudierte, um sie möglichst schnell nicht mehr spielen zu müssen. So hetzte ich von einem Stück und einem Komponisten zum ändern, von der Technik her waren diese Sachen ja kein Problem, gerade die scheinbare Anspruchslosigkeit der Stücke aber war andererseits auch der Grund dafür, dass ich glaubte, immerzu auf der Stelle zu treten, ja letztlich immer nur ein und dasselbe Stück zu spielen.
Nun kann man sich nicht vorstellen, dass ein elf- oder zwölfjähriger Junge das alles bereits in voller Klarheit wahrnimmt, um daraus die Konsequenzen zu ziehen und vor seinen Lehrer mit den Worten Ich möchte endlich wieder Schumann spielen! zu treten.
In voller Klarheit also war mir sicher nicht bewusst, welchem Umerziehungsprogramm man mich damals unterzog, andererseits spürte ich aber, dass meine Lust am Klavierspiel merklich nachließ und ich immer häufiger das Gefühl einer starken Eintönigkeit hatte. Dabei hätte ich nicht einmal behauptet, dass mir die Stücke, die ich nun einstudierte, nicht gefielen, nein, das war es nicht, ich hatte nur den Eindruck, dass meine Lehrer es bei ihrer Auswahl mit der religiösen und meditativen Ausrichtung einfach übertrieben. Zu viel Glaube, zu viel Versenkung und Einkehr — am liebsten hätte ich es einmal klipp und klar gesagt: Es ist einfach zu viel...
Ich besuchte das Internat doch nicht, um einmal unter die musizierenden Engel eingereiht und im Himmel des Glaubens mit bedeutenden Aufgaben betreut zu werden, nein, verdammt, ich wollte ein Stern am irdischen Pianistenhimmel und damit an jenem Himmel werden, in dem Walter Fornemann angeblich für mich bereits einen Platz reserviert hatte ...
Wenn ich nun dieses Resume überblicke, komme ich von heute aus zu einem schlichten Ergebnis: Das System Internat war für mich ein einziges Zuviel an verlorener Zeit
und an menschlicher Gruppen-Präsenz! Zu viel Zeit ging mit unendlich vielen, kleinteiligen Nebentätigkeiten verloren, zu viel Zeit galt dem Einstudieren von belanglosen Klavierstücken und noch viel belangloserer Kammermusik, und zu viel Zeit verwendete ich allein schon darauf, mir im üblichen Getümmel der Tagesgeschäfte einige freie Augenblicke zu verschaffen. Und das alles ereignete sich auch noch in einem Zuviel an Menschen um mich herum, deren dauernde Gegenwart doch ebenfalls Kraft und Aufmerksamkeit kostete und manchmal geradezu erstickend wirkte!
Wie aber reagierte ich nun auf diese Verengung von Zeit und Raum? In der ersten Zeit reagierte ich instinktiv, indem ich das Klavierüben immer mehr vernachlässigte und mich nach etwas anderem umschaute. Dieses andere war das Orgelspiel, in das einige wenige begabte Klavierschüler von einem erfahrenen Organisten eingeführt wurden. Orgel üben und spielen zu dürfen, war ein großes Privileg, dieses besondere Privileg aber war nicht der Grund dafür, warum ich mich darum beworben hatte, die Orgel zu spielen.
Ein Grund war vielmehr die Möglichkeit, für das Üben die Klosterkirche aufsuchen und dort allein einige Zeit verbringen zu dürfen, und ein weiterer Grund war, dass die Stücke der frühen Meister, die auf dem Klavier nicht zur Geltung kamen, auf der Orgel erst ihren eigentlichen Klangcharakter entfalteten. Bachs Toccaten und Fugen auf der Orgel, Handels Orgelkonzerte, die Orgelstücke von Pachelbel und Buxtehude - all das zu spielen, war für einen Jungen meines Alters ein großes Ereignis, für das ich bereitwillig etwas von der Zeit für das Klavierüben dreingab.
Bald waren mein besonderer Einsatz und meine Freude an diesem Spiel dann so offenkundig, dass man mir sogar erlaubte, auf das Kammermusik-Spiel ganz zu verzichten, das Orgelspiel, hieß es, ersetze in meinem Fall die Kammermusik, ja genau, genau so dachte ich auch und war froh, endlich eine richtige Aufgabe und ein neues Ziel gefunden zu haben.
Dieses neue Ziel brachte mich nun allerdings von meinem früheren und lange Zeit ins Auge gefassten Ziel ab, so dass es nun nicht mehr allein der Pianistenhimmel war, der mir vorschwebte, sondern auch das Dasein als Organist in einer so beeindruckenden Kirche wie etwa dem Dom zu Köln.
Der Dom zu Köln und die anderen schönen Kirchen, die ich in Köln besucht hatte - nein, ich hatte sie keineswegs vergessen, sondern ich dachte im Gegenteil sehr häufig an sie. Durch meine Übersiedlung in das Internat hatte ich mich zwar äußerlich von ihnen entfernt, rückte ihnen innerlich aber immer näher.
Denn ohne dass ich die Veränderungen deutlich bemerkte oder gar begriff, begann meine sehr besondere, von der Musik geleitete und geprägte Frömmigkeit sich im Internat zu entwickeln. Diese Frömmigkeit hatte nichts mit bestimmten Glaubensinhalten zu tun, sie war auch keine blinde Hysterie oder gar Frömmelei, nein, sie wurde vielmehr zu so etwas wie einer Lebensform, die mich, ohne dass ich es, wie gesagt, deutlich bemerkte, von Tag zu Tag mehr anzog.
Dabei war natürlich von großer Bedeutung, dass ich die Vorbilder für eine solche Lebensform direkt vor Augen hatte. Es waren diejenigen Mönche, die ich besonders schätzte und häufiger beobachtete als andere und von denen ich daher bestimmte Verhaltensweisen übernahm. Einige dieser Verhaltensweisen hatten mit einem bestimmten Ernst und einer besonderen Hingabe an bestimmte Aufgaben zu tun, andere mit einer beeindruckenden Gründlichkeit, wieder andere mit einer starken Zurückhaltung, die sich in einer gewissen Scheu oder in einer Art Schamhaftigkeit ausdrückte.
Besonders dieses scheue und gleichsam schamhafte Verhalten verstand ich gut, es bestand vor allem darin, auf allzu laute, vulgäre oder penetrante Worte zu verzichten und sich überhaupt so zu verhalten, dass man nicht viel von sich preisgab. Ich hatte von anderen Orden gehört, die ihren Mitgliedern vorschrieben, wenig oder gar nicht zu sprechen, diese Nachricht hatte mich elektrisiert und mir bewiesen, dass ich auf dem richtigen Weg war, wenn ich mich verstärkt dem Orgelspiel widmete und das Sprechen auf das Notwendigste beschränkte.
Von dieser Entwicklung her kann man sich nun vorstellen, was mit mir geschah: Allmählich, aber mit den Wochen und Monaten immer mehr, wurde ich, ohne dass meine Umgebung diese schleichende Veränderung bemerkte, wieder zu einem meist schweigenden, ja manchmal sogar sprachlosen Kind. Ich hörte auf zu notieren, ich zog mich ganz auf mich selbst zurück, schließlich nannte man mich den Stillen.
Die Bezeichnung war gar nicht einmal böse gemeint,
sondern hatte eher den Charakter einer sachlichen Feststellung. Ich war eben der Stille, so wie es auch den Müden oder den Blassen gab. Solche Bezeichnungen erweckten den Anschein, als handelte es sich um ein paar liebenswerte Spleens oder Eigenheiten, denen man keine weitere Beachtung schenken müsse.
In meinem Fall aber war diese Nichtbeachtung ein gravierender Fehler, denn ich verwandelte mich mit den Wochen und Monaten wieder in jenes einzelgängerische und isolierte Kind zurück, das ich vor vielen Jahren einmal gewesen war. Diesem Kind hatte man die Eltern genommen, ja man hatte die Verbindung zu seinen Eltern mit Gewalt unterbrochen und zumindest zeitweilig getrennt. Was lag da näher, als dass dieses Kind sich neue Eltern suchte?
Diese Eltern waren nicht sichtbar und nicht immer dieselben, und sie waren auch keine richtigen Eltern, eher war es so, dass es jetzt eine Art großer Verwandtschaft gab, die mit dem Kind sprach und sich um es kümmerte. Manchmal sprach diese Verwandtschaft zu dem Kind direkt aus ihrem Domizil im Himmel, dann aber betete sie mit dem Kind, als befände sie sich ganz in seiner Nähe mitten in der Klosterkirche oder hoch oben auf der Orgelempore.
Die große Verwandtschaft verlangte von dem Kind einen starken Glauben und viel Gehorsam, und das Kind gehorchte, weil es keinen anderen Ausweg mehr sah.

#30 
regrem патриот23.04.14 17:55
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EINE ERSTE Unterrichtsstunde für Marietta war kein großer Erfolg. Sie hat mir etwas vorgespielt, und ich habe dieses Spiel unterbrochen; dann habe ich wiederum ihr etwas vorgespielt, und sie hat das alles mit einem freundlichen Lächeln ertragen. Am Ende waren wir beide etwas ratlos: Wie sollte es weitergehen?
Nun hatte ich ja lediglich versprochen, sie in einer Übergangsphase zu unterrichten, und mir dabei von vornherein ausgemalt, dass diese Übergangsphase nicht von allzu langer Dauer sein werde. Ich hatte aber auch versprochen, mich um einen guten Klavierlehrer zu kümmern, obwohl ich augenblicklich keine große Lust und nicht den richtigen Antrieb für diese aufwendige Suche habe.
Am einfachsten wäre es gewesen, in das Conservatorio zu gehen, dort hätte ich rasch die Adresse eines jungen Studenten bekommen, der sich gern mit Klavierunterricht etwas Geld dazuverdient hätte. Ich wollte und konnte das Conservatorio aber aus gewissen Gründen jetzt noch nicht aufsuchen, ja ich hatte sogar das dumpfe Gefühl, als wäre mir der Zugang zu diesem Gebäude versperrt. Ich möchte auf diese auf den ersten Blick kindliche Hemmung jetzt nicht näher eingehen, zu einem späteren Zeitpunkt meiner Erzählung wird wohl deutlich werden, worin die ernst zu nehmenden Ursachen dieser Hemmung bestanden.
Marietta und ihrer Mutter gegenüber befand ich mich jedenfalls in einer Klemme: Ich sollte das Mädchen unterrichten und wusste doch nicht, wie ich das tun sollte. Mich einmal in der Woche neben sie ans Klavier zu setzen, Fingersätze zu korrigieren und sonst alles beim Alten zu lassen, kam nicht in Frage. Gespräche über Lieblingskomponisten und die Schönheiten bestimmter Stellen in einem Stück zu führen, war jedoch auch nicht das Richtige.
Eine Idee wäre es gewesen, Marietta mit den Grundlagen der Harmonielehre vertraut zu machen, doch wollte nicht ausgerechnet ich es sein, der ihr solche Leistungen abverlangte und sie mit Musiktheorie quälte. Und, um ehrlich zu sein: Ich konnte mir nicht vorstellen, wie gerade dieses lebenslustige und offene Mädchen den Vorschlag aufnehmen würde, zu einem vorgegebenen Generalbass die passenden Akkorde zu suchen.
Marietta hätte mich bestimmt angeschaut, als verlangte ich von ihr etwas ganz und gar Überflüssiges, ja sogar Sinnloses. Und vielleicht hätte sie damit sogar recht gehabt, vielleicht war es wirklich überflüssig und sinnlos, ein Mädchen wie Marietta mit Harmonielehre vertraut zu machen. Obwohl die Kenntnis von Harmonielehre den Hörgenuss erheblich steigert! Obwohl die Harmonielehre viele Raffinessen und Schönheiten für einen wirklich passionierten Klavierspieler bereithält! Und obwohl die Harmonielehre mir selbst gerade in Mariettas Alter viel Freude gemacht hat!
Schluss damit! Ich war von meiner Ausbildung und meinen Neigungen her weder ein Klavier- noch ein Harmonielehre-Lehrer, das konnte ich immerhin zu meiner Ehrenrettung sagen. Was aber dann? Wie sollte ich Marietta unterrichten?
Die Fragen, die ich hier stelle, sind inzwischen rein rhetorischer Natur, denn ich habe nun wahrhaftig einige Einfalle zu diesem Thema gehabt, auf die ich geradezu stolz bin. Diese Einfalle ergaben sich dadurch, dass ich Unterrichtsstunden neben Marietta am Klavier vorerst kategorisch ausschloss. Wo und wie aber konnte ich sie denn sonst unterrichten? Ganz einfach: In der Stadt, während langer Spaziergänge, die wir gemeinsam unternehmen würden, um Rom ganz nebenbei als ein einziges großes Musikangebot kennen zulernen!
Die Idee war nicht neu, ich erinnere nur daran, dass ich selbst ja längst mit derartigen Spaziergängen begonnen hatte. Neu war nur, dass ich solche Spaziergänge nicht mehr allein unternahm, sondern von nun an zusammen mit Marietta unterwegs war.
Marietta, sagte ich also, lass uns Musik sammeln, und zwar überall, wo wir ihr begegnen! Und dann zogen wir los, nahmen ein Notenheft mit, lauschten und hörten uns um, und ich notierte, was wir gerade hörten und was Marietta gefiel. Die Melodie eines Schlagers, der Rhythmus eines Schlagzeugs, das Summen eines Walzers, der Klingklang von Glocken ... — all das sammelte ich und skizzierte es in unserem Heft, und dann notierten wir dazu, wo und wann wir den jeweiligen Musikfetzen gehört hatten.
Damit aber nicht genug, sondern noch viel mehr! Ich fragte Marietta, welche Stücke sie in den letzten Jahren gespielt hatte. Das Ergebnis war ebenso trostlos wie jämmerlich: Anscheinend hatte ihr Klavierunterricht ausschließlich aus Stücken klassischer Musik bestanden! Warum aber das? Natürlich war nichts dagegen einzuwenden, solche Musik zu üben, natürlich nicht, wohl aber war es sehr einfallslos, ja geradezu sträflich dumm, einem zwölfjährigen Mädchen ausschließlich solche Musik vorzusetzen. Längst musste es den Eindruck haben, das Klavier sei lediglich erfunden worden, um darauf Bach, Händel und Mozart zu spielen. Was für ein Unsinn! Und wer hatte sich so ein traniges Übungsprogramm ausgedacht?!
Ich kam darauf lieber nicht zu sprechen, fragte aber doch nach, ob Marietta schon einmal Jazz gehört habe. Nein, hatte sie nicht. Und andere als westeuropäische Musik, Musik aus Cuba, der Karibik oder Indien? Nein, auch an solche Musik konnte sie sich nicht erinnern. Ihre Vorstellung von Musik hatte also bisher beinahe vollständig darin bestanden, sich auf der Empore der Leipziger Thomaskirche oder in einigen klassizistischen Wohnungen der Wiener Innenstadt ein unauffälliges Sitz-Plätzchen in längst vergangenen Jahrhunderten zu verschaffen. Wir lebten inzwischen im einundzwanzigsten Jahrhundert, wenigstens das bisschen Pop-Musik, das Marietta hörte, kam aus unserer Gegenwart, mit den Stücken ihres bisherigen Klavierunterrichts jedoch hinkte sie mehr als zweihundert Jahre hinter der Entwicklung her.
Es genügte also nicht, nur mit ihr spazieren zu gehen, um hier und da eher zufällig etwas Musik aufzuschnappen, ich musste noch viel mehr tun. Und so beschaffte ich mir ein monatlich erscheinendes Veranstaltungsprogramm der Stadt Rom und suchte zusammen mit Marietta Konzerte vor allem jener Musikrichtungen und Stile heraus, die sie noch nicht kannte. Argentinischer Tango, portugiesischer Fado, äthiopischer Soul, aber auch sizilianische Trauermärsche, lateinamerikanische Revolutionslieder oder russische Mönchsgesänge - wir hörten uns das alles dann wirklich an, wobei für mich selbst von großer Bedeutung war, dass wir solche Musik auch wirklich live hörten.
Das alles wurde mit guter Klassik gemischt, mit Konzerten in den römischen Ruinen spätabends, mit Auftritten junger Pianisten in den Kellern des Viertels Trastevere oder mit Opern-Aufführungen in den Thermen an den Wochenenden, wenn wir es uns leisten konnten, bis weit nach Mitternacht draußen im Freien Musik von Verdi oder Puccini zu hören.
Meist ganz nebenbei erkundigte ich mich danach, was Marietta von all diesen Darbietungen besonders gefiel. Hatten wir etwas gefunden, suchte ich nach den entsprechenden Noten oder komponierte selbst ein kurzes Stück in der jeweiligen Musikrichtung für das Klavier. Der Unterricht wirkte dadurch locker und wie improvisiert, und doch lagen diesem Programm die vielen kleinen Skizzen und Aufzeichnungen zugrunde, die ich oft noch während der Konzerte notierte. Es waren meist nur ein paar Noten, ich konnte mich auf mein absolutes Gehör und mein Gedächtnis verlassen, und doch brauchte es einige Kenntnis und Erfahrung, um aus diesen Andeutungen kleine Stücke oder Songs zu machen.
Nach kurzer Zeit fand auch Antonia an diesem Programm ein derartiges Gefallen, dass wir uns abends schließlich immer häufiger zu dritt auf den Weg in das Zentrum machten. Antonia lenkten solche Abendunternehmungen von ihren Ehe-Problemen ab, und in Gegenwart ihres Kindes kam sie erst gar nicht auf den Gedanken, lange über ihren Mann zu sprechen. Überrascht stellte ich fest, dass sie auch ohne die Fixierung auf solche Themen existieren konnte und dass sie mit der Zeit in mir nicht mehr nur den Adressaten für ihre rasch wechselnden psychischen Stimmungen sah.
Ab und zu setzten wir uns in der tiefen Nacht, wenn Antonia ihre Tochter bereits ins Bett gebracht hatte, noch einmal für einen letzten nächtlichen Drink auf den großen Platz vor unserem Wohnhaus. Meist waren wir sehr müde und von der Musik, die wir zuvor gehört hatten, noch immer betäubt. Gerade in solchen Momenten aber gelangen uns die besten Unterhaltungen. Sie fielen uns beiden erstaunlich leicht, dabei wurden doch nur sehr knappe Sätze gewechselt, als wäre uns längst die Luft ausgegangen.
Vorgestern zum Beispiel, es war schon nach eins, sagte Antonia plötzlich sehr müde, tonlos und langsam, als wollte sie sich nicht mehr richtig anstrengen: Ich hatte seit anderthalb Jahren keinen Sex! Ich antwortete nicht, ich ließ diesen Satz einfach so stehen. Jeder Satz, den ich darauf geantwortet hätte, wäre nachts um eins wahrscheinlich ein großer Blödsinn gewesen.
Nach einer längeren Pause aber schob sie dann noch eine Frage nach, und in meinen Ohren hörte sie sich merkwürdigerweise an wie ein kurzer, lässiger Griff einer Hand in die Saiten eines Cellos: Und Sie, Johannes, wann hatten Sie das letzte Mal Sex? Ich antwortete wieder nicht, sondern schaute nur kurz auf die Uhr. Dann trank ich langsam mein Glas aus und sagte: Liebe Antonia, die ganz großen Themen besprechen wir morgen, einverstanden? Antonia war einverstanden, sie nickte, und wir ließen es in dieser Nacht dabei bewenden.
Seither bekomme ich diesen Dialog nicht mehr aus dem Kopf. Er lässt mich aber nicht nur wegen seines Themas nicht los, nein, er irritiert mich vor allem auch deshalb, weil die Frage, wann ich das letzte Mal Sex hatte, die erste Frage nach meinem Privatleben war, die Antonia mir überhaupt stellte. Sicher, sie hatte mich, seit wir uns kannten, auch einiges halbwegs Private gefragt, diese Fragen hatten eine gewisse Grenze jedoch nie überschritten. Selbst wie es mir ging oder wie ich mich fühlte oder ob ich zufrieden, glücklich, melancholisch oder euphorisch war, hatte Antonia mich niemals gefragt, während ich selbst sie doch so etwas beinahe täglich gefragt hatte und wir dann gemeinsam ihrem jeweiligen Gefühlszustand auf den Grund gegangen waren.
Jetzt, wo mir unser kurzer tiefnächtlicher Dialog wieder durch den Kopf geht, fällt mir aber erneut auf, dass es
mir mit vielen Menschen so ergeht. Kaum jemand fragt mich etwas sehr Privates oder gar Intimes, während ich mit meinen Gesprächspartnern rasch in die Untiefen ihrer Psyche gerate. Warum aber fragt mich kaum jemand? Warum nicht?!
Wenn ich es genauer bedenke, haben mich auch meine Eltern fast niemals etwas sehr Privates gefragt. Meine Mutter fragte danach grundsätzlich nicht, und mein Vater fragte mich dann und wann derart allgemein und vorsichtig, dass ich eine solche Frage meist nur noch abnicken und damit erledigen konnte. Geht es Dir gut? Aber ja doch, mir ging es gut. Kommst Du gut voran? Aber sicher, ich kam gut voran. Hast Du Freunde im Internat gefunden? jawohl, es gab ein paar Jungs, mit denen ich häufiger zusammen war als mit anderen Jungs. Macht Dir das Leben im Internat Spaß? Ja, ich war mit dem Leben im Internat sehr zufrieden.
Zu Hause also merkte man mir überhaupt nicht an, was im Internat vor sich ging. Ich sprach von den Stücken, die ich auf der Orgel übte, und meine Eltern waren derart stolz auf mein Können, dass sie dem Pfarrer unserer Pfarrei auf dem Land vorschlugen, mich einmal auf der Orgel der Dorfkirche spielen zu lassen. Wollte ich das? Machte das auch mir Spaß? Ja, es machte mir Spaß, wenn niemand außer meinen Eltern und dem Herrn Pfarrer zuhörte.
Beinahe beflissen und übereifrig war ich dabei, alle eventuellen Bedenken der Eltern beiseite zu fegen. Nein, die zeitweilige Trennung von ihnen machte mir nichts aus, ich kam inzwischen damit zurecht. Nein, die anderen Jungs gingen mit mir nicht ungerecht, sondern freundlich und aufmerksam um. Manchmal hörten sich unsere Unterhaltungen so an, als hätte ich die Antwort schon vor der Frage parat, und wahrhaftig war es ja so, ich hatte mir die Antworten auf die Fragen der Eltern längst überlegt, ich war bestens auf sie vorbereitet.
Um richtige, ernsthafte, sich Zeit lassende Fragen handelte es sich, wie gesagt, sowieso nicht. Die Fragen, die meine Eltern stellten, waren vielmehr P flicht fragen. Mit diesem Begriff hatten wir Schüler all die Fragen getauft, die wir während unserer Aufenthalte zu Hause über uns ergehen lassen mussten. Pflichtfragen brachte man hinter sich, sie hatten nichts zu bedeuten, Pflichtfragen mussten gestellt werden, um den schönen Schein des elterlichen Interesses an der Zukunft des Kindes zu erhalten.
Waren aber meine Eltern an dieser Zukunft wirklich noch so interessiert, wie sie es in meinen Kinderjahren doch einmal gewesen waren? Wenn ich jetzt manchmal für ein paar Tage nach Hause kam, hatte ich den Eindruck, dass ihr Interesse nachgelassen hatte und sie mit ihren eigenen Sorgen und Problemen beschäftigt waren. Diese Sorgen kreisten nach ihrem Umzug um Vaters neue Existenz und Mutters Arbeit in der Bibliothek. Mich wunderte, wie leicht es ihnen anscheinend gefallen war, Köln zu verlassen und unsere gemeinsame, von mir sehr geliebte Wohnung aufzugeben. Gelegentlich schien es so, als wären sie sogar erleichtert, sich von Köln getrennt zu haben, dabei hatten wir in dieser Stadt doch so viel erlebt, von dem man sich gar nicht trennen konnte.
Ich selbst jedenfalls glaubte, von Köln niemals Abschied nehmen zu können, wusste aber nicht, wie ich die Verbindung zu der einzigen Stadt, in der ich mich vollkommen zu Hause fühlte, hätte aufrechterhalten können. Meine Eltern waren mit Sack und Pack., wie Vater das nannte, aus ihr verschwunden, so dass ich irgendwann einmal allein auf dem großen, ovalen Platz stehen und zu den Fenstern jener Wohnung hinaufstarren würde, in der ich meine Kindheit verbracht hatte. Schon bei diesem Gedanken wurde mir beinahe übel, ich durfte daran nicht denken, nein, ich durfte mich auf solche Phantasien keineswegs einlassen.
Schließlich konnte man das Ganze aber auch noch von der Seite meiner Eltern her betrachten: Meine Eltern nämlich freuten sich, endlich wieder in ihrer Heimat angekommen zu sein. Auf dem Land und damit in ihren eigenen Kindheitsgegenden fühlten sie sich nach wie vor am wohlsten, hier lebten die vielen Verwandten und die Freunde, hier verging kein Tag, ohne dass man nicht mit vielen Menschen, die man liebte oder achtete, gesprochen hätte.
Bald zwei Jahrzehnte nach dem Krieg durfte das einzige noch am Leben gebliebene Kind nicht mehr die Hauptrolle spielen. Es hatte sich einzuordnen in die neuen Verhältnisse - so dachten meine Eltern wohl insgeheim und glaubten dabei fest, dass mir so etwas gelingen würde. Ich aber wusste damals noch nicht, wie ich diesen Sprung in das neue, veränderte Leben schaffen sollte. Noch war ich gehorsam und erschien nach außen hin ruhig und einverstanden mit allem, was um mich geschah. Doch ich wurde stiller und stiller, und dieser innere Rückzug dauerte so lange, bis ich mich beinahe wie von selbst zu wehren begann.

#31 
regrem патриот23.04.14 17:56
NEW 23.04.14 17:56 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:20 (regrem)

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DIE ERSTE Unregelmäßigkeit in meinem Internats-Leben ereignete sich, als mein bisher monatliches Vorspielen bei Walter Fornemann in ein halbjährliches umgewandelt worden war. Mit der Zeit hatte sich nämlich herausgestellt, dass eine Fahrt einmal im Monat nach Köln zuviel war und mir kaum etwas brachte; ich spielte Fornemann meine kirchlichen Passionsstücke, wie er sie nannte, vor, und er erteilte mir eher eine Lektion in Musikgeschichte als in pianistischer Technik.
Dass mein Repertoire nicht mehr weit über Beethoven hinausging, beschäftigte Fornemann nicht, vielmehr war er der Meinung, dass mir ein gründlicher Unterricht in früher Musik nicht schaden könne.
Unser Lehrer-Schüler-Verhältnis war zwar gut, aber auch in diesem Fall hatte ich wie im Fall meiner Eltern manchmal den Eindruck, als entfernte sich Fornemann allmählich von mir oder als wäre ich für ihn nicht mehr wie früher der helle, leuchtende Stern am Himmel seines pianistischen Schüler-Universums.
Über all diese verstörenden und für einen Jungen meines Alters schwer einzuschätzenden Erfahrungen konnte ich im Internat mit niemandem sprechen. Mich den Patres oder gar dem Abt anzuvertrauen, kam nicht in Frage, die einzige Möglichkeit hätte vielmehr darin bestanden, einen Mitschüler ins Vertrauen zu ziehen. Einen solchen Mitschüler aber, dem auch ich selbst vertraut und mit dem ich meine Erfahrungen und Erlebnisse geteilt hätte, gab es im Internat nicht. Ich kam mit meinen Klassenkameraden durchaus gut aus, aber unter ihnen war keiner, zu dem ich mich besonders hingezogen gefühlt hätte. Auch meine Mitschüler pflegten nur selten typische Zweier-Freundschaften, eher kam es vor, das s man sich zu kleinen Gruppen oder Zirkeln zusammentat. Diese Gruppen lösten sich aber ebenso rasch wieder auf, wie sie sich gebildet hatten, meist hatten sie mit bestimmten Vorhaben oder Projekten zu tun, intensivere Beziehungen zu anderen Schülern stellten sich also auch in ihnen nicht her.
So konnte ich die geheimen Ursachen meines fortschreitenden Rückzugs auf mich selbst mit niemandem besprechen. Die einzige Unterhaltung, die es noch für mich gab, bestand im Kontakt mit den Büchern, die ich meist von zu Hause mitbrachte, da ich in der Internatsbibliothek nicht die richtige Lektüre fand. Unter ihnen gab es ein Buch mit Kurzgeschichten, das seltsamerweise mein Vater, der sich sonst um meine Lektüren nicht kümmerte, mir geschenkt hatte.
Es waren Geschichten von Ernest Hemingway mit dem Titel In unserer Zeit, bei deren Lektüre ich sofort verstand, warum sie Vater so gefallen hatten. All diese Geschichten handelten nämlich auf verblüffende Weise von Erfahrungen, die Hemingway selbst in seiner Kindheit
und Jugend auf dem Land gemacht hatte. Um diese Erfahrungen zu beschreiben, hatte er sich eine Stellvertreter-Figur mit Namen Nick Adams entworfen. Nick Adams war ein Junge meines Alters, der in einigen Kurzgeschichten sogar wie ich selbst mit seinem Vater in der freien Natur unterwegs war. Vater und Sohn unterwegs - zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich es mit einer Lektüre zu tun, die ich so las, als handelte sie beinahe ausschließlich von meinem eigenen Leben.
Vor allem zwei Geschichten waren es, in die ich mich immer wieder vertiefte, sie hatten die Titel Großer doppelherziger Strom I und Großer doppelherziger Strom II und erzählten sehr detailliert von Erlebnissen des jungen Nick beim Fischen in einem ländlichen Fluss. Die Schilderungen des Lebens an diesem Fluss, besonders aber die Schilderungen der Natur-Beobachtungen des jungen Nick erinnerten mich derart stark an alles, was ich selbst an dem kleinen Flüsschen neben der großelterlichen Gastwirtschaft erlebt hatte, dass ich viele Sätze bald auswendig kannte.
Das Schöne an diesen Sätzen aber war, dass es sehr einfache, schlichte Sätze waren, ungefähr von der Art, wie ich früher selbst welche in meine Notizhefte eingetragen hatte. Nie hätte ich geglaubt, dass anerkannte und große Schriftsteller solche Sätze benutzten, umso häufiger und gieriger wiederholte ich einige von ihnen nun im Stillen. Oft stellte sich dabei die täuschende Empfindung ein, es wären meine eigenen Sätze: Der Fluss strömte klar und schnell dahin ... Ungefähr zweihundert Meter weiter unten lagen drei Baumstämme quer über den ganzen Fluss ... Oberhalb war das zurückgedämmte Wasser glatt und tief.
Die beiden schönsten Sätze aber handelten davon, dass der junge Nick von einer kleinen Brücke über dem Fluss aus eine Forelle im Wasser erkannte: Nicks Herz zog sich zusammen, als die Forelle sich bewegte. Er fühlte all die guten Gefühle. In diesen beiden Sätzen war sehr einfach, aber doch genau ausgesprochen, was ich so häufig selbst am Fluss erlebt hatte: das Sich -Zusammenziehen des Herzens, ein kurzes Luftanhalten, eine Erstarrung, einen Moment des tiefen Glücks.
Wenn ich am frühen Abend im Schlafsaal des Internats solche Sätze und Geschichten las, überfiel mich eine so starke Sehnsucht nach dem Draußen, der Vergangenheit und dem Leben auf dem Land, dass ich hinterher oft wie betäubt durch die Klosterräume streifte, um hier und da wenigstens einen Luftzug oder einen Blick durch ein Fenster auf eine brachliegende Wiese zu erhaschen. Und wenn ich dann später in der Nacht einschlafen sollte, gelang das oft nicht, weil Hemingways Geschichten mich so sehr beschäftigten und meine Phantasie derart in Bewegung hielten, dass mich eine starke Unruhe befiel.
Aus dieser Unruhe heraus entstanden denn auch zum ersten Mal jene Bilder, die mich in der Folgezeit beinahe täglich heimsuchten und mich dann jahrelang nicht losließen. Auf diesen Bildern war ich allein in einer weiten, menschenleeren Landschaft unterwegs, ich trug einen kleinen Seesack mit ein paar Utensilien und mit zwei, drei Büchern sowie einem Notizheft, und ich kehrte nachts in irgendeinem kleinen Dorf ein, wo man mir
in einem Gasthof ein Abendessen spendierte und ein Nachtlager einräumte.
Immer wieder waren es diese Bilder des Alleinseins und des dauernden Unterwegs-Seins, die mich verfolgten, es waren Bilder, die Hemingways Nick-Adams-Geschichten noch einmal erzählten und dabei in den Details beinahe mit denselben Bestandteilen auskamen. Nur war Nick Adams jetzt ein Junge, der sich danach sehnte, überall und wann immer er wollte, Klavier spielen zu dürfen. Hier und da auf seinen langen Wegen würde er eine Rast einlegen und Haltmachen, um zu üben, dann aber würde er weiterziehen, still und glücklich darüber, nicht ununterbrochen etwas tun zu müssen, das ihn vom Klavierüben abhielt.
In den kleinen Dörfern, in die er während seiner Wanderungen geriet, würde er hier und da während einer Hochzeit oder einer anderen festlichen Gelegenheit die Orgel spielen, so würde er sich etwas Reisegeld verdienen. Sonst aber würde er ein leichtes, sorgloses Leben führen, und dieses Leben wäre genau das richtige, ja im Grunde das einzig richtige Leben für einen Jungen in seinem Alter.
Während derartige Phantasien immer aufdringlicher wurden, lebte ich immer unauffälliger. Nichts von dem, was mich wirklich beschäftigte, sollte nach außen dringen. Dieser Konflikt führte mit der Zeit zu beinahe trangehaften Bewegungen, ich schlich durch die langen Flure und Korridore des Internats wie ein Heimlichtuer, ich duckte mich weg, am liebsten wäre mir gewesen, ich hätte mich ganz in Luft auflösen können. Auf Fragen reagierte ich kaum noch, ich tat meine Pflicht, fiel nirgends auf und erschrak höchstens ein wenig, wenn ein Mitschüler mir in die Quere kam: Na, Johannes, mal wieder ganz woanders?!
Ja, natürlich, ich war ganz woanders, vom frühen Morgen an war das bereits so. Die Schulstunden und das sich daran am Nachmittag anschließende Unterrichtsprogramm brachte ich regungslos hinter mich, und die einzige Freude am Tag war jener Moment, wenn ich auf der hochgelegenen Orgelempore die Orgelbank bestieg und die ersten Töne erklangen. Manchmal hielt ich sofort inne und lauschte ihnen nach, um sie dann noch einmal langsamer zwei- bis dreimal zu wiederholen. Auch die Musik sollte mir keine Tempi mehr vorschreiben, auch sie sollte mich nicht beherrschen.
Dann aber wurde es mir zu viel. Ich hatte mir nicht lange überlegt, was ich konkret tun konnte, nein, ich hatte solche Überlegungen meist gleich wieder aufgegeben, weil ich mit ihnen einfach nicht weiterkam. Was damals an einem Nachmittag geschah, geschah also ohne jede Planung, es geschah plötzlich, ich hatte es selbst nicht erwartet, nein, es passierte einfach.
An diesem Nachmittag hatte ich in der Internatsküche gearbeitet und danach den kleinen Transport begleitet, der hinauf in die nahe gelegene Ortschaft fuhr, um die Küchenvorräte zu erneuern. Ich hatte das schon mehrmals getan, diesmal aber ergab es sich zufällig, dass ich allein in der Nähe des Transportwagens auf die anderen Schüler und zwei Patres wartete, die in den Lebensmittelmarkt gegangen waren, um die Waren zu holen und dann im Wagen zu verstauen.
Ich stand also auf dem Parkplatz und blickte auf das weite, umgebende Land, auf der nahen Landstraße fuhren zwei langsame Traktoren dicht hintereinander her, es war ein warmer Tag im Frühsommer, in der Ferne schien die Luft sogar bereits zu vibrieren.
Da spürte ich plötzlich das ganze Elend meiner Lage: Gleich würde ich wieder mit hinunter ins Kloster fahren, um mich dort abfüttern zu lassen und ins Bett zu legen. Ein Tag nach dem ändern würde jetzt auf diese Weise vergehen, noch viele Jahre bis zum Abitur. Bis dahin aber hätte ich meine pianistischen Fähigkeiten wahrscheinlich verloren, oder ich hätte sie eingetauscht gegen die Fähigkeit, eine Gemeinde während eines Gottesdienstes auf der Orgel bei ihrem Gesang zu begleiten. Nach einem solchen Gottesdienst wäre mir höchstens noch ein kurzes Solo gestattet worden: Etwas Händel, etwas Pachelbel oder Buxtehude, schon Max Reger aber hätte ich nicht spielen dürfen, denn die Orgel-Stücke von Reger gehörten bereits einer Musik-Epoche an, in der beinahe nur noch Verwirrte oder absonderliche Genies für die Orgel komponiert hatten ...
Es war eine Entscheidung von Sekunden, und in diesen Sekunden dachte ich nur darüber nach, wie viel Geld ich gerade dabeihatte. Es war jämmerlich wenig, aber immerhin, ich hatte etwas dabei. Ich wollte weg, und zwar sofort! Ich schaute mich noch einmal nach den anderen um, dann entfernte ich mich von dem Internats Wagen.
Zunächst ging ich noch langsam, wie zur Probe oder als wäre mir langweilig. Ich schlenderte ein wenig daher, bewegte mich jedoch schon auf die abgelegene Seite des Parkplatzes zu. Dahinter fiel das Gelände steil ab, und kaum hundert Meter entfernt in der Tiefe erschien an dem steilen Hang ein größeres Waldstück.
Ich dachte nicht weiter nach, sondern verließ den Parkplatz und lief den Abhang hinab auf das Waldstück zu. Als ich es erreichte, wusste ich sofort, dass sie mich hier nicht suchen würden. Sie ahnten ja nicht, dass ich mich absetzen wollte, sie ahnten überhaupt nichts. Einen flüchtigen Schüler würde man suchen und verfolgen, ich aber war in ihren Augen kein Flüchtling. Sie würden sich meine Abwesenheit nicht erklären können und vielleicht vermuten, ich hätte eine Toilette aufgesucht. Sie würden nachschauen, auf der Toilette natürlich und rund um das große Marktgebäude. Irgendwann aber würden sie aufgeben und ohne mich zurückfahren. In der Abtei würden sie sagen, sie könnten sich meine Abwesenheit nicht erklären, ich sei wie vom Erdboden verschluckt gewesen.
Als ich das alles im Kopf durchgespielt hatte, war ich erleichtert. Was konnte denn schon passieren? Ich hatte einfach getan, was ich tun musste. Wenn es ewig so weitergegangen wäre, würde ich vielleicht schon bald keinen einzigen Satz mehr sprechen. Ich würde wieder in dem hilflosen Leben ankommen, das ich bereits als Kind geführt hatte, ich würde ein stummer, Orgel spielender Idiot werden, den man die weiteren Jahre verstärkt mit Küchen- und Garten-Diensten beschäftigt, bei dem man wegen seiner Hilfsbereitschaft aber nicht
so streng auf die sonstigen schulischen Leistungen geschaut hätte.
Johannes, hörst Du mich? Ein paar Mal hatte ich eine solche Frage eines Lehrers bereits schon wieder zu hören bekommen. Johannes ist wieder in seiner eigenen Welt ...- auch das hatte ich schon ein paar Mal wieder gehört. Solche Fragen und Bemerkungen erinnerten mich an früher, und wenn ich mich auch nur entfernt an diese früheren Tage erinnerte, stieg sofort die kalte Angst in mir hoch. Noch einmal würde ich das alles nicht mitmachen, noch einmal nicht! Lieber würde ich irgendwo abtauchen, in die Tiefe eines Flusses, um in dieser Tiefe für immer zu verschwinden ...
Eine Nacht und insgesamt etwa anderthalb Tage hielt ich durch. Ich bewegte mich so voran, wie es mir gerade gefiel, und vermied es dabei, auf den Landstraßen zu laufen. Stattdessen blieb ich meist in den Wäldern und folgte den schmalen Waldwegen und Forstpfaden. Am ersten Abend entdeckte ich eine Jagdhütte, machte mir dort ein kleines Feuer und saß dann die ganze weitere Nacht still in seiner Nähe, bis ich müde wurde und unter dem Vorbau der verschlossenen Hütte einschlief.
In der Nacht wurde mir kühl, ich stand auf, bewegte mich ein wenig und legte weiteres Holz in das Feuer. Ich schlief wieder ein und wachte erst beim Morgengrauen auf, dann ging ich los, nicht ohne vorher das Feuer gelöscht zu haben.
Am Mittag plagte mich dann der Hunger. Ich überlegte, ob ich mir in einer Ortschaft etwas zu essen beschaffen sollte, entschied mich jedoch dagegen. Stattdessen begann ich, nach Waldfrüchten zu suchen, entdeckte aber nur eine kleine Lichtung, an deren Rand sich ein paar verkümmerte Brombeer- und Himbeersträucher befanden. Ich aß die teilweise noch unreifen Früchte und nahm mir vor, lieber mehr zu trinken als weiter nach Essbarem zu suchen. Etwas zu trinken zu finden, war nicht schwer, in der Gegend war es selbst im Sommer in den Wäldern sehr feucht, und man hörte häufig das Rauschen irgendeines Baches, wenn man nur hier und da stehen blieb.
So bewegte ich mich weiter, ohne einem Menschen zu begegnen. Ich fühlte mich erleichtert, als hätte ich zumindest für kurze Zeit das rettende Ufer erreicht. Im Verlauf des Morgens hatte sich diese Erleichterung immer mehr verstärkt, ich spürte genau, wie sich etwas in mir löste und ich langsam ruhiger und ruhiger wurde. Es war, als hätte ich riesige Gewichte, die ich vorher noch gebuckelt hatte, am Wegrand zurückgelassen.
Als ich eine besonders weite Lichtung erreichte und über die nächsten Höhenkämme hinwegschaute, hatte ich auf einmal sogar ein solches Freudengefühl, dass ich vor lauter Glück zu schreien begann. Erst war es nur ein kurzer, heller Schrei, wie der Schrei eines Tieres, dann aber schrie ich immer lauter, als müsste ich die ganze unsinnige Verkrampfung der letzten Monate und Jahre aus mir herausbrüllen.
Es ist gar nicht zu glauben, wie gesund und erleichternd ein solches Schreien sein kann. Der ganze Körper öffnet sich, ja es ist, als würde man sich langsam die Haut abziehen, aber auf angenehme Weise und daher ohne dass es irgendwo schmerzt. Ein Sich-Schütteln ist es, ein Ausspeien des Fremden, ein Hinübergleiten in eine andere Existenz! Wer Opern nicht erträgt oder nicht begreift, was das Schöne an Opern sein kann, sollte eine Zeit lang allein durch einen großen Wald gehen und, wann immer ihm danach ist, zu schreien beginnen. Es sollte aber ein lautes, unermüdliches Schreien sein, bis hin zur Erschöpfung, am Ende sollte man vergessen haben, was einen umtreibt, man sollte nur noch den Körper spüren, sein Zittern, seine Ermattung ...
Aber zurück zu meiner Flucht. Natürlich wusste ich, dass ich nicht tagelang unterwegs sein konnte und man mich zur Rechenschaft ziehen würde, aber vorläufig war mir das gleichgültig. Ich hatte die anderen nicht verlassen, um ihnen irgendetwas zu beweisen oder um sie zu beunruhigen, nein, ich hatte nur mir selbst beweisen wollen, dass die alten Träume und Phantasien noch in mir lebten. Ich war noch nicht ganz der Lethargie verfallen, nein, ich war noch nicht gestorben, etwas Text und eine Unmenge von guter Musik steckten noch in mir.
Wenn ich mich irgendwo in den Schatten legte und auf dem Rücken wegträumte, begann der Text sogar von alleine zu wachsen. Ich schloss die Augen und hörte alles genau, Satz für Satz: Am Morgen stand die Sonne hoch, und im Zelt begann es heiß zu werden. Nick kroch unter dem Moskitonetz, das vor den Zeheingang gespannt war, heraus, um sich den Morgen zu betrachten. Das nasse Gras netzte seine Hände, ah er herauskam. Er hielt seine Hosen und Schuhe in den Händen. Die Sonne war gerade über dem Hügel aufgegangen. Dort waren die Wiese, der Fluss und der Sumpf. Dort waren Birken im Sumpfgrün auf der anderen Seite des Flusses ...
Am zweiten Abend meiner Flucht ließ ich mich auf eine kleine Ortschaft zutreiben und telefonierte von der ersten Telefonzelle, auf die ich traf, mit dem Kloster. Ich nannte meinen Namen und bat darum, mit dem Abt verbunden zu werden, nach einer kurzen Pause hörte ich seine Stimme.
Er wirkte nicht einmal besonders erstaunt oder aufgeregt, sondern wollte nur wissen, wo ich mich befand und ob ich gesund sei. Ich nannte den Namen des Ortes, von dem aus ich anrief, und sagte, dass ich großen Hunger hätte. Der Abt erwiderte, dass ich in die Mitte des Ortes gehen und auf dem Platz neben der Kirche warten solle. Ich sei etwa zwanzig Kilometer vom Kloster entfernt, er werde einen Wagen schicken.
Ich bedankte und wunderte mich, dass er nicht weiter nachfragte. Als ich noch etwas zögerte und nicht sofort auflegte, hörte ich ihn dann aber doch fragen: Hast Du mir etwas zu sagen, Johannes? Ich dachte keinen Moment nach und antwortete schnell: Ich kann mir das alles auch nicht erklären, ich habe mich wohl verlaufen. Ich hörte das plötzliche Schweigen am anderen Ende des Hörers, einen Moment glaubte ich den Abt beinahe zu sehen, wie er nachdachte und sich um eine kluge Antwort bemühte. Dann aber hörte ich ihn sagen: Ja, das glaube ich auch, ich ' auch, Du hast Dich verlaufen.
Neben der Kirche des Ortes wartete ich etwa eine halbe Stunde auf den Wagen. Einer der jüngeren Mönche, der im Internat Geographie und Geschichte unterrichtete, holte mich ab. Ich gab ihm die Hand und setzte mich dann neben ihn in den Wagen. Bevor wir losfuhren, schaute er mich von der Seite her an: Wo hast Du Dich denn herum getrieben? Ich sagte ihm, dass ich vom Parkplatz des Lebensmittelmarktes aus in das tiefer gelegene Waldstück gelaufen sei, um dort zu urinieren, in diesem Waldstück hätte ich mich dann wohl verlaufen, es sei wie verhext gewesen, ich hätte den Ausgang aus dem Waldstück einfach nicht mehr gefunden. Und das sollen wir Dir glauben?, fragte der junge Mönch und fuhr endlich los.
Während der Fahrt unterhielten wir uns nicht mehr, ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, als wäre meinem Fahrer aufgetragen worden, so wenig wie möglich mit mir zu sprechen. Stattdessen räusperte er sich mehrmals und stöhnte zwei-, dreimal vor sich hin, als wollte er mir zeigen, dass ich der Gemeinschaft und besonders ihm unnötige Arbeit machte. Um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstanden hatte, sagte ich schließlich mitten in die Stille Es tut mir leid, schwor mir danach aber sofort, keinen weiteren Satz mehr zu sagen.
Als wir das Klostergebäude erreichten, sah ich, dass der gesamte Internatsflügel heller erleuchtet war als sonst. In einigen Fenstern bewegten sich Schüler und schauten hinab auf den Hof, wo ich aussteigen musste. Ich wollte die kleine Strecke bis zum Eingang ins Foyer des Klosters, wo mich der Abt angeblich erwartete, rasch zurücklegen, als ich meinen Vater im Eingang des Klosters erkannte. Niemand hätte mir zu bestätigen brauchen, dass er es war, ich sah es sofort: seine große, stolze Gestalt, das weiße, weit offen stehende Hemd, der ruhige Blick. Er bewegte sich nicht, sondern wartete darauf, dass ich zu ihm kam. Mich selbst aber erschreckte seine Erscheinung so sehr, dass ich stehen blieb. Ich presste die Lippen fest zusammen, nein, ich durfte jetzt auf keinen Fall weinen, jetzt nicht, wo ich von so vielen Mitschülern beobachtet wurde. Hier und da öffneten sich bereits einige Fenster, ein Rufen und Schreien war zu hören, doch wurden die Fenster, anscheinend auf Geheiß der Lehrer, die sich ebenfalls in den Fluren aufhielten, sofort wieder geschlossen.
Verdammt! Ich konnte doch nicht weiter im Hof stehen bleiben und mich von allen angaffen lassen! Ich drehte den Kopf etwas zur Seite und spuckte den weichen Klumpen aus, der mir im Hals steckte, dann ging ich auf meinen Vater zu. Ich sah, dass er mich ununterbrochen anschaute, er ließ den Blick wahrhaftig die ganze Zeit auf mir ruhen. Als ich ihn aber erreichte, streckte er plötzlich die rechte Hand aus und führte sie mit einer unerwarteten Geste nach hinten, an meinen Hinterkopf, als wollte er den Kopf dort einen Moment halten und stützen. Dann aber spürte ich, wie er ihn näher an sich heranzog und mich kurz auf die Stirn küsste.
Ich hatte auch diese Geste so wenig erwartet, dass mir beim Eintritt in das Kloster plötzlich die Tränen kamen. Im Foyer standen der Abt und zwei der Patres, die mich unterrichteten. In meiner dreckigen und von der Feuchtigkeit in den Wäldern ausgebeulten Kleidung stand ich vor ihnen wie ein Hund, der sich zu lange in fremden Terrains herumgetrieben hatte. Ich gab allen die Hand, dann wurde ich gebeten, mich zu waschen und umzuziehen. In einer Viertelstunde erwartete man mich zum Abendessen.
Auch auf diese Reaktion war ich so wenig gefasst, dass ich sehr unruhig in den Trakt des Internats ging, in dem sich mein Schlafsaal und meine Kleider befanden. Zum Glück war Essenszeit, so dass die Mitschüler nicht zu sehen waren. Was würde denn jetzt bloß geschehen? Dass Schüler aus dem Internat verschwanden, kam dann und wann durchaus vor. Fast immer aber waren es ältere Schüler, deren Leistungen sich verschlechtert hatten oder die sich irgendetwas zuschulden hatten kommen lassen. All das traf auf mich nicht zu, in meinem Fall war die Sache viel komplizierter.
Im Grunde wollte ich das Internat, so schnell es irgend ging, verlassen. Nicht, weil ich mich mit bestimmten Lehrern angelegt hätte oder mit dem Schulstoff nicht zurechtgekommen wäre, auch nicht, weil mich der starke Akzent, der hier auf dem Glauben lag, bedrückt hätte. Das System Internat war vielmehr als Ganzes einfach nichts für mich, denn es machte aus mir einen Menschen, der ich auf keinen Fall sein wollte. Nein, ich wollte kein Schweiger werden, nein, ich wollte nicht mein Leben lang nur die Orgel spielen, und nein, ich wollte meine musikalische Laufbahn nicht mit Kompositionen von Mozart beenden, und wären sie auch noch so schön!
Der Abt hatte angeordnet, dass wir beim Abendessen zu viert waren. So saß ich an einem runden Tisch zusammen mit dem Abt selbst, meinem Vater und meinem Klassenlehrer, einem Mönch mittleren Alters, der mich in Latein und Griechisch unterrichtete. In den Jahren zuvor hatte ich mit diesem Lehrer kaum einige Worte gewechselt, ich glaubte nicht, dass er irgendetwas von mir wusste, außer der Tatsache, dass ich einigermaßen gut Klavier und inzwischen auch die Orgel spielte.
Die Speisen wurden aufgetragen, und wir begannen zu essen, ohne dass der Anlass dieser besonderen Mahlzeit erwähnt wurde. Stattdessen sprach der Abt vor allem mit meinem Vater über Köln und einige andere Orte am Rhein, anscheinend kannte er diese Orte genau und wollte einiges über ihren jetzigen Zustand erfahren.
Ich selbst hörte aber die ganze Zeit nicht richtig hin, sondern überlegte ununterbrochen, was wohl auf mich zukommen würde. Würde man mich bestrafen? Oder würde man mir glauben, wenn ich erneut die Version, mich verlaufen zu haben, auftischte? Und wie weiter: Wenn man mich bestrafte, drohten mir einige Tage Arrest, der Ausfall mehrerer Mahlzeiten und zusätzliche Arbeitszeiten in Küche und Gärtnerei, danach aber würde wohl alles beim Alten bleiben. Wie aber musste ich reagieren und was musste ich sagen, damit eben nicht alles beim Alten blieb?
Nach dem Ende des Abendessens machte der Abt ernst. Er wartete, bis das Küchenpersonal den Raum verlassen hatte, dann sagte er: Wir haben schon von Dir gehört, dass Du Dich verlaufen hast. Ich nickte, ja, ich bestätigte, dass ich mich verlaufen hatte. Gleichzeitig haben wir von Deinem Vater gehört, dass Du Dich unmöglich verlaufen haben kannst.
Ich erstarrte: Was meinte er denn? Hatte Vater so etwas gesagt, hatte er das wirklich gesagt?
Johannes, hörte ich Vater sagen, Du hast Dich doch nicht verlaufen! Wir beide sind doch nicht jahrelang und immer wieder in ausgedehnten Wäldern und aufweiten Fluren unterwegs gewesen, damit Du hier erzählen kannst, Du habest Dich in einem kleinen Wäldchen verlaufen. Wo willst Du Dich denn verlaufen haben, wo denn?!
Vater beugte sich etwas zur Seite, als ich die Aktentasche neben seinem Stuhl stehen sah. Ich schaute auf das alte, braune Lederstück, auf das ich als kleines Kind immer geblickt hatte, wenn er am Nachmittag den großen, ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus überquert hatte. Ich wusste jetzt genau, was sich in dieser braunen Aktentasche befand, ganz genau wusste ich, was Vater jetzt aus der Tasche hervorziehen würde.
Dazu aber hörte ich seine Stimme, ich hörte sie natürlich nicht wirklich, noch sagte Vater kein Wort, aber ich hatte sie doch bereits im Ohr, Wendung für Wendung, so dass ich, als das Messtischblatt auf dem Tisch ausgebreitet und glatt gestrichen wurde, mit der Sprache meines Vaters zu sprechen begann: Wir befinden uns jetzt genau hier, der Lebensmittelmarkt befindet sich genau dort. Unterhalb des Parkplatzes liegt das bewusste Wäldchen, genau hier. Von dort aus habe ich mich nach Süden bewegt, weg vom Parkplatz, in Richtung dieser Lichtung hier. Unterhalb fließt ein Bach, den ich überquert habe, von dort aus ging es weiter, genau hier entlang, durch den nächsten, sich anschließenden Wald. Hier, wo er aufhört, befindet sich ein Hochsitz. Ich bin hinaufgeklettert und habe etwas Luft geschnappt. Nach einer längeren Pause habe ich die daneben liegende Lichtung überquert und bin in die kleine Schlucht eingedrungen, die sich nach Westen hin anschließt.
Ich habe mich auf direktem Weg von dem Parkplatz entfernt. Ich hatte den zurückgelegten Weg dabei exakt im Kopf und orientierte mich an der Abendsonne. Ich wusste immer genau, wo ich mich jeweils befand. Ich wollte fort, ich wollte mich vom Parkplatz und vom Kloster entfernen. Ich möchte nicht im Internat bleiben. Ich möchte für immer fort.

#32 
regrem патриот23.04.14 17:57
NEW 23.04.14 17:57 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:21 (regrem)

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IN DEN letzten Tagen bin ich einige Male im Hausflur stehen geblieben und habe auf Mariettas Klavierspiel geachtet. Es ist wirklich erstaunlich, sie übt jetzt ganz anders als früher und oft mehrmals am Tag, jedes Mal etwa zwanzig bis dreißig Minuten.
Ich höre, dass sie begonnen hat, mit dem Klavier zu spielen, sie spielt sich zunächst etwas ein, indem sie eine Melodie oder ein kleines Lied intoniert, dann folgen meist ein paar Akkorde die ganze Tastatur hinauf und hinab. Schließlich widmet sie sich zwei, drei kleinen Stücken, jedes aus einem anderen Genre.
Auch klassische Musik behandelt sie jetzt so, dass sie zum Beispiel eine Sonate nicht in voller Länge und nicht Satz für Satz einstudiert, sondern meist nur einen einzigen Satz übt und ihn dann mit anderen Klavierstücken
verbindet. Dabei stellen sich ganz ungeahnte, überraschende Effekte ein: Ein Stück Ragtime und danach der langsame Satz einer Mozart-Sonate, ein Tanzstück aus einer Suite von Händel und danach ein Tango!
Marietta hat gerade an diesen Kontrasten großen Gefallen gefunden, und die Freude, die ihr die Musik seit Neustem macht, ist schon daran zu erkennen, dass sie sich immer neue CD s ausleiht und sie auf Stücke hin durchhört, die sie dann unbedingt spielen möchte.
Außerdem aber gibt es noch eine weitere kleine Veränderung, die bisher niemandem außer mir aufgefallen ist: Marietta hat den Sitz ihres Klavierhockers etwas tiefer gedreht und berührt jetzt während des Übens mit ihren Füßen die Erde! Als ich Antonia darauf aufmerksam machte, reagierte sie, als wäre diese Veränderung nichts Besonderes, ich aber weiß, dass diese Umstellung ein gutes Zeichen ist.
Marietta schwebt nämlich jetzt nicht mehr wie ein kleines Kind mit lästig hin und her pendelnden, unruhigen Beinen auf ihrem Sitz, sondern sucht den Bodenkontakt und die Haftung. Das aber zeigt mir, dass sie nicht mehr die übende Puppe sein will, die man einfach vor ein Klavier gesetzt hat, weil die Eltern das nun einmal so wollten, sondern dass sie ein junges Mädchen sein möchte, das Klavier übt, wann immer es sich dafür entscheidet.
Sie springt an das Instrument, sie zieht den Klavierhocker ein Stück beiseite, schwingt sich darauf, rückt ihn zurecht, und schon geht es los! Früher näherte sie sich dem Instrument sehr vorsichtig und als ginge von
ihm etwas Einschüchterndes aus, jetzt aber geht sie mit ihm wirklich so um, als gehörte es ganz selbstverständlich zu ihrem Leben.
Ich habe ihren neuen Schwung noch dadurch weiter angefacht, dass ich ihr vorgeschlagen habe, auf dem großen Platz vor unserem Haus einmal ein kleines Konzert im Freien zu geben. Wie soll das denn gehen?, hat sie sehr ernsthaft gefragt, und ich habe ihr vorgeschlagen, dass wir einen Flügel ausleihen und auf einem kleinen Podium in der Mitte des Platzes postieren. Weiter habe ich ihr angeboten, mich um Scheinwerfer, die passende Beleuchtung und Sitzreihen mit Stühlen zu kümmern, wir sollten uns das durch den Kopf gehen lassen, habe ich abschließend gesagt und das Thema damit vorläufig beendet. Ich weiß aber genau, dass Marietta weiter darüber nachdenkt, und ich hoffe insgeheim, dass sie irgendwann von allein wieder auf das Thema zurückkommt.
In den Gesprächen mit ihr mache ich so etwas oft, ich tippe ein Thema bloß an und komme irgendwann dann wieder darauf zurück. Kinder in Mariettas Alter, denke ich, lieben das monotone Erwachsenen-Grübeln nicht, sie wollen leicht und möglichst abwechslungsreich unterhalten werden und mit den Themen jonglieren, anstatt sie Punkt für Punkt durchzugehen. Am einfachsten ist es, genau hinzuhören und zu beobachten, wie sie selbst etwas erzählen, und dann in ganz ähnlicher Form darauf zu reagieren. In Mariettas Fall habe ich damit jedenfalls großen Erfolg, denn inzwischen erzählt sie mir sogar Dinge, die vor ein paar Monaten noch völlig tabu waren.
So weiß ich zum Beispiel nun, dass sie die Trennung ihrer Eltern viel weniger schlimm findet als ihre Mutter das früher vermutete. Sergio, ihr Vater, wohnt zwar jetzt etwa zehn Minuten entfernt, auf der anderen Seite des Tibers, sie kann aber, wann immer sie will, mit ihm telefonieren, ihn besuchen, mit ihm ein Eis essen gehen oder am Wochenende mit ihm in die Albaner-Berge fahren, wo die Großeltern wohnen. Das alles ist kein Problem, ja es ist sogar alles viel besser als früher, als die Familie zu dritt unterwegs war und die Eltern sich angeblich laufend stritten. Was haben sich Mama und Papa gestritten, was haben sie sich gestritten!, sagt Marietta und schaut mich dabei nicht an. Über die Ehe ihrer Eltern redet sie, als wäre sie eine ältere Verwandte mit einer jahrzehntelangen Lebenserfahrung.
Dass ihr Vater Sergio Journalist bei einer römischen Tageszeitung ist, wusste ich schon, erst Marietta versorgte mich dann aber mit Nachrichten über das, was er schreibt und wofür er sich von Berufs wegen interessiert. Manchmal zeigt sie mir sogar einen Artikel, den ihr Vater extra für sie ausgeschnitten und ihr dann geschenkt hat. Sie klebt diese Artikel auf ein Blatt Papier und reiht sie in große Ordner ein, Sergio schreibt wirklich gut, sagt sie, wenn sie in einem der Ordner blättert, danach aber seufzt sie kurz, als werde sie nie seine stilistische Brillanz erreichen, und stellt den Ordner schließlich wieder an seinen Platz.
Obwohl sie mir wirklich viel erzählt und wir beinahe jeden Tag miteinander sprechen, weiß ich doch nicht genau, was sie von mir hält. Ich selbst habe das Gefühl, als wären wir gute Freunde, wozu denn auch passt, dass wir die wöchentliche Unterrichtsstunde aufgegeben haben und uns zusammen ans Klavier setzen, wann immer es uns gerade gefällt. Kommst Du später mal auf eine halbe Stunde vorbei?, ruft Marietta, und dann komme ich später einmal vorbei, um mir anzuhören, wie sie ein bestimmtes Klavierstück angeht und übt.
Bisher haben wir uns noch kein einziges Mal gestritten, ja es gab nicht einmal eine richtige Meinungsverschiedenheit. Nur als ich ihr vorschlug, auch einmal zusammen in die Oper zu gehen, lehnte sie ab, und als ich sie fragte, warum sie denn ausgerechnet dieses Angebot so entschieden ausschlage, antwortete sie, dass die Menschen sich in Opern immer so heftig streiten würden und dass sie solche Streitereien einfach nicht sehen und hören wolle. Gibt es Opern, in denen sich Menschen nicht streiten? Gibt es das? Gegenwärtig bin ich dabei, mir das genauer zu überlegen.
Antonia, mit der ich mich oft über Mariettas Ansichten und Meinungen unterhalte, behauptet jedenfalls, ihre Tochter erfahre die Trennung ihrer Eltern inzwischen nicht mehr als eine Einschränkung, sondern im Gegenteil als eine günstige Erweiterung ihrer Lebensumstände. Früher habe es nur eine Wohnung mit uneinigen Eltern gegeben, jetzt aber gebe es zwei und mit meiner Wohnung sogar drei Wohnungen, in denen Marietta sich zu Hause fühle. Und da alle drei Wohnungen nicht weit voneinander entfernt seien, könne sie in jeder ein Stück des Tages mit jeweils anderen Menschen und Themen verbringen.
Mit ihr, Antonia, bespreche sie die sogenannten weiblichen Themen, mit ihrem Vater rede sie über seine Artikel, über Sport und Politik, und in den Gesprächen mit mir schließlich gehe es um Musik. So ein Gesprächsangebot habe sie, Antonia, in ihrer Kindheit nicht gehabt, sie sei vielmehr mit zwei älteren Brüdern groß geworden, die ab einem bestimmten Alter überhaupt nicht mehr mit ihr geredet und ganz nebenbei noch das Interesse der Eltern übermäßig beansprucht hätten.
Wie im Falle Mariettas sind für Antonia beinahe alle Lebensverhältnisse Teil eines psychologischen Dramas, das in allen Facetten besprochen und gedeutet werden muss. Selbst die große Geschichte, die sie ihren Schülern am Gymnasium beibringt, ist in ihrer Perspektive vor allem eine Fundgrube für solche Dramen. Schon kurz nach Beginn einer Unterhaltung geraten wir beide daher immer wieder auf die Ebene der Deutung, Antonia ist die Expertin, ich bin der Laie, man kann sich vorstellen, wie unausgeglichen solche Gespräche verlaufen und wie einseitig sie ausgehen.
Selbst dann nämlich, wenn ich glaube, einen sicheren Treffer gelandet zu haben, zieht Antonia noch eine letzte Variante aus der Tasche und übertrumpft meine Deutung einer Geschichte mit einem letzten, schlagenden Argument. Meist gebe ich in solchen Fällen dann auf und denke im Stillen weiter darüber nach, um das Drama vielleicht irgendwann noch einmal aufrollen und mir die nächste Abfuhr vonseiten Antonias holen zu können.
Gut, dass sie nicht weiß, worüber ich gerade schreibe! Mit vollem Elan hätte sie sich auf meine Internatsjahre gestürzt und mir erläutert, dass die Trennung von meinen Eltern mich aus dem Gleis geworfen, gleichzeitig aber auch erst jene Freiheitsimpulse freigesetzt habe, deren ein Junge in der Adoleszenz so dringend bedürfe.
Insofern, hätte Antonia weiter behauptet, wären meine Internatsjahre keine vergeblichen Jahre gewesen, schließlich hätte ich dort gelernt, meinen eigenen Gefühlen zu vertrauen und sie auch gegenüber weit überlegenen Mächten, wie zum Beispiel denen der Kirche, auszusprechen.
Einer solchen Deutung hätte ich wieder einmal nur zustimmen können, denn, ja, genau so empfand ich meine Jahre auf dem Internat aus dem Rückblick wohl auch: Als Jahre, die meine Widerstandsimpulse verstärkt und meine Selbständigkeit gefördert hatten. Im Nachhinein war ich sogar stolz darauf, sie erlebt und überstanden zu haben. Ich hatte in diesen Jahren durchaus etwas gelernt, und doch hatte ich gerade noch zum richtigen Zeitpunkt den Absprung geschafft ...
Noch an dem fraglichen Abend meiner Rückkehr ins Internat nämlich hatten mein Vater und der Abt in einem Zweier-Gespräch das Ende meiner Internatszeit beschlossen. Zuvor hatten wir zu dritt länger über meine Eindrücke und meine Einschätzungen des Internats-Daseins gesprochen, und ich hatte, ohne zu zögern oder irgendwelche Umwege zu machen, gesagt, wie ich die Sache sah und was ich dachte. Da die großen Sommerferien unmittelbar bevorstanden, ließ man mich ziehen und bestätigte mir später sogar noch in meinem Zeugnis, dass ich die vierte Gymnasialklasse geschafft hatte.
Bereits am Morgen des nächsten Tages packte ich meine Sachen und reiste mit meinem Vater zurück aufs Land. Erst während der Zugreise erfuhr ich, dass er meiner Mutter nichts von meiner Flucht aus dem Internat erzählt hatte. Einer solchen Nachricht, behauptete er, sei sie noch immer nicht gewachsen, eine solche Nachricht würde sie weit zurückwerfen. Mir selbst aber machte er keinen einzigen Vorwurf, sondern tat stillschweigend so, als hätte ich das einzig Richtige getan.
Als ich ihn fragte, wie es denn nun mit mir weitergehen sollte, sagte er noch während der Fahrt, dass er daran denke, mich in Köln aufs Gymnasium zu schicken. Wenn ich das ebenfalls wolle, müsste ich allerdings an jedem Morgen eine Hinfahrt von fast einer Stunde im Zug und am Mittag oder Nachmittag noch einmal eine Stunde Rückfahrt in Kauf nehmen. Das alles sei eine Strapaze, keine Frage, aber er selbst sei als Schulbub an jedem Morgen beinahe vierzig Minuten auf dem Fahrrad vom Hof seiner Eltern aus zum Bahnhof und von dort noch einmal dreißig Minuten mit dem Zug zum Gymnasium in der nächsten Kreisstadt gefahren.
Mit der Zeit habe er sich daran gewöhnt, und auch ich werde mich daran gewöhnen, außerdem könne ich unterwegs Hausaufgaben machen oder etwas lesen oder mich mit sonst etwas Interessantem beschäftigen. In Köln gebe es jedenfalls inzwischen ein Gymnasium mit sogenanntem musischem Zweig, und außerdem gebe es in Köln schließlich noch Walter Fornemann, der mich von nun an wieder wöchentlich unterrichten könne.
Ich antwortete, dass ich mir das alles durch den Kopf gehen lassen werde, dabei konnte ich kaum verheimlichen, wie sehr ich mich freute. Ich würde in Köln aufs Gymnasium gehen! Ich würde beinahe jeden Tag zumindest eine gewisse Zeit wieder in dieser mir so vertrauten und nahen Stadt verbringen! In Walter Fornemanns Unterricht würde ich Stücke von Schumann und Brahms spielen, und während der freien Zeit zwischen Schule und Klavierunterricht würde ich mich am Rhein herumtreiben, stundenlang ...
Genauso ist es dann wenig später auch gekommen. Ich bezog im noch immer einsam gelegenen Haus meiner Eltern auf dem Land ein kleines Zimmer unter dem Dach und ging während der sich direkt anschließenden Sommerferien wieder zusammen mit meinem Vater auf Reisen. Damals ahnte ich noch nicht, dass es das letzte Mal war, denn damals konnte ich noch nicht wissen, dass meine Sehnsucht nach langen Wanderungen und dem sorglosen Unterwegs-Sein keine einmalige Sache, sondern ein tief sitzender Drang, ja beinahe eine Sucht war, die sich nicht mehr bändigen ließ.
Ich war nun vierzehn Jahre alt und bekam immer wieder zu hören, in so einem Alter beginne die Pubertät. Meine Eltern jedoch hatten keine richtige Ahnung davon, was das im Einzelnen bedeutete, und auch ich wusste nicht, was ich mir darunter vorstellen sollte.
Antonia übrigens verwendet das Wort Pubertät nicht, weil sie es für abstoßend und kalt hält. Stattdessen sagt sie Adoleszenz, was sich im Italienischen wie nostalgisches Latein anhört. Marietta steht also, wie Antonia behauptet, kurz vor dem Eintritt in die Adoleszenz, ich dagegen kann nicht feststellen, dass sie irgendwelche Anzeichen pubertären Verhaltens zeigt.
Von ihrem Schulunterricht her kennt Antonia jedoch angeblich diese Anzeichen genau. Alles beginnt, wie sie behauptet, mit einer häufigeren Abwesenheit des jungen Menschen von zu Hause. Zunächst fällt diese Abwesenheit niemandem so richtig auf, selbst der junge Mensch nimmt sie nicht bewusst wahr. Sie entsteht vielmehr ganz nebenbei, zum Beispiel dadurch, dass er für den Schulweg länger braucht als zuvor. Er macht Umwege, verweilt hier und da, unterhält sich, streift umher. Am Nachmittag bleibt er nicht mehr so lange in der elterlichen Wohnung wie bisher, sondern hat in der Umgebung oder in der Stadt bestimmte Termine. Er schließt sich einer Freundin oder einem Freund an, zu zweit sind sie dann unterwegs, erkunden fremde Gegenden, nehmen Witterung auf, sondieren das Erwachsenen-Leben. Auf schleichende Weise beginnt damit die Entfernung von der Kindheit. Erst sind es nur einige Minuten am Tag, dann werden es Stunden, am Ende sind die jungen Menschen alle paar Nächte unterwegs, um kurz vor Mitternacht völlig überanstrengt wieder zu Hause zu erscheinen.
Für Antonia steht fest, dass auch Marietta schon bald mit solchen Streifzügen und kleinen Expeditionen in unbekannte Gegenden der Stadt beginnt. Die Vorzeichen sind angeblich bereits daran zu erkennen, dass sie jetzt mittags mit einer Schulfreundin von der Schule zurückkommt, mit der sie den Schulweg früher niemals geteilt hat. Allein gehen sie nicht auf Tour!, behauptet Antonia und macht bei solchen Sätzen den Eindruck einer Detektivin, die einem schwierig zu lösenden Fall auf der Spur ist.
Erst richtig angeheizt wurde ihr Spürsinn aber an einem Nachmittag, als Marietta sich zum Tennisspielen verabredet hatte, jedoch nicht, wie vereinbart, zu einer bestimmten frühen Abendstunde wieder erschien. Als die Frist um eine halbe Stunde überzogen war, klingelte Antonia bei mir und bat mich, ihr auf einen Drink Gesellschaft zu leisten. Sie sei nicht nervös, nein, ganz gewiss nicht, aber sie sei doch etwas unruhig, und im Fall einer solchen Unruhe habe sie sich einfach nicht mehr im Griff. Die Folge davon sei manchmal, dass sie auf irgendeine Weise peinlich reagiere, das aber wolle sie diesmal vermeiden, und zwar dadurch, dass sie mit mir zusammen ein Glas Campari trinke.
Ich war einverstanden, schloss die Tür hinter mir zu und ging hinüber in die gegenüberliegende Wohnung, auf deren Namensschild es noch immer eine Familie Caterino mit Sergio, Antonia und Marietta gab. Ich setzte mich zu Antonia in die Küche, wir tranken Campari und versuchten, etwas zu plaudern, währenddessen bereitete Antonia eine Pizza vor, angeblich, um Marietta eine besondere Freude zu machen, in meinen Augen aber, um sich etwas abzulenken.
Ich tat, als machte es mir nichts aus, ihr etwas zu helfen, und schnappte mir einen kleinen Korb mit Zwiebeln und Knoblauch, um eine Portion davon in winzigste Stücke zu schneiden. Auf dem Herd blubberten frische, gute Tomaten vom Markt, das Küchenfenster stand offen, die letzte Abendsonne fiel noch herein. Hätten wir nicht beide laufend an Marietta und ihr Fernbleiben gedacht, wäre es eine friedliche, schöne Szene gewesen, ein Betrachter hätte Antonia und mich sogar für ein Paar halten können, das mit all seinen eingeübten Handgriffen und seiner stillschweigenden Vertrautheit jederzeit ein Paar für eine Pasta-Werbung im Fernsehen hätte abgeben können.
Statt diesen Eindruck zu erhalten, steuerte Antonia jedoch zu den harmonischen Bildern einen Text bei, der von den schwankenden Interessen junger Mädchen, ihrer Orientierungslosigkeit und ihrem angeblichen Hang zu Extremen handelte. Je länger Marietta fortblieb, umso dramatischer und leider auch theoretischer redete Antonia, schließlich erging sie sich in der Schilderung von dubiosen Fällen an ihrer Schule, die alle in einer Katastrophe geendet hatten.
Man kann sich daher vorstellen, wie erleichtert ich war, als kurz vor neunzehn Uhr Vater Sergio anrief und mitteilte, dass Marietta auf dem Rückweg von ihrem Tennis-Spiel bei ihm vorbeigekommen sei und nun auch bei ihm übernachten wolle. Antonia war von ihren fehlgeleiteten furchtbaren Phantasien und Ängsten derart erschöpft, dass sie ohne Gegenrede zustimmte, natürlich könne das Kind bei seinem Vater übernachten, warum
nicht?, sie habe sich ein klein wenig Sorgen gemacht, aber, nun gut, sie wolle Mariettas Wünschen nicht im Wege stehen. Das Gespräch dauerte nicht lange und endete mit ein paar Vereinbarungen für den kommenden Morgen, danach legte Antonia das Telefongerät beiseite und fuhr sich mit dem Rücken der rechten Hand über die Augen, ich schaute kurz hin, konnte aber nicht entdecken, dass sie den Tränen nahe war.
Vor uns auf dem Tisch lag auf einem großen Holzbrett ein gewaltiger, gerade erst aufgegangener Hefeteig für die Pizza, auf dem Herd kochten die Tomaten, und auf meinem Platz türmte sich ein Berg mit klein geschnittenen Zwiebeln und Knoblauch. Bereits in dem Moment, als Antonia das Gespräch beendet hatte, wirkte all das jedoch wie Makulatur. Im Grunde wollten Antonia und ich doch gar keine Pizza essen, und im Grunde wollten wir auch nicht kochen.
Ich musste lachen und sagte ihr, dass unsere Bemühungen in meinen Augen etwas Rührendes hätten, eigentlich hätte ich nämlich gar keinen Appetit auf Pizza. Antonia begann auch sofort zu lachen und ging dann zum Herd, um die Flamme abzustellen. Danach räumte sie den Teig sowie die Zwiebeln und den Knoblauch beiseite, ich half ihr, die Sachen zu verpacken und in den Kühlschrank zu stellen, doch während wir noch dabei waren, hielt Antonia plötzlich einen Moment inne und sagte: Wie schön, Johannes, jetzt sind wir endlich einmal allein.
Ich hatte alles verstanden, jedes Wort hatte ich gehört, und doch hörte sich das alles in meinen Ohren noch nach etwas anderem an, ja, genau, es hörte sich an wie eine direkte Fortsetzung ihrer nächtlichen Bemerkung: Seit anderthalb Jahren hatte ich keinen Sex!
Durch einen einzigen, auf den ersten Blick unschuldigen Satz herrschte in der Küche plötzlich eine andere Atmosphäre. Wir waren nicht mehr das besorgte und treu sorgende Paar, das für seine Kinder eine gute Pizza zubereitet, nein, wir waren Mann und Frau, die man gerade aus ihren Einzel-Käfigen gelassen hatte, ohne zu bedenken, das s beide eine Weile keinen Sex mehr gehabt hatten.
Ich antwortete nicht sofort, denn mit mir ist es in solchen Momenten immer dasselbe: Ich sage nichts, ich warte ab, was geschieht, ich erlebe eine gewisse, sehr angenehme Unruhe und eine gewisse, sich allmählich steigernde Anspannung, und das alles ist mir lieber als eine rasche und eindeutige Klärung der Situation.
Es hat schon Fälle gegeben, in denen ich einen Abend und eine halbe Nacht damit zugebracht habe, die Steigerungsphasen einer erotischen Annäherung zu genießen, während ich doch beinahe die ganze Zeit über nichts anderes gesprochen habe als über ein zu langes Tennis-Match, das ich am Nachmittag desselben Tages im Fernsehen gesehen hatte.
Über Tennis zu sprechen, fällt mir leicht, ja ich glaube sogar, dass ich über Tennis besser sprechen kann als über jede andere Sportart. Antonia hat auch dafür eine Erklärung, und zwar die, dass Tennis eine Sportart für verrückte Einzelgänger und ewige Kämpfer mit immenser Ausdauer sei und eben deshalb genau die richtige Sportart für mich, der ich für meine Romanarbeit doch ebenfalls die Erfahrungen eines verrückten Einzelgängers und die eines ausdauernden Kämpfers brauchte. Kein Wunder also, dass Tennis mich mehr interessiere als Fußball, Fußball sei eben mehr etwas für Männer mit einem gut ausgeprägten Gemeinschafts- oder Geselligkeits-Sinn wie ihn etwa Sergio, ihr Mann, schon allein dadurch besitze, dass er mit vier Geschwistern groß geworden sei ...
Ich sagte also zunächst nichts, ärgerte mich dann aber, dass ich schon wieder dabei war, in die Rolle des zurückhaltenden Beobachters zu schlüpfen. Wegen dieses leichten Ärgers begann ich daher nun doch zu reden, ich sprach davon, dass ich einmal eine Zeit lang Tennis gespielt hätte, es sollte sich so anhören, als wollte ich wieder einmal über das Thema Tennis plaudern, klang nun aber so, als wollte ich auf dem Weg über das Thema Tennis wieder den Faden zum Thema Marietta aufgreifen.
An Antonias Reaktion bemerkte ich, dass sie diesen Faden aber keineswegs aufgreifen wollte, ach, sagte sie, reden wir nicht über Tennis und Marietta, reden wir lieber einmal von Dir!
Von mir?! Wirklich von mir?! Hatte sie das wirklich gesagt und meinte sie das etwa auch so?!
Ich habe bereits erzählt, wie selten es geschieht, dass mich jemand bittet, von mir zu erzählen. Da es aber so selten geschieht, bin ich auch nicht daran gewöhnt, so etwas zu tun. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Restaurant oder in einer Kneipe zusammen mit einem Freund oder einer Freundin gesessen habe und ihnen etwas Privates von mir erzählt hätte.
Wenn ich aber doch einmal von mir erzähle, tue ich das in schriftlicher Form wie zum Beispiel in einem Roman, der von mir handelt. Auch in Briefen und Mails kann ich, wenn auch nicht so gut wie in der Romanform, von mir erzählen. In all diesen Fällen habe ich nämlich das Gefühl, die Steuerung und die Herrschaft über mein Erzählen zu behalten. Beim mündlichen Erzählen aber und beim Anblick eines vielleicht sogar noch nahen Gegenübers ist das nicht möglich. Vielleicht beginne ich in solchen Fällen manchmal noch, etwas von mir zu erzählen, schon nach wenigen Minuten ist das aber meist wieder vorbei, und ich habe eine geschickte Überleitung zu anderen Themen gewählt.
Nein, von mir erzählen kann ich einfach nicht, und natürlich ist auch diese Unfähigkeit eine Folge meiner frühsten Kindheit, als jede Frage an das stumme Kind mir wie eine Bedrohung erschien und ich wegen meiner Stummheit nicht antworten konnte. So gesehen, verfolgt mich meine Kindheit noch immer, ja, sie verfolgt mich, wohin auch immer ich gehe und obwohl ich gegen nichts so sehr anzukämpfen versuche wie gegen diese Verfolgung und gegen die Nachwirkungen, die mir von meiner Kindheit geblieben sind.
Der ausdauerndste und längste Kampf, den ich gegen diese Nachwirkungen führe, besteht in meinem Schreiben. All mein ewiges Schreiben, könnte ich nämlich behaupten, besteht letztlich nur darin, aus mir einen anderen Menschen als den zu machen, der ich in meiner Kindheit gewesen bin. Irgendwann soll nichts mehr an dieses Kind erinnern, irgendwann möchte ich Geschichten erzählen, die nicht mehr den geringsten Anschein erwecken, noch etwas mit meiner Kindheit zu tun zu haben. Bisher ist mir das selbst in mehreren Jahrzehnten noch nicht gelungen, auch wenn es bei manchen meiner Romane und Geschichten auf den ersten Blick so aussieht, als wäre ich meinem alten Thema endlich entkommen.
Der erste Blick aber trügt, es ist ein flüchtiger, oberflächlicher Blick, es ist der Blick von Lesern, die sich leicht täuschen lassen. All die Leser jedoch, die mich auch privat etwas genauer kennen, bemerken während der Lektüre meiner Bücher sehr schnell, an welchen Stellen ich mich wieder in meine privaten Obsessionen verstrickt habe. Ich selbst fürchte diese Stellen, denn natürlich fürchte ich, dass ich gerade in solchen Passagen etwas allzu Privates oder Intimes preisgebe.
Das Private oder Intime besteht übrigens nicht unbedingt darin, dass ich auf Details meines Lebens zu sprechen komme, nein, keineswegs, von solchen Details lässt sich vielmehr durchaus leicht und distanziert erzählen, und zwar gerade deshalb, weil sie Teile einer Erzählung und damit einer offenen Mitteilung sind. Das wirklich Intime dagegen ist unter der Oberfläche versteckt, es sitzt im Untergrund der Details, es arbeitet mit versteckten Andeutungen, mit winzigen Spuren und Fährten ...
Genug davon, verdammt! Was denke ich über die Untiefen meiner Romane nach, ich wollte doch von dem Abend mit Antonia erzählen! Reden wir von Dir, hatte Antonia gesagt, und ich hatte die Aufforderung sofort als eine Bedrohung oder Überschreitung einer Grenze verstanden. Kein Wunder also, dass es mir in Antonias Küche zu eng wurde und ich sofort reagierte, indem ich sie betont locker, und als käme mir gerade ein glänzender Einfall, zum Essen einlud. Antonia erwiderte, dass sie keine Lust habe, ins Zentrum zu fahren und auch keine Lust, lange spazieren zu gehen, sie wolle sich mit mir unterhalten, dazu habe sie Lust. Ich tat, als ginge es mir genauso, obwohl ich mir gerade von einer Metro-Fahrt ins Zentrum bereits einige Übergänge zu anderen Gesprächs-Themen versprochen hatte. Ich kam aber gar nicht mehr dazu, noch weitere Vorschläge zu machen, denn Antonia machte unserem Hin und Her einfach ein Ende, indem sie sagte: Komm, Johannes, dann gehen wir ins Cantinone!
Ich kannte das Restaurant Il Cantinone genau, bereits mehrere Male hatte ich mittags oder abends allein in ihm gegessen, denn es liegt direkt am Markt, so dass man auch als allein essender Gast ein sehr lebendiges Umfeld für seine Beobachtungen hat. Das Essen dort besteht in einer einfachen, römischen Küche, ja die Küche ist sogar typisch für dieses Viertel rund um den alten Schlachthof, weil man in ihm noch immer jene Mahlzeiten (wie etwa Innereien verschiedenster Art) bekommt, die es früher in den alten Trattorien nach frischen Schlachtungen gegeben hat.
Ich kehrte noch einmal kurz in meine Wohnung zurück und holte mir eine Jacke, dann gingen Antonia und ich
zusammen die Treppe herunter, wir sagten beide nichts, aber ich hatte das Gefühl, als empfänden wir in diesem Moment eine besondere Verbundenheit, wie ein Paar, das gemeinsam eine schwierige Situation erlebt und gut überstanden hatte. Unten auf der Straße glaubte ich dann sogar, dass Antonia sich bei mir einhängen wollte, sie machte jedenfalls eine kurze Geste in dieser Richtung, ließ es dann aber doch sein, als traute sie sich einfach noch nicht. Und so überquerten wir nebeneinander, und ohne uns zu berühren, den inzwischen bereits leicht erleuchteten Platz und gingen in das Restaurant, wo im Außenbereich noch ein Ecktisch frei war.
Eine Mahlzeit wie die, die nun folgte, habe ich noch nie erlebt. Denn in ihrem langen, bis weit nach Mitternacht dauernden Verlauf kam es immer wieder zu durchaus ernst gemeinten Versuchen von meiner Seite, etwas von mir zu erzählen. Die meisten Anläufe dazu brach ich unauffällig ab und kam nicht wieder auf das jeweilige Thema zurück. Als ich aber in einem stillen Moment darüber nachdachte, warum das so war, erkannte ich zum ersten Mal in voller Klarheit, dass es jedes Mal um Geschichten und Themen ging, die in irgendeiner Weise zurück in meine frühste Kindheit geführt hätten.
So war das also! Ich umging diese Kindheit um jeden Preis und konnte anscheinend nur von Zeiten und Zusammenhängen erzählen, bei denen ich keine Verbindung zu meiner Kindheit herstellen musste.
Als noch überraschender empfand ich dann aber eine weitere Entdeckung, die ich kurze Zeit später machte:
Ich konnte nämlich durchaus von mir und meinem Leben berichten, wenn ich dazu überging, Ausschnitte aus meinem Roman so zu erzählen, als fielen mir diese Geschichten gerade erst ein. Natürlich erwähnte ich in so einem Fall mit keinem Wort, dass es sich um Roman-Ausschnitte handelte, und natürlich hatte ich sie auch nicht Wort für Wort im Kopf. Die großen Zusammenhänge aber, die Erzähllinien, die kannte ich ja durchaus, schließlich war ich gerade dabei, mein halbes Leben auf Hunderten von Seiten in einem Roman zu erzählen!
Der Trick, den ich anwenden musste, bestand also darin, mich an die Schriftfassung einzelner Lebensgeschichten zu erinnern. Wenn mir das gelang, erzählte ich flüssig und ohne Hemmungen.
Ich kann kaum beschreiben, wie glücklich ich in dem Moment war, als ich diese für mich sehr bedeutsame Entdeckung machte. Das Schreiben half mir also nicht nur indirekt weiter, indem es Klarheit und Struktur in meine Phantasien und Gedanken brachte, nein, es half mir auch mitten im Leben, ganz direkt, indem es mir Erzähl -Versionen von Bruchstücken meiner Lebensgeschichte lieferte, die ich dann selbst einer mir noch relativ fremden Person erzählen konnte!
Stell Dir vor, Antonia, sagte ich also, ich habe ah junger Mensch einmal ein Internat besucht. Und als ich sah, wie Antonia sich mir gegenüber etwas vorbeugte und mich so anschaute, als interessierte sie diese Geschichte wirklich, fuhr ich fort: Das Internat war in einem großen Klosterbezirk untergebracht, es gab eine Klosterkirche, einen Klostergarten und einen barocken Klosterbau. Geleitet wurde es damals., in den frühen sechziger Jahren, noch von Zisterzienser-Mönchen ...
Gegen ein Uhr in der Nacht, als das II Cantinone dann schloss, waren wir die letzten Gäste. Wir überquerten wieder den Platz vor unserem Wohnhaus, diesmal hatte sich Antonia bei mir eingehängt. Ich schloss die Haustür auf, dann gingen wir die Treppe hinauf. Als wir beide vor unseren Wohnungstüren standen, war die Versuchung groß, nur eine dieser beiden Türen zu öffnen.
Ich gab mir einen Ruck und sagte genau diesen Satz, ja, wahrhaftig, ich sagte: Jetzt ist die Versuchung groß, nur eine dieser beiden Türen zu öffnen.
Antonia stand dicht vor mir, ich sah, wie sie über meinen Satz lächelte. Dann gab sie mir einen flüchtigen KUSS und antwortete: Ich finde, wir sollten dieser Versuchung heute noch widerstehen.
Ich nickte und wandte mich zu meiner Tür, um sie aufzuschließen. Am liebsten hätte ich mich jedoch noch einmal mit Antonia in ihre Küche gesetzt. Wir hätten eine Flasche Wein geöffnet, und ich hätte zum ersten Mal in meinem Leben einem anderen Menschen von jenen Tagen in meiner Adoleszenz erzählt, als ich mutterseelenallein nach Rom aufbrach ..

#33 
regrem патриот24.04.14 07:50
NEW 24.04.14 07:50 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:22 (regrem)

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ICH SEHE den Jungen genau vor mir, der an jedem Morgen kurz nach sechs Uhr das einsame Haus auf der Höhe verlässt und auf einem Feldweg hinab in den nahe gelegenen Ort geht. Er trägt eine braune Ledertasche mit Schulbüchern, passiert zwei, drei schmale Landstraßen und erreicht schließlich den Bahnhof.
Wenige Minuten später fährt der Eilzug nach Köln ein, der für die Strecke entlang der Sieg etwa eine Stunde braucht. Der Junge sucht sich einen freien Platz, der in dieser Frühe noch leicht zu finden ist, dann holt er einige Bücher hervor und verbringt die Zeit bis zur Ankunft in Köln mit Lesen. Er liest Ciceros Reden in Latein, Erzählungen und Novellen deutscher Dichter des neunzehnten Jahrhunderts oder Mommsens Studien zur Römischen Geschichte — vieles davon ist Schullektüre, das meiste aber sind Bücher, die er in einer Kölner Bibliothek ausgeliehen hat, die sich in der Nähe des Rheins und seines Gymnasiums befindet.
Noch nie hatte der Junge so günstige Bedingungen für das Lesen und Lernen wie seit dem Tag, da er das Kölner Gymnasium besuchen darf. In den Freistunden ist er nach wenigen hundert Metern am Fluss, wo er auch nach dem Unterricht viel Zeit verbringt, und wenn er Lust auf neue Bücher hat, läuft er zur Bibliothek und kommt hinterher meist mit einem kleinen Stapel aus dem ockerfarbenen Gebäude zurück, in dessen altem Lesesaal er häufig die neusten Zeitungen durchblättert.
Hinzu kommt, dass er an diesem Gymnasium ein absoluter Neuling ist. Kein einziger Lehrer und niemand von den Schülern weiß etwas von seiner Vorgeschichte, stattdessen heißt es über ihn, dass er zuvor ein Musik-Internat im Süden besucht habe und durch einen berufsbedingten Umzug seiner Eltern nun auf dem Land, in der Nähe von Köln, wohne. Das ist schon richtig, stimmt aber nicht ganz, doch ihm genügen diese Angaben, so dass er sie bestätigt und mit keinem Wort erwähnt, dass er seine gesamte Kindheit in Köln verbracht hat.
Zum Glück fragt ihn auch niemand nach seiner Kindheit, über die er nicht spricht und auch nicht sprechen will. Bloß nicht wieder diese alten Geschichten! Bloß nicht an das stumme Kind und seine stumme Mutter denken! Wenn irgendjemand ihn auf seine Vergangenheit anspricht, macht er einige Bemerkungen zum Leben im Internat und erklärt zum Beispiel, wie dort der Stundenplan ausgesehen und welche Kompositionen er einstudiert hat.
Mit seinem Klavierspiel hat er sich gleich in den ersten Tagen im Gymnasium großen Respekt verschafft. Im Musikunterricht musste er vorspielen, die Stücke konnte er sich aussuchen. Er spielte den ersten Satz einer Englischen Suite von Bach und als Zugabe einige der kurzen
Papillons -Stücke von Robert Schumann. Hinterher sagte ihm ein Mitschüler, dass er wahrscheinlich der beste Klavierspieler am ganzen Gymnasium sei, selbst die Schüler der letzten Klassen spielten nicht so gut wie er. Seit diesem Vormittag gilt er als großes Talent, das man bei öffentlichen Konzerten der Schule ins Rennen schicken wird.
Er macht sich nicht viel aus diesen Auftritten, denn er weiß, dass die eigentliche Pianisten-Konkurrenz nicht am Gymnasium, sondern an der Musikhochschule zu suchen ist. Den Unterricht bei seinem Klavierlehrer Walter Fornemann intensiviert er; seit er auf das Gymnasium geht, sucht er ihn wieder wöchentlich auf. Anfangs ist Fornemann nicht mit ihm zufrieden, er findet sein Spiel blass und viel zu beherrscht, doch das ändert sich, als sie sich endlich auch wieder mit Kompositionen beschäftigen, die jünger sind als die von Bach, Mozart und Beethoven.
Das im Internat begonnene Orgelspiel gibt er zum Teil auf, jedenfalls nimmt er keinen Orgelunterricht mehr, da Walter Fornemann ihm davon abgeraten hat. Das Orgel -und das Klavierspiel sind zweierlei und schon wegen der Anschlags-Technik nicht miteinander zu vereinbaren - so lautet eine der typischen Fornemann -Erklärungen zu diesem Thema, die keine Widerrede erlauben.
Ganz und gar trennen kann er sich jedoch noch nicht von der Orgel, und um die heimliche Zuneigung nicht von einem Tag auf den ändern beenden zu müssen, sucht er während seiner Streifzüge durch die Kölner Kirchen manchmal die Empore oder einen Bereich seitlich vom Altar auf, um auf einer Orgel zu spielen. Meist trifft er auf gut verschlossene Instrumente, aber es kommt - vor allem bei kleineren Orgeln - auch vor, das s sie unverschlossen dastehen.
Wenn er einen solchen Glücksfall erlebt, spielt er einige Zeit in der menschenleeren Kirche, manchmal sogar stundenlang. In dieser Zeit verwandelt er sich wieder zurück in den gläubigen Internats-Schüler, der sich den Mönchen so nahe glaubte und kaum etwas Schöneres kannte als ihre gregorianischen Gesänge. Diese Art des Gesangs liebt er noch immer sehr, aber auch darüber spricht er mit niemandem.
Ihm gefällt, dass er jetzt viel mehr Zeit hat als in den Jahren zuvor. Der Schulunterricht dauert bis auf eine Ausnahme in der Woche nur bis zum Mittag, danach hat er frei. Einmal in der Stunde fährt der Zug zurück aufs Land, aber er nimmt nicht den ersten, den er bekommen kann, sondern täglich einen anderen. Um rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause zu erscheinen, ist es sowieso zu spät, deshalb verbringt er manchmal noch weitere Stunden in Köln und fährt erst am späten Nachmittag oder am frühen Abend nach Hause zurück.
Auch die abendliche Ankunft auf dem Land gefällt ihm, ja, es ist schön, noch bei Helligkeit auf dem kleinen Bahnhof anzukommen und über die Felder und am hoch gewachsenen Getreide vorbei wieder nach Hause zu gehen. Manchmal ist die Luft über den Wiesen milchig und ein brütender Dunst, dann sind die Gerüche, die die Landschaft ausströmt, schwer und betäubend. Oft kommt auch ein starker Regen vom Himmel, den er meist als sehr wohltuend empfindet. Nass geregnet kommt er zu Hause an und rubbelt sich die Nässe vom Haar, während in der Küche das Abendessen vorbereitet wird, die einzige Mahlzeit, die er zusammen mit den Eltern einnimmt.
Seit er mit ihnen auf dem Land lebt, fühlt er sich viel wohler als in den Jahren, die sie gemeinsam in Köln verbracht haben. Das Haus auf der Höhe ist ein helles, klares, genau für seine drei Bewohner geschaffenes Gebäude mit vielen kleinen Kammern und Räumen, in denen man gut allein sein kann. Seine Stube unter dem Dach zum Beispiel ist so eine Kammer für das Alleinsein, nur ein Schreibtisch und eine Liege passen hinein, und daneben gibt es noch ein Regal für seine Bücher und Schallplatten.
Auch die Mutter hat eine kleine Stube nur für sich selbst, ihr alter Lesesessel steht darin und ein Sekretär, an dem sie ihre Briefe schreibt. Sein Vater aber hat in dem kleinen Blockhaus, das etwas entfernt mitten im Wald steht, sein Büro eingerichtet. Neben den üblichen Büromöbeln gibt es auch hier einen Schallplattenspieler und eine große Schallplatten-Sammlung, Vater hört Musik meist unglaublich laut, im Wald ist das aber möglich, denn noch immer wohnt der nächste Nachbar einige Kilometer entfernt.
Weil jeder von den dreien gern allein ist und sich allein gut beschäftigen kann, ist das Abendessen meist die einzige Zeit des Tages, die sie gemeinsam verbringen. Fernsehen gibt es nicht, die Mutter möchte auf keinen Fall fernsehen, und der Vater würde sich höchstens politische Sendungen anschauen, kann darauf aber zugunsten des Radios gut verzichten. Wenn sie gemeinsam etwas unternehmen, spielen sie abends Karten oder Schach, Schach spielt er nur mit dem Vater, Karten spielen sie aber auch manchmal zu dritt, die Mutter liebt das Kartenspiel und ist oft die Einzige, die nach vielen Runden noch weiterspielen will.
Auch in dem kleinen Haus auf der Höhe mit dem weiten Panorama-Blick auf das umgebende Land ist es also tagsüber sehr still. Wenn er Klavier üben will, geht er in einen eigens hergerichteten, schalldichten Kellerraum, auf dessen schlichte Holztür der Vater mit Hilfe einer Schreibschablone das Wort Überaum geschrieben hat. Im Überaum steht das alte Klavier der Marke Sailer, das irgendwann gegen einen Flügel ausgetauscht werden soll. Ein solcher Flügel aber ist teuer, und das Geld für eine so teure Anschaffung ist noch nicht da.
Der Junge, den ich so deutlich sehe, hat jedoch eine Idee, wie er an das notwendige Geld herankommen könnte, doch er hat sich noch nicht getraut, diese Idee zu verwirklichen. Sie hat mit den Pferden auf der Galopprennbahn Weidenpesch zu tun, auf der er jetzt manchmal wieder etwas Zeit verbringt, und läuft darauf hinaus, durch eine einzige, riskante Wette auf einmal das gesamte Geld zu verdienen.
Damit das möglich ist, muss er sich jedoch vollkommen sicher sein, wie ein bestimmtes Rennen ausgehen wird, eine solche Gewissheit traut er sich aber nur zu, wenn er jedes der zu einem bestimmten Rennen antretenden Pferde auch genau kennt. Das jedoch wird sich so schnell nicht ergeben, was ihn vorläufig auch deshalb nicht stört, weil er sich dem Klavier der Marke Sailer verbunden fühlt und gar nicht sicher ist, ob er sich jemals von ihm trennen könnte.
Die drei, die zusammen im einsamen Haus auf der Höhe leben, lassen also einander viel eigenen Raum und vor allem auch Zeit. So fragen ihn seine Eltern nicht, was er während eines Tages nach der Schulzeit getan hat, sie vertrauen vielmehr darauf, dass er seine Zeit gut einteilt und sie auf eine ihn befriedigende Weise nutzt. Das aber tut er nach seinen eigenen Vorstellungen tatsächlich, auch wenn er auf den ersten Blick oft nur durch die Stadt schlendert, sich am Fluss Entlangtreiben lässt, sich irgendwo ins Grüne zurückzieht, etwas liest oder in einer der Seitenrinnen des großen Flusses badet.
Während dieses Schlenderns und Streunens hat er das Gefühl, endlich mehr von der Welt, von der er in der Vergangenheit so wenig mitbekommen hat, zu erfahren. Immer wieder bleibt er stehen und schaut sich lange etwas an, so dass es wie in seiner Kindheit manchmal vorkommt, dass ihn jemand fragt, warum er denn derart lange auf einen einzigen Punkt starre. Er braucht aber nach wie vor Zeit, denn all das, was er sieht, hat erst noch einige Fremdheits-Sperren zu überwinden, bis es in seinem Gehirn und vor allem in seinen Empfindungen ankommt. Schaut er nur flüchtig hin, vergisst er sofort wieder, was er gesehen hat, er will aber nicht vergessen, sondern so viel wie möglich behalten, um es meist noch am selben Tag in seine Hefte notieren und damit festhalten zu können.
Am meisten aber sieht und lernt er im Kino. Während seiner gesamten Kinderjahre war er nur einziges Mal und auch wohl nur für ein paar Minuten dort, weil die Mutter sich im Kino nicht wohlfühlte, Platzangst bekam und wieder hinaus musste. Er aber hat im Kino keine Angst, nein, im Gegenteil, es gibt kaum einen Ort, wo er sich so sicher und geborgen fühlt wie im Kino. Im Kino nämlich ist und bleibt er für sich, niemand spricht ihn an oder stört, das Kino ist für ihn geschaffen.
Wenn er mittags nach der Schule in eines hineingeht, sitzen in den dunklen, schwach beleuchteten Innenräumen mit ihren schmalen Klappsesseln kaum ein paar Menschen. Es riecht etwas muffig, als wäre seit Monaten kein Luftzug durch diese Räume geweht, überhaupt hat die Atmosphäre etwas Schläfriges, etwas von unaufgeräumten Schlafzimmern und Dämmerstuben, das ist ihm aber nur recht, auch wenn viele Besucher den billigen Aufenthalt wahrhaftig zu einem kurzen Tiefschlaf nutzen. Er aber schaltet auf Empfang, er ist hellwach, angespannt setzt er sich in eine der letzten Reihen, legt seinen Anorak oder den Mantel ab, verstaut seine Tasche unter einem Stuhl und macht es sich bequem. Endlich darf er schauen, nur schauen, das Kino ist für ihn der Raum der unbegrenzten Blick-Kontakte mit der halben Welt, ärgerlich ist nur, wenn die Filmbilder zu schnell sind und er ihnen deshalb nicht folgen kann.
Filme, die ihn nicht interessieren, gibt es nicht, deshalb braucht er im Einzelfall auch nicht darüber nachzudenken, ob er sich lieber diesen oder jenen Film ansehen sollte. Er schaut kurz auf die Plakate in den Glasvitrinen neben den Eingängen, er las st sich durch irgendein beliebiges Detail anlocken, dann zahlt er ein paar Groschen und schmiegt sich durch den Spalt eines abgewetzten Samtvorhangs ins Dunkel.
Meist beginnt das Programm mit Zeichentrick-Filmen, dann kommt die Werbung, und erst nach etwa einer halben Stunde beginnt der eigentliche Film. Von jedem, den er gesehen hat, schreibt er den Titel auf und dazu zwei oder drei Sätze darüber, was in dem Film vorkam und wie er ihm gefallen hat. Für diesen Zweck hat er eine eigene Kladde angelegt, in die er manchmal auch noch Zeitungsartikel über die jeweiligen Filme einklebt.
Seine Vorliebe gilt den Western-Filmen, von denen er sich viele mehrmals anschaut. Manchmal starrt er dann derart lange und genau auf die weiten Hintergründe der Berge und Landschaften, das s er den Faden der Handlung verliert. So etwas passiert ihm aber auch in anderen Filmen, er achtet einfach sehr auf Details, die mit der Handlung nichts zu tun haben, es sind Details der Einrichtung oder einer Nebenfigur, die ihn gelegentlich mehr interessieren als alles andere. In solchen Fällen ist er nach einer Weile so durcheinander, dass er sich den Film auf jeden Fall ein zweites Mal ansehen muss, um ihn zu verstehen. Oft genügt aber auch das nicht, dann braucht er sogar noch ein drittes Mal, er kommt von den merkwürdigen Ticks seiner Wahrnehmung einfach nicht los, und genau diese merkwürdigen Ticks sind es denn auch, die mit der anderen, dunkleren Seite seines Lebens zu tun haben ...
Von dieser anderen, dunklen Seite muss ich jetzt auch erzählen, denn all das, was ich bisher von dem Jungen in
der Adoleszenz erzählt habe, stimmt zwar, ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte aber, die ich bisher ausgelassen oder verschwiegen habe, hat mit den Resten meiner Vergangenheit zu tun, über die ich damals am liebsten überhaupt nicht mehr gesprochen hätte. Ich sprach auch fast nie über sie, ich ließ sie beiseite, und zwar so konsequent, dass während meiner gesamten Gymnasialzeit weder ein Lehrer noch ein Schüler etwas von ihr erfuhr. Und genau mit dieser scharfen Konsequenz machte ich danach weiter: Kein Wort über das Vergangene, kein Sterbenswörtchen] — das war ein Leben lang meine Devise, und ich habe mich bis auf sehr wenige Ausnahmen auch bis heute daran gehalten.
Dass ich diese Vergangenheit aber nicht loswurde, das zeigte sich schon bald nach meiner Rückkehr in die mir so vertraute und nahe Stadt an Verhaltensweisen, die mir mit der Zeit selbst unheimlich wurden. Anstatt nämlich um die Gegend, in der wir früher gewohnt hatten, einen weiten Bogen zu machen, näherte ich mich dem großen ovalen Platz vor unserem ehemaligen Wohnhaus von Tag zu Tag etwas mehr.
Es war wie eine Sucht, ja, ich handelte und bewegte mich wie ein Süchtiger, als ich zunächst wieder das Brauhaus aufsuchte, in das ich früher mit meinem Vater gegangen war, und mich wenig später von einer früheren Lebensstation zur anderen treiben ließ. Die alten Räume, sie waren noch alle vorhanden, und alle erschienen sie unschuldig und harmlos, als wären sie nie Räume meines kindlichen Schreckens gewesen: Der Kiosk, die kleine Kirche mit dem Marienaltar, die Geschäfte und Läden in den Seitenstraßen und schließlich der Kinderspielplatz direkt vor unserem Haus.
An jedem dieser Orte ließ ich mich sehen, wechselte ein paar Worte, kaufte eine Kleinigkeit oder unterhielt mich unter einem Vorwand. Schließlich hatte ich die gesamte Palette der Wege und Haltepunkte beisammen, das Bild meines Kindheitsraums war wieder komplett. Was aber suchte ich, warum zog es mich so an diese alten Orte, die ich doch eigentlich unbedingt hinter mir lassen wollte?
Noch heute fällt es mir nicht leicht, genau zu begreifen, was ich damals tat. Mein Tun ähnelte den Aktionen eines Verrückten oder eines Triebtäters, den es mit Macht an Orte zurückzieht, an denen sich etwas für ihn Schreckliches ereignet hat. Was also war mit mir los?
Um mein Verhalten besser zu verstehen, möchte ich nicht gewagt spekulieren, sondern mich an einige einfache Beobachtungen halten. So fällt mir als Erstes auf, dass ich die alten Orte vor allem deshalb aufsuchte, weil ich an ihnen erkannt werden wollte. Am liebsten war es mir sogar, wenn jemand während einer Begegnung mit mir eine Art Wiedersehen erlebte und mir im Verlauf eines Gesprächs von sich aus bestätigte, dass ich beinahe alle Ähnlichkeit mit dem stummen und hilflosen Kind von früher verloren hatte.
Ein plötzliches Innehalten beim Hören meiner Stimme, ein Erstarren beim Betrachten meines Gesichts oder meiner Bewegungen - das waren die starken Momente, die mich seltsam glücklich machten. Um solche Momente in möglichst großer Zahl zu erleben, belauerte und beobachtete ich die Reaktionen meines Gegenübers: Hatte diese Verkäuferin, an die ich mich noch gut erinnerte, nicht gerade für einen Moment gezögert, als ich ihr das Geld hingelegt hatte? Hatte mich der Zeitungsverkäufer am Kiosk nicht länger als nötig gemustert, als erinnerte mein Erscheinen ihn dunkel an etwas von früher?
In Glücks-Momenten passte alles zusammen. Ich betrat die Kappes-Wirtschaft, und mir lief ein Köbes über den Weg, der mich sofort erkannte. Ich ging in die kleine Kirche, und der Pfarrer verließ gerade die Sakristei, um bei meinem Anblick so heftig zu erstarren, als begegne er einer Erscheinung. Es war, als wäre ich aus einer langjährigen Gefangenschaft zurückgekehrt und würde nun von all denen, die an mich gedacht und die ganze Zeit für mich gebetet hatten, begrüßt und gefeiert.
Johannes - das kann doch nicht wahr sein! - oh, wie liebte ich solche Ausrufe und Beteuerungen, wie schluckte ich sie gierig und wiederholte sie später im Stillen noch einmal für mich selbst: Es konnte nicht wahr sein, dass aus mir ein anderer Mensch geworden war, nein, es konnte doch einfach nicht wahr sein, dass dieser groß gewachsene, deutlich und flüssig sprechende Junge der Johannes von früher war!
Als man mich fragte, wo ich jetzt wohne, antwortete ich, dass ich seit Neustem ganz in der Nähe aufs Gymnasium gehe und mit meinen Eltern in einem Kölner Vorort lebe. Solche Auskünfte wurden mit großer Begeisterung gehört, denn beinahe alle, die mich wiedererkannten, taten so, als wären sie von meiner Rückkehr nicht nur bewegt, sondern gerührt. Ich hatte es also doch noch geschafft, ich war über den Berg, ja, ich war gerettet!
Viele erzählten mir Einzelheiten oder Anekdoten aus den früheren Jahren, und ich hörte all diese Geschichten eine Zeit lang sehr gern. So wurde ich zu einem besessenen Zuhörer, dessen ganzes Vergnügen darin bestand, anhand von all diesen Erzähl-Details abzuschätzen, in welchen Belangen er sich von diesem früheren Leben entfernt hatte und in welchen er sogar weit darüber hinausgewachsen war.
Solche Vergleiche waren aber nur ein Grund, warum es mich so häufig an die alten Kindheitsstätten zurückzog. Ein weiterer bestand darin, dass ich das ruhige Zusammenleben mit meinen Eltern als trügerisch empfand. Gar nicht so selten hatte ich damals nämlich das Gefühl, in jedem Moment könnte dieses ruhige Leben wieder zu Ende sein oder sich auf bedrohliche Weise sogar langsam wieder in die alten, früheren Gegebenheiten zurückverwandeln.
Es waren kurze, winzige Schocks, die mich auf solche Gedanken brachten, Momente, in denen ich meine Mutter plötzlich wieder beinahe regungslos in ihrem Sessel sitzen sah, oder kleine Szenen wie die, wenn mein Vater nach getaner Arbeit nach Hause kam und als Erstes ins Bad ging, um aus der hohlen Hand Wasser zu trinken.
Am Schlimmsten aber war, wenn ich an mir selbst solche alten Verhaltensweisen entdeckte. So passierte es häufig, dass ich nach Verlassen eines Kinos eine Zeit lang nicht sprechen konnte, sondern Stunden wie ein Blockierter nur mit den Filmbildern im Kopf so lange durch die Stadt lief, bis die Blockade sich gelöst hatte. An anderen Tagen genügte schon ein kurzer Stimmungsabsturz nach Verlassen des Gymnasiums, um eine stundenlang anhaltende Sprachlosigkeit entstehen zu lassen. In solchen Fällen konnte ich nicht nur mit niemandem reden, sondern trat sogar die Flucht an, um von niemandem angesprochen zu werden. Wie gehetzt suchte ich Orte auf, an denen ich kaum einem Menschen begegnete, und wenn ich endlich einen einsamen Ort gefunden hatte, machte mir die Einsamkeit nach einer Weile derartige Angst, dass ich mir nicht anders zu helfen wusste, als wieder zurückzukehren an die vertrauten Orte und Räume meiner Kindheit rund um den ovalen Kölner Platz.
Johannes, da bist Du ja wieder! ...- wenn ich diesen Zuruf zu hören bekam, löste sich alles in mir, ich erwachte aus meinem Trance-Zustand, schüttelte die Beklemmung ab und wandte mich meinem Gegenüber zu: Dort, kaum einen Meter entfernt, stand ein Mensch, der mich kannte, von meinen Ticks wusste und mir keine Angst machte!
Natürlich erzählte ich meinen Eltern von alledem nichts, denn ich wusste ja nur zu genau, dass in unserem Haus ein absolutes Schweigegebot galt. Meinen Vater nach der Vergangenheit zu befragen, hätte nichts als einen starken Unwillen hervorgerufen, und dasselbe mit meiner Mutter zu tun, hätte schon beinahe als ein brutaler Akt, ja sogar als ein Anschlag auf ihre Gesundheit gegolten.
In mir selbst aber wurde das Verlangen, diese Vergangenheit genauer zu kennen, immer stärker. Was war vor meiner Geburt geschehen? Wie waren meine vier Brüder ums Leben gekommen? Und warum hatte ich so viele Jahre nicht sprechen können wie andere Kinder? Diese Fragen rumorten in mir, sie gingen mir beinahe täglich durch den Kopf, vor allem aber glaubte ich ganz naiv, dass ich erst nach ihrer Beantwortung und Klärung auf der sicheren Seite des Lebens stünde.
Vorerst aber fühlte ich mich ganz und gar noch nicht auf dieser Seite, denn vorerst empfand ich mich trotz aller Erfolge und trotz der unübersehbaren Fortschritte in meiner Entwicklung oft noch immer wie ein Verfolgter, der sich täglich in Acht nehmen musste, nicht von der Vergangenheit eingeholt und mundtot gemacht zu werden.

#34 
regrem патриот24.04.14 07:51
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SEIT DEM Abend, den wir gemeinsam im Il Cantinone verbracht haben, habe ich Antonia nur zwei- oder dreimal kurz im Treppenhaus gesehen. Sie war eilig, sie hatte angeblich etwas Dringendes zu erledigen, oder sie erklärte, dass sie rasch in die Wohnung müsse, weil sie einen wichtigen Anruferwarte.
Jedes Mal hatte ich dabei aber den Eindruck, dass sie eine längere Unterhaltung vermeiden wollte. Vielleicht fürchtete sie, es könne zu einer weiteren Verabredung und damit einer noch stärkeren Annäherung zwischen uns kommen, vielleicht brachte sie ihre frühere Lebenssituation aber auch noch nicht mit gewissen Veränderungen in unserer sich allmählich entwickelnden Freundschaft zusammen und brauchte einfach Zeit, sich auf diese Veränderungen einzustellen.
Ich dagegen erlebte unsere Annäherung ganz anders. Das lange nächtliche Gespräch im Il Cantinone hatte ich als eine Erlösung von der Zeit meines einsamen Umhervagabundierens empfunden, ganz zufällig war ich hier in Rom auf jemanden getroffen, mit dem ich mich nicht nur unterhalten, sondern dem ich sogar etwas anvertrauen konnte. Ja, wahrhaftig, ich hatte begonnen, Antonia zu vertrauen, langsam wuchs sie in die Rolle einer wirklichen Zuhörerin und Freundin hinein, weshalb ich von ihr nun erwartete, das s wir auf dem eingeschlagenen Weg weitermachten.
Genau solche Erwartungen haben in meinem Leben jedoch immer wieder zu großen Enttäuschungen geführt. Um das zu begreifen, muss man verstehen, dass fast alle Menschen, denen ich in meinem Leben begegnete und mit denen ich dann auch zu tun hatte, mir derart fremd waren, dass ich zwar mit ihnen auskommen und sogar bestimmte Zeiten in der Woche mit ihnen zusammen sein konnte, darüber hinaus aber keine engeren Verbindungen mit ihnen zustandebrachte.
In meiner gesamten Schulzeit kam es daher zu keiner einzigen wirklichen Freundschaft, obwohl ich mich gerade nach einem richtigen Freund sehr gesehnt habe. Stattdessen war ich höchstens ab und zu mit kleinen Gruppen von Mitschülern unterwegs, lange hielt ich es aber in diesen Gruppen nicht aus, ich musste davon, ich wollte weg und wieder allein sein, und ich hatte immer eine Ausrede parat, um mich zu verdrücken, ja ich hatte sogar eine richtige Sammlung solcher Standard-Ausreden, deren ich mich beinahe wahllos bediente. Kam es nach langen Anläufen und Umwegen aber endlich doch einmal dazu, dass sich eine gewisse Nähe zu einem anderen Menschen herstellte, war ich von dem anderen oft so hingerissen, dass ich von dieser Verbindung sehr viel erwartete.
Mit einem anderen Menschen wirklich zusammen zu sein, das führte in meinem Fall zu Ansprüchen, von denen sich derjenige, dem ich vertraute, oft überfordert fühlte. Ich wünschte mir bedingungslose Nähe, Tag für Tag, und möglichst noch auf Dauer, während mein Gegenüber nicht laufend von meinem Enthusiasmus erdrückt werden wollte.
Für mich entstanden daraus, wie gesagt, schwere Enttäuschungen, die jedes Mal dazu führten, dass ich mich für lange Zeit wieder in meine einsamen Welten zurückzog und allmählich den Glauben daran verlor, überhaupt noch einmal einen Menschen zu finden, der es mit mir aushaken würde.
Davon möchte ich später noch etwas mehr erzählen, an dieser Stelle aber genügt der Hinweis, dass ich Anto-nias Vorsicht zwar gut verstand, jedoch auch etwas enttäuscht war. Am liebsten hätte ich mich täglich mit ihr getroffen, mit ihr gegessen oder mit ihr etwas unternommen.
Eben weil ich aber nun bereits einige Enttäuschungen im Verlauf solcher Annäherungen erlebt hatte, ermahnte ich mich diesmal, meine Ansprüche unter Kontrolle zu halten. Nein, ich durfte nicht bei Antonia klingeln, nein, ich durfte ihr keinen Zettel mit einer Einladung zum Essen in den Briefkasten werfen! Das Einzige, was ich durfte, war, dann und wann in ihrer Wohnung auftauchen, um Marietta zu unterrichten. Diesen Besuchen aber ging jedes Mal eine Aufforderung von Mariettas Seite und eine Vereinbarung mit ihr über den genauen Termin voraus, so dass ich nicht in Versuchung kam, die Wohnung häufiger oder sogar für mehrere Stunden aufzusuchen.
Auch bei solchen Gelegenheiten war ich vorsichtig, ich fragte nicht danach, wo sich Antonia befand, nein, ich unterhielt mich mit Marietta überhaupt nicht über ihre Mutter, sondern konzentrierte mich ganz auf den Unterricht. In diesem Unterricht aber machte Marietta so rasche Fortschritte, dass ich sie immer wieder lobte und ihr schließlich versprach, die Idee des kleinen Konzerts auf dem Platz vor unserem Wohnhaus auf jeden Fall zu verwirklichen.
Wir arbeiten am Programm, sagte ich zu ihr, wenn wir Stücke übten, die an dem fraglichen Abend gespielt werden sollten, und jedes Mal erlebte ich, wie sich ihr Rücken dann straffte und wie sie beim Üben ernster und aufmerksamer wurde. Irgendwo in ihrem Hinterkopf gab es nun das Bild eines schwarzen Flügels, der unten auf dem weiten Platz zwischen den hohen Pinien auf einem kleinen Podest stand, getaucht in ein diffuses Licht von Scheinwerfern und umgeben von lauter Reihen von Zuhörern, die sich in seinen Anblick verloren ...
Wir arbeiten am Programm, das sagte auch Walter Fornemann damals, in meinen letzten Gymnasialjahren, immer wieder zu mir. Im Kern bedeutete das, dass wir an der Erweiterung meines Repertoires arbeiteten und dabei nicht mehr nach Lust und Laune, sondern gezielt vorgingen. Daneben bedeutete es aber auch, dass es bestimmte Konzert-Termine gab, auf die wir hinarbeiteten. Fast jeden Monat reiste ich daher in eine andere deutsche Stadt, um dort in einem Konservatorium oder einer anderen musikalischen Einrichtung aufzutreten, Walter Fornemann kümmerte sich um diese Termine, er vereinbarte sie und reiste dann und wann sogar mit.
Eine dieser Veranstaltungen führte mich nach Essen, wo ich zusammen mit einem anderen jungen Pianisten mehrere Stücke für zwei Klaviere aufführte. Zu diesem Konzert hatte ich meinen Onkel eingeladen, der, wie ich schon früher einmal erzählt habe, als Pfarrer in Essen lebte. Nach dem Konzert begegneten wir uns in einem kleinen Lokal, unterhielten uns eine Weile und kamen dabei auch immer wieder auf meine Kinderjahre zu sprechen. Hatte ich den Tag noch in Erinnerung, als das Klavier der Marke Sailer in unsere Wohnung gebracht worden war? Ja, das hatte ich. Erinnerte ich mich noch an den Garten des Essener Pfarrhauses, in dem ich als kleines Kind so gern die noch unreifen, grünen Birnen gegessen hatte? Nein, daran erinnerte ich mich nicht mehr.
Während dieses Gesprächs, in dem es dann immer wieder um das Gestern und das Heute, um die Internatsjahre, mein Klavierspiel und die Zukunft ging, kam mir dann plötzlich eine Idee: Warum fragte ich nicht einfach den Onkel nach der Vergangenheit meiner Eltern? Warum kam ich nicht beiläufig darauf zu sprechen und nutzte die Gelegenheit, ihn alles, was ich wissen wollte, zu fragen?
Ich war nahe daran, das zu tun, als mir ein noch besserer Gedanke kam. Ich fragte den Onkel, ob er mir erlaube, in seiner Kirche einmal die Orgel zu spielen, und dann erzählte ich gleich anschließend davon, dass ich in der Klosterkirche immer wieder Orgel gespielt hätte, mir das aber jetzt untersagt worden sei. Zum Schluss sprach ich noch von der geheimen Sehnsucht, die mich ab und zu überfalle, wenn ich in eine Kirche käme, in der sich eine schöne Orgel befände.
Mein Onkel reagierte genauso, wie ich erwartet hatte. Er fragte, wann ich mir denn etwas Zeit für das Orgelspiel nehmen könnte, und lud mich, nachdem ich ein paar mögliche Zeiträume genannt hatte, sofort ein, ihn zu besuchen. Ein paar Tage solltest Du aber schon bleiben, verlangte er, und ich sagte ihm auch gleich zu, dass ich auf jeden Fall so lange bleiben würde. Dann können wir einmal in Ruhe miteinander reden, sagte der Onkel, während ich auch schon nervös wurde, weil sich nun derart unerwartet die Chance auftat, etwas über bestimmte Details der Vergangenheit zu erfahren. Einen Moment fragte ich mich, ob die Gespräche mit dem Onkel mir nicht schaden würden, doch dann zwang ich mich, nicht an so etwas zu denken, sondern mich im Gegenteil darauf zu freuen, dass der Onkel sich Zeit für mich nehmen wollte.
Von außen betrachtet, waren die Essener Tage, wie ich sie später dann immer für mich genannt habe, von großer Schönheit. Morgens frühstückte ich mit dem Onkel im großen Pfarrgarten hinter dem Pfarrhaus, um dann am Vormittag einige Zeit an der Orgel zu verbringen. Mittags fuhren wir oft mit einem Wagen ins Grüne, gingen spazieren und aßen irgendwo eine Kleinigkeit, um am Nachmittag übers Land zu gondeln, von Ortschaft zu Ortschaft.
Ich spürte, dass mein Onkel bemüht war, meinen Besuch wie einen Ferienaufenthalt zu gestalten, und als ich mich mit seiner alten Haushälterin unterhielt, erfuhr ich, dass er ihr genau das gesagt hatte: Johannes macht bei uns Ferien. Ferien zu machen, bedeutete, dass ich zwar Orgel spielen, nicht aber lange auf der Orgel und dem Klavier üben durfte, und Ferien zu machen, bedeutete weiterhin, dass ich mich um nichts zu kümmern brauchte, sondern dass mir viel vom üblichen Alltag abgenommen wurde.
So hatte ich wahrhaftig einmal etwas Zeit, von der ich einen Teil in der geräumigen Küche verbrachte, wo ich mich gern mit der Haushälterin unterhielt, die aus demselben Ort kam wie meine Eltern und in der Jugend sogar mit meiner Mutter befreundet gewesen war. Deine Mutter war eine unglaublich hübsche Person, sagte sie und erzählte dann von ihren Erinnerungen: Katharina, Blumen pflückend, im Garten des großelterlichen Hauses. Katharina in einem langen weißen Kleid, nach dem Kirchgang, auf der Dorfstraße. Katharina auf dem Schützenplatz, in einer Runde mit mehreren Freundinnen, ausgelassen und fröhlich. Wir anderen Mädchen haben sie immer um ihre schöne Kleidung beneidet, erzählte die Haushälterin weiter, sie hatte einen unfehlbar guten Geschmack. Die Kleider entwarf und schneiderte sie sich selber, wir wussten nie, woher sie die Anregungen dafür bekam, das blieb ihr Geheimnis.
Ganz nebenbei erfuhr ich, dass ich selbst in meinen ersten Kinderjahren bereits mehrere Male im Pfarrhaus gewesen war. Ich hatte daran keine Erinnerung mehr, bekam jetzt aber zu hören, dass ich meine Mutter für einige Tage begleitet und mit ihr oben, in dem großen, hohen Schlafzimmer unter dem Dach, übernachtet hatte, in dem ich auch diesmal schlief. Du bist keinen Schritt von Deiner Mutter gewichen, sagte die Haushälterin und lachte, als erzählte sie eine lustige Geschichte, Du hast das Zimmer verlassen, wenn sie das Zimmer verlassen hat, Du bist ihr sogar bis zur Toilette gefolgt und hast dann vor der Toilettentür auf sie gewartet. Niemand durfte Dich berühren oder anfassen, geschah so etwas zufällig aber doch einmal, hast Du geschrieen, ah würdest Du richtige Schmerzen ausstehen. Bei Tisch hast Du so dicht neben der Mutter gesessen, dass Du Dich mit dem Oberarm an sie anlehnen konntest, und wenn Dich jemand aufgefordert hat, ihr doch ein wenig mehr Platz beim Essen zu lassen, hast Du ihn böse angeschaut und Dich noch enger an sie geschmiegt. Ich sehe noch, wie ihr manchmal zusammen spazieren gegangen seid. Kaum hattet ihr das Haus verlassen, hast Du
nach ihrer Hand gegriffen und sie dann nicht mehr los gelassen.
Du warst so ängstlich und schreckhaft, dass wir alle Angst hatten, Dir könne vor lauter Empfindlichkeit wirklich einmal etwas passieren. Es hat Dir aber niemand übel genommen, dass Du so seltsam warst, denn alle hier im Haus wussten ja, was mit Deiner Mutter während des Krieges geschehen war ...
Und was war mit meiner Mutter während des Krieges geschehen? Ich fragte die Haushälterin nicht, sondern sprach über diese Zeit nur mit meinem Onkel. Er hatte sich schon gedacht, dass ich von meinen Eltern nichts
über diese Jahre erfahren hatte, und er antwortete auf meine vielen Fragen, indem er seine Fotoalben als Erinnerungsstütze hervorholte und erzählte. Zwei ganze Nachmittage verbrachten wir zusammen in seinem Arbeitszimmer, es war sehr still, ab und zu hörte ich die Glocken der nahen Kirche schlagen. Während wir in den Alben blätterten, saßen wir dicht nebeneinander, der Onkel sprach, ich fragte nach, manchmal hatte ich das Gefühl, eine gespenstische Geisterschau zu erleben, ein Blick auf ein Leben, das ich nur hilflos betrachten, aber kaum begreifen konnte.
Wie seltsam war es zum Beispiel, die eigenen Eltern in noch jugendlichem Alter und damit als Liebespaar zu sehen! Da standen sie zusammen am Rand eines Feldes und umarmten einander, als hätten sie das Glück ihres Lebens gefunden! Meine Mutter war sichtlich hingerissen von der Eleganz des großen Mannes, der neben ihr stand, und mein Vater stand so stolz neben ihr, als hätte er eine Trophäe erobert. Sie plauderten, ja, sie hatten anscheinend beide während der Aufnahme der Fotografie miteinander gesprochen, so dass sie noch etwas Jugendliches, ja sogar Kindlich-Unverkrampftes hatten. Betrachtete man solche Fotografien, hielt man die beiden für ein lebenslustiges, humorvolles, ja sogar etwas draufgängerisches Paar, das sich gerade aufmachte, die Welt zu erobern.
Ein paar Albumseiten später aber war dann schon alles ganz anders. Meine Eltern hatten geheiratet und waren kurz nach ihrer Heirat nach Berlin gezogen, weil mein Vater dort seine erste Stelle erhalten hatte. Aus einem kleinen westerwäldischen Dorf direkt nach Berlin! Vom ausgebleichten Grasrand eines Feldes direkt auf Berliner S-Bahn-Stationen! Auf einer solchen Station standen sie dann nebeneinander, Botanischer Garten war der gut erkennbare Name der Haltestelle, dort stiegen sie meist aus und ein, weil sie in der Nähe dieser Station wohnten. Jetzt wirkten sie angestrengt, erschöpft, sehr ernst und ganz wie ein Paar, das den Kampf mit der Stadt aufgenommen hatte. Beinahe alle Berlin-Bilder zeigten sie dann auch bei bestimmten Tätigkeiten: Beim Einrichten der Wohnung, bei Einkäufen und Erledigungen, bei Treffen mit den Kollegen meines Vaters, selbst auf Ausflügen machten sie den Eindruck, als wären sie nicht aus reinem Vergnügen unterwegs, sondern um einer Pflicht zu genügen.
In Berlin wurde dann mein erster Bruder geboren, der aber bereits kurz nach der Geburt während eines Bombenangriffs ums Leben kam. Fotos von diesem früh gestorbenen Bruder gab es nicht, die einzigen Bilder, die mit diesen Ereignissen in Zusammenhang standen, zeigten meine Mutter vor einem Lastwagen, auf dem sich ein Teil der Möbel und der Wohnungseinrichtung befand. Sie schaute den unbekannten Fotografen nicht an, sie hatte den Kopf zur Seite gedreht, als gälte ihre ganze Aufmerksamkeit nicht dem Foto, das gerade von ihr gemacht wurde, sondern einer anderen, viel wichtigeren Sache.
Diese wichtigere Sache könnte die Fahrt zurück in die Heimat gewesen sein, denn unmittelbar nach dieser Aufnahme muss sie zusammen mit dem Fahrer dieses Lasters
die Heimreise angetreten haben. Damals war mein Vater längst Soldat und konnte ihr bei all diesen Aktionen nicht helfen. So brachte sie das Kostbarste an Hab und Gut allein in die ländliche Heimat zurück und pendelte nur noch ab und zu nach Berlin, um die fast leere Wohnung weiter notdürftig zu bewirtschaften. Sie hatte sich so auf Berlin gefreut, sagte mein Onkel, aber nach dem Tod des Kindes hielt sie es in der Stadt nicht mehr aus. Vorher war sie viel in den Museen und Bibliotheken unterwegs gewesen, sie hatte sich um eine Anstellung bei einer Bibliothek beworben und nach einem Bewerbungsgespräch auch fest damit gerechnet, genommen zu werden. Danach aber war von so etwas nie mehr die Rede, sie ging kaum noch aus und ernährte sich fast nicht mehr, im Grunde hatte sie nur noch die eine Sehnsucht, endlich wieder in die Heimat zurückzukehren. Wie konnten wir bloß von dort weggehen!, sagte sie immer wieder, wie konnten wir bloß!
In der Heimat war sie dann kurze Zeit später wieder schwanger geworden, und von da an war es überhaupt nicht mehr möglich gewesen, sie auch nur zu einem Aufenthalt von wenigen Tagen in Berlin zu bewegen. Die Fotografien zeigten sie daher nun wieder ausschließlich auf dem Land, zusammen mit ihren Eltern, in deren Haus sie lebte. Ah der Junge zur Welt gekommen war, wurde er ihr ganzes Glück, erzählte mein Onkel, ich habe selten ein so strahlendes Paar gesehen. Wahrhaftig, ja, von den ersten Fotos an, die von ihm gemacht wurden, lachte mein zweiter Bruder. Er hatte hellblonde Haare und einen großen Kopf und wirkte so beglückt, als wollte er mit aller Macht davon ablenken, dass er mitten im Krieg zur Welt gekommen war.
Ich schaute mir die Fotos, die von ihm gemacht worden waren, immer wieder an, die Ähnlichkeit mit mir war doch zu verblüffend. Seine blonden Haare waren an genau derselben Stelle des Kopfes wie bei mir gescheitelt, und die Stirn war beinahe genau so auffällig breit wie die meine. So hatte sein Anblick für mich etwas Irritierendes, als schaute ich in den Spiegel oder als betrachtete ich einen fernen Zwilling, der meine spätere Existenz vorweggenommen hatte. Ich fragte mich, ob er auch ganz ähnlich empfunden und gedacht hatte wie ich, ja ich vertiefte mich immer wieder in die scheinbar unbedeutendsten Details seiner Erscheinung, als könnte ich ihnen etwas entnehmen.
Dass er nur wenige Tage vor Kriegsende beim Einmarsch der Amerikaner auf einem abgelegenen Hofgut in der Nähe des elterlichen Dorfes dann ebenfalls ums Leben kam, vernichtete den Lebenswillen meiner Mutter beinahe ganz. Sie soll in der Küche des Guts gesessen und Deinem Bruder ein Honigbrot geschmiert haben, ah die Granaten in den Raum einschlugen, erzählte mein Onkel. Die Amerikaner hatten das Gut längst besetzt, aber im Tal gegenüber lag noch versprengte deutsche Artillerie, die einfach drauflos feuerte und dabei das Leben der eigenen Landsleute aufs Spiel setzte. Eine dieser Granaten ist Deinem Bruder in den Hinterkopf geschlagen, er war sofort tot.
Mein Onkel sagte eine Weile nichts mehr, schließlich war es auch für ihn nicht leicht, mir das alles zu erzählen. Auf einigen Fotografien sah man das abgelegene Hofgut, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Neben dem Wohnhaus stand eine mächtige, verwitterte Scheune, im Hintergrund gab es Wiesen und windschiefe Zäune, in der Ferne verlief eine dünne, sanft auf und ab schwingende Horizontlinie, man konnte sich kaum einen einsameren Ort vorstellen. Wieso war es aber ausgerechnet dieser Ort gewesen, an dem sich die letzten Kampfhandlungen in der Gegend ereignet hatten? Und warum hatten diese letzten Kampfhandlungen ausgerechnet meinem kleinen, damals etwas über drei Jahre alten Bruder das Leben gekostet?
Nach dem Tod Deines zweiten Bruders hat Deine Mutter noch gesprochen, jedoch nicht mehr viel, nur noch das Nötigste. Sie nahm aber am Leben um sie herum immer weniger teil, denn sie war von der Trauer derart überwältigt, dass sie nichts mehr interessierte. Ich habe ihr damals zu helfen versucht, sagte mein Onkel, ich habe viele Gespräche mit ihr geführt, aber wir drehten uns bei all diesen Gesprächen im Kreis. Deine Mutter konnte nicht verstehen, warum sie zum zweiten Mal ein so hartes Schicksal getroffen hatte, sie gab sich sogar selbst die Schuld, als wäre ihre besondere Vorsicht der Grund für den Tod Deines Bruders gewesen. Diese Vorsicht hatte sie das einsame Hofgut aufsuchen lassen, dort hatte sie sich sicher geglaubt, gerade dieser entlegene Ort hatte sich dann aber als der unsicherste der Gegend erwiesen.
Wenige Monate nach Kriegsende hatten meine Mutter und mein schwerverletzt aus dem Krieg heimgekehrter Vater dann jene Wohnung in Köln bezogen, in der ich aufgewachsen war. Auch von der Inbesitznahme dieser Wohnung gab es keine Fotos, wohl aber einige wenige Aufnahmen von meinem Vater, der mit Hut und im Mantel vor der Haustür stand, als hätte er dort Posten bezogen und müsste jetzt tagelang unbeweglich an genau dieser Stelle stehen und ausharren. Wir hatten uns von dem Umzug nach Köln viel versprochen, sagte mein Onkel, doch dann wurde alles noch schlimmer. Deine Mutter bewegte sich nicht mehr aus dem Haus, sie wurde stumm, und wir alle wussten nicht, was dagegen zu tun war. Auf keim mögliche Ablenkung ließ sie sich ein, sie hörte keine Musik, sie las nicht, ihre einzigen Wege führten sie in die Kirche, wo sie sich dann lange Zeit in der Nähe des Marienbildes aufhielt. Später hat Dein Vater einmal gesagt, der Anblick dieses Bildes habe ihr die Kraft gegeben, weiter am Leben zu bleiben, wir können heute nicht wissen, ob das so war, was wir aber wissen, ist, dass diese stumm und leblos gewordene Frau dann noch zweimal versucht hat, ein Kind TM bekommen. Jedes dieser beiden Kinder aber wurde tot geboren, und das war so furchtbar, dass ich selbst kurz davor war, den Beruf des Pfarrers aufzugeben. Ja, Johannes, so war es wirklich, ich habe mit Gott gehadert und mich am hellen Tag allein und verzweifelt in meinen dunklen Beichtstuhl gesetzt, um Gott anzuklagen, dass er etwas derart Furchtbares zuließ.
Ich habe bisher noch wenig von Deinem Vater gesprochen, sagte mein Onkel später, ich muss jetzt aber unbedingt auf ihn zu sprechen kommen. Ohne ihn hätte Deine Mutter nicht weitergelebt, ohne ihn nicht! Und damit Du genau verstehst, was für ein Mann er damals war, erzähle ich Dir von der Beerdigung Deines vierten Bruders, an der Deine Mutter natürlich nicht mehr teilnehmen konnte. Niemand von uns Verwandten konnte eigentlich noch an einer solchen Beerdigung teilnehmen, selbst mir war es in diesem Fall nicht mehr möglich, meine priesterlichen Pflichten zu erfüllen. Deshalb hatten wir den Pfarrer unseres Dorfes gebeten., diese schwere Aufgabe zu übernehmen, der Mann gab sich die größte Mühe, stoisch zu bleiben., aber auch ihm kamen am offenen Grab vor der versammelten Trauergemeinde dann die Tränen, so dass er nicht weitersprechen konnte. Stell es Dir vor, stell Dir vor, dass die Zeremonie stockte und keiner noch ein Wort sprechen konnte! Es war ein furchtbarer, allen Schmerz übersteigender Moment, aus dem niemand noch einen Ausweg wusste. In diesem Moment aber trat Dein Vater am Grab, schnauzte sich kurz, atmete zwei-, dreimal tief durch und betete dann mit fester Stimme: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, auf grünen Auen lässt er mich lagern; an Wasser mit Ruheplätzen führt er mich, Labsal spendet er mir. Er leitet mich aufrechter Bahn um seines Namens willen. Auch wenn ich wandern muss in finsterer Schlucht, ich fürchte doch kein Unheil, denn Du bist bei mir, Dein Hirtenstab und Stock, sie sind mein Trost ...“
Es war ein schlimmer Moment, als mein Onkel mir von diesem Gebet meines Vaters erzählte, denn plötzlich sah ich ihn vor mir, wie er sich während meiner ganzen Kindheit um meine Mutter und mich gekümmert hatte, wie er später mit mir aufs Land gezogen war, wie wir zusammen in der freien Natur unterwegs gewesen waren, und wie er in jedem Moment darauf vertraut und gehofft hatte, dass ich irgendwann wieder sprechen würde ...
Was hatten meine Eltern bloß für ein Leben geführt! Konnte man sich überhaupt noch schrecklichere Jahre denken als die, die sie vor meiner Geburt zusammen erlebt hatten? Und wie war es meinem Vater nach dem Tod von vier Söhnen noch möglich gewesen, derartige Gebete zu sprechen? Ich unterhielt mich mit meinem Onkel darüber, und er antwortete, dass mein Vater einen tiefen, unerschütterlichen Glauben habe, einen Glauben, der durch kein irdisches Geschehen auch nur einen Deut ins Wanken geraten könne. Der Festigkeit dieses Glaubens hätten wir zu verdanken, dass meine Mutter am Leben geblieben sei, ja, auch mein eigenes Leben hätte ich wohl nur diesem starken Glauben zu verdanken.
Und wie hatte sich dieses, mein eigenes Leben vor den ersten Tagen, an die ich mich noch erinnern konnte, abgespielt? Nach Deiner Geburt, sagte mein Onkel, warst Du ein Kind wie jedes andere auch. Dein Verstummen begann erst, als Du etwa drei Jahre alt warst. Es war die Zeit, in der Du gar nicht mehr von Deiner Mutter lassen wolltest und in der Du Tag und Nacht so eng mit ihr zusammen warst, dass wir Deine Mutter vor dieser gefährlichen Entwicklung warnen mussten. Sie wollte Dich aber nicht freigeben, denn sie hatte einfach zu große Angst, dass auch Dir etwas passieren könne. Und Du? Du wiederum entwickeltest Dich zu Ihrem Beschützer, denn natürlich nahmst Du jetzt wahr, dass ihr etwas fehlte, dass sie Hilfe brauchte, dass sie dies und das nicht so bewältigte wie andere Menschen. Mit der Zeit nahmst Du ihre Verhaltensweisen an, Du setztest Dich neben sie, wenn sie ein Buch hervornahm, Du trankst etwas, wenn auch sie etwas trank. Es war, als hättest Du ihr beistehen wollen, indem Du ihr zeigtest, dass Du immer für sie da warst und ganz und gar zu ihr gebartest. Deshalb durfte Dich ja auch niemand anrühren, und deshalb gingst Du nur mit ihr aus! Erst wurdest Du immer verschlossener, dann aber sagtest Du keinen Ton mehr. Du hattest Dich ihrem Leben und vor allem ihren Leiden so angepasst, dass Du plötzlich selbst wie ein Bild des Leidens erschienst ...
So war das also gewesen! Plötzlich erkannte ich die Zusammenhänge und begriff deutlicher, warum ich manchmal so seltsam gehandelt hatte und manchmal noch immer so handelte. Mein Leben war eine mühevolle, schrittweise Befreiung von all diesen schlimmen Vergangenheiten gewesen, die ich erst allmählich hatte abstreifen und zumindest in ihren gefährlichsten Momenten hatte zurücklassen können.
Dann und wann tauchten diese nächtlichen, dunklen Momente aber wieder auf und machten mir zu schaffen, denn im Grunde besaß ich nur wenige schwache Hilfsmittel, um ihnen zu begegnen. Das stärkste dieser Hilfsmittel war das Klavierspiel, ein anderes, jedoch weitaus schwächeres, waren die Aufzeichnungen und Notizen, mit deren Hilfe ich das Leben um mich herum festhielt.
An diese beiden Hilfsmittel hatte ich mich mit den Jahren derart geklammert, dass ich ohne sie kaum noch existieren konnte. Ließ ich in einer dieser beiden Vergewisserungs-Arbeiten auch nur ein wenig nach, spürte ich eine starke Irritation und wurde schon bald sehr unruhig. Dann stieg die alte Angst in mir hoch, dann begann ich, mich von den anderen Menschen zu entfernen und schließlich zu trennen, als müsste ich ihnen den Anblick einer bedauernswert hilflosen Existenz ersparen.
Ich sagte bereits, dass die Essener Tage von außen betrachtet sehr schöne Tage waren, unter dieser ruhigen, schönen Oberfläche aber wuchs mit den Tagen eine innere Unruhe, die mich dann lange Zeit keine Nacht mehr schlafen ließ. Waren die schlimmen Zeiten und Erfahrungen wirklich ganz vorüber? Oder musste ich Angst haben, sie in anderen Facetten und Konstellationen wieder zu erleben?
Niemand konnte mir helfen, solche Fragen zu beantworten, ich musste mit ihnen allein zurechtkommen. Vor allem aber musste ich mir Gedanken machen, wie es mit meinem Leben weitergehen sollte. Sollte ich mich -wie seit langen Zeiten geplant - um einen Studienplatz an einer Musikhochschule bewerben? Und sollte ich wirklich alles riskieren und nur auf eine pianistische Laufbahn setzen?
Es war in den Tagen nach meiner Rückkehr aus Essen, als sich am Horizont eine vage Idee abzuzeichnen begann, die mich dann von Tag zu Tag mehr beschäftigte. Sie war unter anderem dadurch entstanden, dass mein Onkel nicht nur vom Leben meiner Eltern, sondern schließlich auch von seinem eigenen Leben erzählt hatte. Dabei hatte er leidenschaftlich und begeistert von Rom und jenen beiden Jahren gesprochen, in denen er als junger Theologe dort studiert hatte.
Auch von diesen Jahren hatte er mir Fotografien gezeigt, und ich hatte einen schlanken, schwarz gekleideten jungen Mann gesehen, der sich von seinem kleinen ländlichen Heimatort abgesetzt hatte, um eine andere Kultur kennen zulernen und das Leben zu Hause zumindest für einige Zeit ganz hinter sich zu lassen.

#35 
regrem патриот24.04.14 07:52
NEW 24.04.14 07:52 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:25 (regrem)

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ROM - ich kann gar nicht sagen, wie ich mich auf den Augenblick gefreut habe, von meinen Jugendjahren in dieser Stadt erzählen zu können! Innerlich spürte ich beim Nachdenken über mein Leben immer, dass alles auf diese Jahre in Rom zulief und dass sie die wichtigste Zeit meines Lebens waren. Vor allem um dieser Zeit wieder nahe zu sein, bin ich ja, ehrlich gesagt, auch hierher aufgebrochen und schreibe jetzt ausgerechnet hier Tag für Tag an meiner Erzählung.
Während dieser Arbeit habe ich mich jedoch an den Vorsatz gehalten, all jene Orte, an denen ich mich früher einmal herumgetrieben oder sogar gelebt habe, nicht aufzusuchen. Ich habe vielmehr möglichst einen weiten Bogen um sie gemacht, als wären es brandgefährliche oder riskante Orte, die meine gesamten Phantasien sofort besetzen oder durcheinanderbringen könnten.
So habe ich bis jetzt nur manchmal an sie gedacht, bis jetzt, wo ich mit der Schilderung meiner Kindheit und Jugend in Deutschland an ein vorläufiges Ende gekommen bin. Ich wollte all die in Deutschland verbrachten Jahre noch einmal genau vor mir sehen und sie ohne jede Ablenkung oder Störung besser begreifen, ja ich wollte sie unbedingt noch einmal in allen mir wichtigen Einzelheiten erleben, um mich danach wieder frei in Rom bewegen zu können.
Woher damals der erste Impuls kam, hierher zu reisen, habe ich bereits angedeutet. Zunächst handelte es sich nur um eine unbestimmte Idee, die sich an die Erzählungen meines Onkels und den ebenfalls seit Langem bestehenden Wunsch anlehnte, auch einmal ins Ausland und vor allem nach Italien zu reisen.
In meinen gesamten Ferienzeiten während der letzten Gymnasialjahre war ich nämlich nie ins Ausland gefahren, sondern hatte viele deutsche Landschaften meist zu Fuß oder mit dem Fahrrad durchstreift. Ich war durch Schleswig-Holstein und von Hamburg aus südlich an der Elbe entlanggefahren, ich war den Rhein von Mainz bis zur holländischen Grenze stromabwärts gewandert, ich war am Main und an der Donau gewesen und hatte ihren Lauf für einige Wochen begleitet - immer wieder war ich dabei allein unterwegs gewesen, und immer wieder hatten diese Reisen denselben Zielen gegolten.
Zum einen bestanden diese Ziele aus Konzertsälen aller Art, in denen ich möglichst auch gleich einen Klavierabend erleben wollte, zum anderen aber bestanden sie aus Kirchen, von denen ich die meisten nur wegen ihrer Orgeln, andere wegen ihrer Kunstdenkmäler, viele aber auch wegen ihrer Akustik besuchte. Das notwendige Reisegeld verdiente ich mir mit Auftritten in Wirtschaften, Clubs und anderen Versammlungsstätten, wo ich keineswegs nur klassische Musik, sondern die seltsamsten Programme spielte.
Es waren Programme von zweimal dreißig oder wahlweise auch fünfundvierzig Minuten, die aus kurzen, höchstens fünfminütigen Stücken bestanden, auf Domenico Scarlatti folgte Duke Ellington, auf Joseph Haydn folgte Ravel, und zwischendurch improvisierte ich frei über Motive, die ich aus der Pop-Musik, Schlagern oder einfach nur aus zufällig mitgehörten Radio-Sendungen entlehnt hatte.
Auch in Köln trat ich mit solchen Programmen auf, verwendete jedoch bei all diesen Gelegenheiten ein Pseudonym, da ich meinen guten Ruf als klassischer Pianist nicht vorzeitig ruinieren wollte. Hätte Walter Fornemann erfahren, mit welchen Musik-Programmen ich mein Geld verdiente, wäre ich nicht länger sein Schüler geblieben.
All diese Reisen und Unternehmungen aber hatten auf die Dauer immer mehr die Sehnsucht verstärkt, den deutschsprachigen Raum endlich einmal zu verlassen. Die Hauptursache dafür, dass ich das nicht tat, bestand in meiner geradezu abnormen und mir nicht auszuredenden Angst davor, im Ausland Tag und Nacht eine fremde Sprache sprechen zu müssen.
Ich hatte mich mit Leuten unterhalten, die mein Sprachproblem und meine daher rührenden Ängste kannten. Sie hatten zwar kategorisch ausgeschlossen, dass ich die eigene Sprache wieder verlieren würde, wenn ich mich intensiv auf eine fremde einließ, ich selbst war mir da aber nicht sicher, sondern argwöhnte lange Zeit, dass so etwas sehr leicht passieren könnte.
Schon im Schulunterricht hatte mich das Erlernen fremder Sprachen häufig verwirrt, weshalb ich keine Fremdsprache auch nur in Ansätzen richtig gelernt, sondern es nur zu einem passiven Leser von Texten und zu einem Wiederkäuer von vorgefertigten sprachlichen Wendungen gebracht hatte. Flüssig und unangestrengt
eine fremde Sprache zu sprechen, das war mir nie gelungen, ja ich hielt es sogar für unmöglich, dass mir so etwas je gelingen würde.
War es vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen aber nicht denkbar, dass ich im Ausland, wenn ich nicht nur ein paar Stunden, sondern unaufhörlich eine fremde Sprache sprechen musste, in seltsame und unerwartete Konfusionen geriet? Schließlich verlief alles, was mit dem Sprechen, der Sprache und meiner Vorstellungskraft zu tun hatte, in meinem Fall nicht normal, sondern häufig auf unerwartete, verquere Art. Wie aber, wenn mich in einem solchen unerwarteten Fall niemand verstand und ich ganz auf mich selbst angewiesen war? Am Ende hätte ich vielleicht irgendwo krank und verstört im fernen Ausland gesessen und es nicht einmal fertiggebracht, einen einzigen verständlichen Satz zu formulieren.
Schon allein der Gedanke an Reisen ins fremdsprachige Ausland hatte in mir also bereits eine gewisse Panik ausgelöst, so dass ich mich höchstens bis in Regionen vorgetraut hatte, wo zumindest zum Großteil Deutsch und nur von Minderheiten andere Sprachen gesprochen wurden. Eine dieser bevorzugten Regionen war Zürich gewesen, dorthin war ich sogar immer wieder und fast regelmäßig mehrmals im Jahr gefahren.
In Zürich besuchte ich Klavierabende in der Tonhalle, dort trat ich in einem kleinen Club direkt an der Limmat auf, ja, ich hatte in Zürich sogar einige Bekannte, die sich über meine Besuche freuten und mit mir Streifzüge durch die Stadt unternahmen. Auf diesen Streifzügen durch die Cafes und Lokale war ich nicht nur einigen
Schweizer Schriftstellern begegnet, nein, ich war auch immer wieder in kleine Gesprächsrunden geraten, in denen entweder Schweizer-Deutsch oder Französisch, Englisch oder Italienisch gesprochen wurde.
Meine Zürcher Freunde hatten mit diesen plötzlichen Sprüngen von der eigenen Sprache in eine andere keine Probleme, meist beherrschten sie das Französische und Italienische sogar so selbstverständlich, dass sie mitten im Satz die Sprache wechseln konnten. Ich selbst aber geriet in solchen Situationen schon nach Sekunden derart durcheinander, dass ich mich wenige Minuten später unter einem Vorwand verabschieden und das Weite suchen musste.
Nichts wie weg! Hinaus aus diesem Cafe! Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich wieder beruhigt hatte, denn während der mehrsprachigen Gesprächsrunden hatte ich das Gefühl gehabt, die deutschen Worte in meinem Kopf würden eins nach dem anderen durch fremdsprachige ersetzt. Ich spürte genau, wie sie zugunsten eines Kauderwelschs verschwanden, sie lösten sich auf oder veränderten sich, sie wurden flüssig oder zerbrachen in unverständliche, kleine Bestandteile.
Kann man sich vorstellen, dass ich mich in solchen Panik-Momenten an einen ruhigen Ort wie zum Beispiel den Zürcher-See setzen musste, um wieder zu mir zu kommen? Und kann man sich vorstellen, dass der dann regungslos dasitzende, konfus gewordene Mensch im Stillen begann, Gedichte zu rezitieren, um sich des besonderen Klangs und Ausdrucks der deutschen Sprache wieder zu vergewissern?
Ich möchte von diesen sonderbaren Momenten, die hoffentlich für immer hinter mir liegen, nicht weitererzählen, ich erwähne sie an dieser Stelle auch nur, um an einem Beispiel zu zeigen, dass meine Angst vor einem Aufenthalt im fremdsprachigen Ausland nicht unbegründet war. Solchen Aufenthalten deswegen aber ein Leben lang aus dem Weg zu gehen, war auch nicht möglich, irgendwann musste ich einen Versuch wagen.
Daher hatte ich mich schließlich auf die Phantasie eingelassen, sofort nach dem Abitur für zwei, drei Wochen nach Rom zu reisen. Vom ersten Moment ihrer Entstehung in den Essener Tagen an verwandte ich auf die Ausschmückung dieser Phantasie einige Arbeit. Ich las viel über Rom und schaute mir lauter Filme an, die in Rom spielten. Nach einer Weile war ich so voller Bilder, dass ich an einem Nachmittag in einem Kölner Brauhaus mit eigenartigen Notizen begann, die einem nicht informierten Leser wie Römische Notizen hätten erscheinen können.
Ich habe diese alten Notizen jetzt vor mir, und ich öffne jetzt die kleine, schwarze Kladde, die ich als junger Mann noch in Köln angelegt habe, um mich in die Ferne zu hexen und nach Rom zu phantasieren: Ein einfaches, karges Zimmer mit einer schmalen, flachen Liege ... Eine Front von verschlossenen, grünen Läden ... Ein alter, kahlköpfiger Mann im weißen Unterhemd ... Die Palmen im Innenhof, in ihrer Mitte ein kleiner Brunnen ...In einer Kirche knien ausschließlich Frauen, jede von ihnen in einer anderen Bank ... Die gewundene Gasse, die so aussieht, als wäre sie ein immer schmaler werdender Geheimnisweg, den man nicht mehr zurück-, sondern auf dem man immer nur vorangehen kann ...
All diese kleinen Beobachtungen und Bilder hatte ich entweder Büchern oder Filmen entnommen, ja, ich hatte während meiner Lektüre und während meines Schauens von Filmen begonnen, mir solche Bilder zu merken, um sie schließlich auch schriftlich zu speichern.
Es war ein ganz und gar verrücktes Projekt, das ich dem alten Sprachlernprogramm meines Vaters abgeschaut hatte. Bild für Bild und Raum für Raum setzte ich Rom in meinem Kopf zusammen, bis ich bei der Nennung von bestimmten Straßennamen sogar einige entsprechende Bilder vor Augen hatte.
Ich wollte in Rom ankommen als einer, der bereits mit Bildern von dieser Stadt gesättigt war, ich wollte Rom nicht als eine fremde, sondern als eine Stadt betreten, die ich in meiner Phantasie längst durchstreift hatte und die mir daher vielleicht noch vertrauter war als eine mir unbekannte deutsche Stadt. So glaubte ich, gegen meine Ängste gewappnet zu sein ...

#36 
regrem патриот24.04.14 07:53
NEW 24.04.14 07:53 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:26 (regrem)

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JETZT, JA. Ich sehe mich jetzt, wie ich zwei Tage nach dem endlich bestandenen Abitur auf der Stazione Termini in Rom ankomme. Ich habe nichts als meinen alten Seesack mit wenigen Utensilien dabei, und als erste Anlauf-Station besitze ich nichts als die Adresse einer Kirche, die der deutschen Rom-Gemeinde gehört. Die Adresse habe ich von meinem Onkel erhalten, der mit dem Pfarrbüro der Gemeinde telefoniert und mich für den Morgen des kommenden Tages angemeldet hat.
Jetzt aber ist Nacht, es ist meine erste römische Nacht, und ich werde das wenige Geld, das ich bei mir habe, nicht für eine Übernachtung ausgeben, nein, ich werde meine erste römische Nacht im Freien verbringen. Und so gebe ich meinen alten Seesack an der Gepäckaufbewahrung ab und gehe ohne jedes Gepäck und nur mit einem kleinen Geldbetrag in der Tasche einfach los.
Ich stehe jetzt draußen im Freien, es ist kurz nach zweiundzwanzig Uhr, vor der Stazione Termini drängen sich die Ankommenden in die Busse und verschwinden ins Zentrum. Ich atme durch, ich bleibe stehen und schaue. Dort geht es zur Piazza della Repubblica, ja genau, und dort drüben ist das Thermenmuseum. Vor dem Bahnhof ballt sich eine wohltuende Wärme, die nach der langen Zugfahrt beruhigend wirkt. Ich gehe ein paar Schritte, spüre aber, dass mich etwas davon abhält, immer weiterzugehen. Ich habe es nicht eilig, ich habe Zeit, mich hier in der Nähe des Bahnhofs auf eine Bank zu setzen und nichts anderes zu tun als zu schauen. Es sind etwa zweihundert Meter bis zur Piazza della Repubblica, einem kreisrunden Platz mit einer großen Brunnenanlage. Von dort geht der Blick einen breiten Corso hinab in die vom gelben Straßenlicht durchfluteten Häuserschluchten. Der unermüdlich fließende Verkehr. Die Kaffeearomen in der Nähe der Brunnen. Die hohen Pinien mit ihren hellbraunen, gefleckt im Neonlicht schimmernden Stämmen.
Ich setze mich auf eine Bank, es ist eine breite, kühle Marmorbank ohne Rückenlehne, es ist eine Bank für mindestens sechs Personen, die ringsum auf ihren Rändern sitzen könnten. Ein junges, schwarzhaariges Mädchen in einem fleckigen weißen Kleid setzt sich zu mir und bettelt um etwas Geld. Ich mache ein paar Zeichen: Ich habe kein Geld, und außerdem bin ich stumm. Ich bin eine stumme, beinahe mittellose und hungrige Person. Sie starrt mich an und schüttelt den Kopf. Ich begreife nicht, was sie von mir will, ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagt. Sie legt ihre rechte Hand auf meine Schulter, als müsste sie mich beruhigen, dann verschwindet sie.
Später erscheint sie plötzlich wieder, jetzt hat sie eine kleine, armselige Tasche dabei. Sie stellt die Tasche neben mir ab, holt zwei Gläser hervor und füllt sie aus einer großen bauchigen Flasche mit Wein. Sie sagt kein Wort, sie deutet auf die beiden Gläser, ich nehme eines in die Hand, wir trinken. Sie fragt mich etwas, ich nicke, sie fragt mich weiter, ich mache eine hilflose Geste, dann trinken wir aus, und sie verschwindet blitzschnell hinter meinem Rücken ins Dunkel.
Ich sitze und schaue weiter, ich bin ganz ruhig, es ist seltsam, aber ich habe nicht das Gefühl, an einem fremden Ort angekommen zu sein. Woher kommt das? Warum fühle ich mich nicht fremd? Was ist mit dieser Stadt? Ich sitze da, als könnte ich mich nicht von der Bank lösen, bevor ich diese Fragen nicht beantwortet habe. Irgendetwas ist seit meiner Ankunft geschehen, aber ich verstehe nicht, was es ist. Ich spüre nur, dass ich anders als bei meinen sonstigen Fluchten und Reisen weder eine gewisse Anspannung noch irgendeine Unruhe empfinde, im Gegenteil, ich fühle mich leicht, unbeschwert, ja kurz davor, etwas zu singen. Ich will singen? Wieso will ich singen? Was, verdammt noch mal, ist denn bloß mit mir los?
Endlich stehe ich auf, überquere den Platz und gerate unter die hohen Arkaden eines Cafes. Die Menschen sitzen draußen im Freien, niemand nimmt von mir Notiz, ich kann an all diesen kleinen Tischen entlanggehen, ohne beachtet zu werden. Und wie ist es drinnen? Ich gehe in das Cafe und setze mich an die lange Theke der Bar, ich will etwas auf mein Wohl trinken, ja, ich will diesen einzigartigen Moment feiern, meine Freude, meine Erleichterung.
Als die Bedienung kommt, mache ich eine Trinkgeste und deute an, dass ich stumm bin. Seltsamerweise lächelt der Kellner und greift nach einer Flasche, die er mir hinhält. Wasser? Nein, ich schüttle den Kopf. Wein? Ja genau, ich strecke den rechten Daumen hoch, Wein, ein Glas. Er versteht mich, füllt ein Glas und schiebt es mir hin. Er will wissen, ob ich ihn verstehen kann, er fragt mich mit einer Geste beider Hände, ob ich taub bin. Ich bleibe ernst und verneine die Frage mit einem Kopfschütteln, nein, ich bin nicht taub, ich bin stumm. Er nickt und lächelt wieder, er hat mich verstanden. Ich greife nach dem Glas und trinke, der Wein schmeckt
beinahe genauso wie der, den mir das junge Mädchen angeboten hat. Es ist ein leichter, unmerklich perlender Weißwein, wie ich ihn noch nie getrunken habe. In Deutschland habe ich fast überhaupt keinen Wein getrunken, und in Deutschland wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, ein solches Cafe zu betreten und dort ein Glas Wein zu trinken.
Warum aber hier, in Rom? Warum bin ich gerade ohne jedes Nachdenken in dieses Cafe und weiter an seine Bar gegangen? Ich erkenne mich nicht mehr wieder, nein, ich handle nicht mehr so, wie ich sonst immer gehandelt habe. Irgendetwas ist passiert, aber ich komme immer noch nicht darauf, was es sein könnte. Ich sitze regungslos an der Theke, als müssten mir jetzt endlich Antworten auf meine Fragen einfallen, es ist ein beinahe zwanghaftes Sitzen, denn ich spüre, dass ich ganz nahe an einer möglichen Antwort bin.
Drinnen im Cafe ist es angenehm kühl, ich leere mein Glas und will bezahlen. Der Kellner aber winkt ab, es ist so in Ordnung, ich brauche nicht zu bezahlen, anscheinend hat der stumme Mensch, als der ich aufgetreten bin, ihn gerührt. Ich schaue auf die Preisliste hoch oben hinter der Theke und erkenne, dass ein Glas Wein nicht viel kostet. Einen so geringen Betrag kann ich bezahlen, ja, das geht. Ich hole das Geld hervor, der Kellner macht eine abwehrende Geste, aber ich bezahle, denn ich will von meiner Notlüge nicht auch noch profitieren.
Als ich den Caferaum verlasse und wieder draußen unter den Arkaden stehe, habe ich die Ankunft hinter mir. Wie leicht und schön es war, in Rom anzukommen! Und wie leicht mir hier alles fällt! Ich spüre mich kaum noch, ich habe fast keine Erinnerung mehr daran, wie umständlich und schwer alles einmal war! Ist das Freude? Reine Freude? Ist das, was ich gerade empfinde, nicht die reinste, unbeschwerteste Freude?
Als sich die Fragen und Gedanken so zuspitzen, spüre ich eine plötzliche Hitze im Kopf. Es ist wie ein glimmendes Kribbeln, wie ein sich entzündendes kleines Feuer, das Flammen nach allen Seiten sprüht. Was ist mit mir? Ich verlasse den Arkadenbereich rasch und eile zurück zu der Marmorbank, auf der ich zuvor gesessen habe. Ich zwinge mich, jetzt an nichts Schlimmes zu denken, aber es geht schon, die Hitze lässt bereits nach. Ich brauche mich nicht zu beunruhigen, nein, ich brauche es nicht. Und warum nicht? Weil ich fort bin, ja, ich bin fort, ich lebe nicht mehr in dem Land, in dem ich so viel Angst ausgestanden habe, ich hinfort.
Als sich diese drei Worte immer wieder in meinem Kopf wiederholen, verstehe ich plötzlich, was seit meiner Ankunft in Rom geschehen ist. Ich fühle mich frei, ja, das ist geschehen, die Ankunft in Rom ist verbunden mit dem Gefühl einer einzigen, großen Befreiung. Niemand umkreist mich, nichts rückt mir auf den Leib, man lässt mich in Ruhe, zum ersten Mal in meinem Leben lässt man mich ganz und gar in Ruhe, leb bin fort, murmle ich und sage dann den ersten lauten Satz in der Ewigen Stadt: Johannes, Du bist jetzt fort! Und weiter. Ich bin draußen, ich habe es endlich geschafft.
Als ich höre, wie ich das alles sage, und als sich die Sätze mit dem Anblick der herrschaftlich schönen und weiten Kulisse verbinden, ist aber nun doch alles zu viel. Verdammt! Ich sitze auf einer römischen Senatorenbank, und mir kommen die Tränen. Nicht einmal ein Taschentuch habe ich dabei, nicht einmal das! Und warum hört das Weinen nicht auf, warum nicht?
Es gibt nichts mehr zu weinen, es gibt hier keinen Grund für viele Tränen, Weinen und Tränen haben doch mit Schmerzen zu tun, aber ich empfinde hier keinen Schmerz. Nein, verdammt, wirklich nicht! Keinen Schmerz! Ich bin schmerzfrei! Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, vollkommen schmerzfrei zu sein! Und deshalb ist jetzt auch Schluss mit den Schmerzgesten. Auch von den Schmerzgesten bin ich nämlich befreit. Kein Stummentheater mehr, überhaupt kein Theater der Hilflosigkeit! Schluss mit der Pantomime! Sag es noch einmal, sag es laut: Johannes, Du bist in Rom!
Ich schlucke und schlucke, während das Weinen nicht aufhören will. Es ist aber kein richtiges Weinen, sondern eine Art Strömen, ein ununterbrochenes Strömen von Tränen. Sie sickern aus meinen Augen wie ein Rinnsal, als könnte ich nichts dagegen tun. Und es stimmt, ich habe keinen Einfluss auf dieses Fließen, denn es kommt von einem mir unzugänglichen Zentrum im Kopf, in dem sich gerade einiges klärt. Bald wird das alles vorbei sein. Dann werde ich hinüber zu dem großen Brunnen gehen und mein Gesicht waschen. Und danach werde ich
hinab in die Stadt gehen, und wenn ich Lust habe zu singen, werde ich, verdammt noch mal, singen! ...
Etwas später habe ich mir das Gesicht mit dem Wasser des großen Brunnens gewaschen und gehe wirklich den breiten Corso hinab in die Stadt. Von einem der römischen Hügel gehe ich hinab in die römische Ebene. Dort sind die Kaiserforen, und dort hinten, das ist das Kolosseum. Ich gehe eine breite, nur noch wenig befahrene Straße an den Kaiserforen entlang auf das Kolosseum zu. Ich bleibe nicht vor ihm stehen, sondern umrunde es langsam. Von den sandigen Höhen, die es umgeben, weht ein weicher Kieferngeruch. Überall verstreut auf dem Boden liegen die Nadeln, braun und von der Sonne verbrannt. Der römische Teppich, der Teppich aus Pinien- und Kiefer Nadeln.
Ich will jetzt nirgends lange verweilen, sondern eine nächtliche Spur durch die Ewige Stadt ziehen. Deshalb bewege ich mich einfach weiter und gehe die breite Straße zurück. In den dunklen, kaum angestrahlten Ruinen und Tempelzonen brennen kleine Feuer. Ich sehe Menschen hin und her huschen, aber ich kümmere mich nicht weiter darum. Mein Ziel ist der Corso, die breite Gerade, die das römische Herz der alten Wohngegenden wie ein scharfer, massiver Hieb durchschneidet. Ich gehe auf einen fernen Obelisken zu, ich habe ihn fest im Blick.
Ich bin jetzt sicher, dass mir das, was mir eben passiert ist, nicht noch einmal passieren wird. Eine leichte, wunderbare Leere ist in mir, sie ist ein Zeichen dafür, dass
ich keine Schmerzen mehr habe. Rechts und links, in den Seitenstraßen des Corso, sitzen die Menschen an kleinen Tischen und essen. Es ist weit nach Mitternacht, aber in diesen von kleinen Öllampen erleuchteten Seitenstraßen wird noch immer gegessen. Wie gerne würde ich mich jetzt dazusetzen! Irgendwann wird das möglich sein, irgendwann werde ich etwas Geld haben, um mich mitten in einer römischen Nacht mit ein paar Freunden an einen Tisch setzen zu können. Denn, jawohl, ich werde in Rom Freunde haben, das weiß ich. Seit ich in Rom unterwegs bin und die nächtliche Stadt durchstreife, weiß ich genau, dass ich hier zum ersten Mal in meinem Leben richtige Freunde haben werde. Ich werde mit ihnen essen und unterwegs sein, ich werde ein römisches Leben führen.
Als ich den fernen Obelisken erreicht habe, biege ich linker Hand Richtung Tiber ab. Dort muss der Tiber sein, und dort ist wahrhaftig der Tiber. Ich habe den Plan der römischen Innenstadt genau im Kopf, ich sehe ihn vor mir, Vater wäre stolz, wie genau ich den römischen Stadtplan im Kopf habe. Und wo ist Norden? Ich weiß genau, wo Norden ist, etwas nördlich des großen Obelisken muss sich die Milvischen Brücke befinden, an der Konstantin gesiegt hat. Ich werde mir irgendwann einen ganzen Tag und eine Nacht Zeit für diese Brücke nehmen. Jetzt, wo ich auf den dunklen Tiber in der Tiefe blicke, ahne ich, wie es an der Milvischen Brücke aussieht. An den tiefliegenden, breiten Ufern werden Feuer brennen, und die Bogen der alten Brücke werden im Wasser matt schimmern.
Ich gehe aber nicht nördlich, sondern mit der Strömung des Flusses. Die hoch liegenden Uferstraßen werden von mächtigen Platanen gerahmt. Allmählich lässt der Verkehr nach, ich passiere mehrere Brücken, und dann, unerwartet, nach einer kleinen, unmerklichen Krümmung des Flusses, ist es so weit: Ich sehe die Peterskirche, ich sehe sie jenseits des Flusses, ich sehe die ausatmende, mächtige, ruhende Kuppel und das schwache, letzte Licht in ihrer schmalen Laterne hoch oben. Das Bild, das ich sehe, erscheint unglaublich entrückt, denn das, was ich nun sehe, ist keine Kirche mehr, sondern wirkt wie ein unbetretbares Jenseits. Wer hat das gebaut? Hat das überhaupt jemand gebaut? All das, was ich sehe, wirkt so makellos schön und so stimmig, als handelte es sich um eine Verkörperung der Schönheit selbst, um eine Verkörperung ihrer Idee, wie das Maß aller Dinge. Ich kann diesen Bau nicht in seinen Einzelheiten betrachten, sondern sehe ununterbrochen das Ganze, und dieses Ganze erscheint wie ein Modell.
Ich gehe über die Engelsbrücke hinüber zur Engelsburg, passiere sie aber, ohne sie weiter zu beachten. Dann biege ich auf die menschenleere Straße ein, die direkt auf die Peterskirche zuführt. Ich schaue auf die Uhr, es ist kurz nach zwei, mitten in der Nacht. Gleich werde ich den Petersplatz erreichen. Das große Oval liegt im Dunkel, nur die beiden Brunnen rauschen noch leise. Ich gehe auf den Obelisken zu und setze mich auf die Stufen, die zu seiner Basis führen. Ich habe die Peterskirche jetzt im Blick, das Hauptportal, die Loggia, die beiden Uhren, die Apostel Petrus und Paulus zu beiden Seiten und die ausschwingenden Kolonnaden. Hier werde ich eine Weile sitzen, hier werde ich das erste Licht abwarten.
Seltsam, dass ich nicht müde bin. Ich habe eine lange Zugfahrt hinter mir, komme mir aber vor, als wäre ich vollkommen frisch und bereits seit vielen Tagen hier. Lange habe ich nichts gegessen, aber das macht nichts. Ich habe zwei Gläser Wein und hier und da Wasser aus einem Brunnen oder einem der Wasserspender an den Straßen getrunken. Ich habe das starke Summen der Stadt noch in den Ohren, jetzt aber verebbt es langsam. Das vereinzelte Quietschen von Busbremsen. Der Windhauch, der lange auf dem Platz kreist und dann durch die Kolonnaden abzieht. Die klar leuchtenden Sterne, hinter die Kuppel gespannt, wie Leuchtsignale auf schwarzem Tuch. Ich lehne mich zurück gegen die Basis des Obelisken, ich strecke die Beine aus, was höre ich denn, ah, das ist es also, was ich höre, ich höre den alten Gesang: Deus, in adjutorium meum intende/ Domine, ad adjuvandum me festina ... — zwei-, dreimal höre ich dieses Summen, wie einen Refrain meines ersten römischen Spaziergangs. Herr, ich danke Dir, dass Du mich hierher geführt hast, Herr, ich danke Dir! Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, aufgrünen Auen lässt er mich lagern; an Wasser mit Ruheplätzen führt er mich ...
Ich sitze wahrhaftig bis zum Morgengrauen. Da kenne ich die breite Fassade der Peterskirche bis ins letzte Detail. Ich habe gesehen, wie sie weich wurde von der Wärme der Nacht, wie sie nachgiebig schwankte und in der morgendlichen Frühe wieder zu erstarren begann. Ich stehe auf und laufe auf dem weiten Platz ein paar Runden, sehr langsam, immer an den Kolonnaden entlang. Dann setze ich mich ab und folge weiter dem Fluss. Zu meiner Rechten führt eine Straße steil in die Höhe, das ist gut, ja, es könnte schön und genau das Richtige sein, jetzt diesen Hügel hinaufzugehen, um von dort oben auf die morgendliche Stadt zu schauen. Eine Kirche, eine Pinienallee, zwei Hunde, die mir voranlaufen.
Oben, auf der Höhe des Hügels, liegt mir die Stadt im dünnen Morgenlicht zu Füßen. Die Häuser und Bauten wie geduckt, und darüber die Kuppeln der vielen Kirchen. Die Kirchen werden mir ein gutes Zuhause sein, ja, das ahne ich schon. Immer, wenn ich für einen Augenblick ein gutes Zuhause brauche, werde ich in eine der vielen Kirchen gehen. Sitzen, warten, ein Gebet sprechen, vielleicht aber auch schauen, ob es eine Orgel gibt, auf der ich spielen kann.
Wie leicht wird es sein, in dieser Stadt zu leben, ganz leicht. Eine Kirche, ein Cafe, eine Unterhaltung, noch eine Unterhaltung, diese Stadt ist wie für mich geschaffen, einerseits lässt sie mich vollständig in Ruhe, und andererseits bietet sie mir alles, was ich brauche. Das, was ich brauche, ist einfach vorhanden, an jeder Ecke, es steht da zur freien Verfügung.
So müssten alle Städte gebaut sein, nicht zu hoch, mit ihren Häusern in eine Flusskrümmung geschmiegt, alles dicht, sehr dicht beieinander, viele kleinere Plätze, Pinienalleen, ein Kranz von Hügeln und überall unerwartete Orte der Stille. Und viele Kirchen, an jedem Platz eine Kirche. Im Grunde ist das Zentrum Roms leicht zu
überblicken, es ist nicht allzu groß, es ist eine weite, verstreute Sonnenlandschaft mit einigen Thronsitzen und Aussichtsterrassen.
Ich setze mich auf eine Balustrade und lasse die Beine baumeln. Ich versuche, einige der vielen Bauten zu erkennen. Kurz schließe ich die Augen und lasse den römischen Stadtplan vor meinem inneren Auge entstehen, um in Gedanken ein Stück durch Rom zu wandern. Hier unterhalb, das muss das Viertel Trastevere sein, und dort oben, zur Rechten, das ist der Aventin mit seinen Klöstern. Was die Patres wohl sagen würden, wenn sie mich hier sähen! Einer von ihnen hat einmal vermutet, dass aus mir noch ein Priester oder sogar ein Mönch werden könnte. Jetzt kann aus mir aber kein Priester mehr werden, diese Versuchung habe ich hinter mir.
Als wenige Meter von mir entfernt eine kleine Bar geöffnet wird, gehe ich sofort hin. Der Mann hinter der silbernen, gerade sauber gewischten Theke begrüßt mich leise, und ich murmle die Klanglinie nach, die ich gerade gehört habe, ohne ein Wort zu verstehen. Er fragt mich etwas, wahrscheinlich nennt er den Namen eines Getränks, ich wiederhole, was er gesagt hat, und sofort beginnt er, sich um mein Getränk zu kümmern. Es kommt wenig später in einer großen weißen Tasse und duftet nach einem starken Kaffee. Seine Oberfläche aber ist mit dichtem Milchschaum bedeckt. Etwas Kakao? Ja, das habe ich jetzt sogar verstanden, etwas Kakao!
Es ist ganz einfach, mit diesem Mann zu sprechen, er baut sich nicht vor mir auf und macht aus mir keinen
sprachlosen, fremdsprachigen Clown, nein, er bietet mir laufend Bruchstücke seiner eigenen Sprache an. Ich muss nur genau hinhören und sie aufschnappen und sie dann wieder zurückgeben.
Ich habe verstanden, ich habe bereits ein wenig verstanden, wie das Italienische geht. Das Italienische geht vollkommen anders als das Deutsche. Es ist ein Geben und Anbieten von Sätzen, die der Gegenüber dann wieder zurückgibt. Was der eine sagt, greift der andere auf, dreht es um eine Nuance und sagt dann den Satz leicht verändert noch einmal. Und so geht es weiter und weiter, ohne Pause. Es ist mit einem guten Duett zu vergleichen, mit Gesang und Gegengesang. Das Deutsche aber ist anders. Im Deutschen sagt einer einen Satz, um den Satz irgendwo in die Landschaft zu stellen und dort stehen zu lassen. Danach ist es still. Derjenige, der antwortet, sagt einen anderen Satz und stellt ihn in etwas größerer Entfernung ebenfalls in die Landschaft. So ist zwischen den Sätzen viel Raum und viel Schweigen.
Ich tauche die Lippen in den weichen, porösen Milchschaum und nippe an dem Getränk. Durch die dichte Milchdecke sauge ich an einem sehr starken Kaffee, dessen Wirkungen ich sofort spüre. Nach dem zweiten Schluck ist jede Müdigkeit verflogen, und ein wohltuendes Leben durchströmt den ganzen Körper. Acqua?, fragt der Mann hinter der Theke, und ich sage: Acqua! Latein ist die höflichste Sprache überhaupt, Latein ist uneitel, sanft, geduldig und hilfreich, so wie jetzt, wo ich es einfach verwenden kann, um zu sagen, dass ich Durst habe.
Ich trinke die Tasse Kaffee leer und anschließend noch das Glas Wasser, ich zahle, der Kellner schaut nicht lange auf und verabschiedet mich wieder mit einem Gruß. Wir sprechen so leise miteinander, als befänden wir uns in einer Kirche oder als dürften wir niemanden stören oder als wären wir alte Freunde. Im leisen, vorsichtigen Sprechen des Kellners ist von alldem etwas, und darüber bin ich denn doch so erstaunt und verwundert, dass ich beim Abgang hinab in die Ebene vor mich hin summe. Nein, ein Sänger werde ich gewiss nicht mehr werden, aber ich werde in dieser Stadt ein guter Pianist werden, ja, auch das weiß ich jetzt bereits genau. Und wieso weiß ich das? Und was soll das heißen, dass ich in dieser Stadt ein guter Pianist werde?
Ich bin gerade unten in der Ebene auf einem Platz angekommen, wo viele Marktstände aufgebaut sind und längst Gemüse und Obst, Käse, Wurst und Brot verkauft werden. Moment, einen Moment! Was habe ich gerade gedacht? Ich werde in dieser Stadt ein guter Pianist werden! Ja und? Und was heißt das? Das heißt, mein Gott, das heißt, dass ich nicht für zwei Wochen in die Ewige Stadt gereist bin, nein, auch nicht für drei. Ich bin hierher gereist, um ein guter Pianist zu werden, deshalb bin ich hierher gereist. Das hier ist also keine Ferienreise, sondern eine Reise dorthin, wo aus mir ein guter Pianist werden wird.
Ich werde also hier in Rom mein Studium beginnen, natürlich, das ist jetzt bereits klar. Ich werde diese Stadt nicht wieder verlassen, nein, ich werde sie auf keinen Fall wieder verlassen, sondern mich hier um einen Studienplatz bewerben. Dass ich diese Idee nicht längst hatte! Aber ich konnte diese Idee ja noch gar nicht haben, weil ich diese Stadt ja noch nicht so kannte, wie ich sie jetzt bereits kennengelernt habe. Nach meiner ersten römischen Nacht ist jedoch alles anders. Ich gehe hier nicht mehr weg, denn ich bin genau an dem Ort und in der Stadt angekommen, wo ich nun hingehöre. Ich gehöre nach Rom, für ein Jahr, für zwei Jahre, vielleicht sogar für immer.
Ich lache, ich kenne mich nicht mehr wieder. In mir ist eine Ausgelassenheit, wie ich sie noch nie erlebt habe. Was habe ich mir für unnötige Sorgen gemacht, wie falsch habe ich jahrelang darüber gegrübelt, ob es mit mir im Ausland gut ausgehen würde. Was für ein Unsinn ist das alles gewesen, was für ein merkwürdig verschrobenes, verqueres Denken! Rom ist doch gar kein Ausland, ach was, Rom ist das eigentliche Inland, ja, Rom ist das Inland.
In der Mitte des Marktes trinke ich an der Theke einer Bar erneut einen Kaffee und esse dazu eine Art von Croissant, für die ich keinen Namen habe. Im Französischen sagt man Croissant, doch dies hier ist kein Croissant, sondern die Variation eines Croissants. Sie ist noch warm und schmeckt nach einem Hauch duftender, guter Butter, die sich jedoch ganz in den Teig verzogen hat. Der Milchschaumkaffee und die Variation eines Croissants, das werde ich jetzt jeden Morgen essen, das reicht, damit werde ich ein paar Stunden auskommen.
Es wird heller und heller. Das Sonnenlicht glimmt zunächst oben an den Giebeln der Häuser und fällt dann hinab in die Schluchten. Auf dem Marktplatz wälzt es sich bereits zwischen den Ständen. Die Menschen bewegen sich nicht besonders schnell, sie sprechen unaufhörlich miteinander, aber nie allzu lange, sondern meist nur ein paar Minuten, danach setzen sie ihren Weg fort. Was gäbe ich darum, mich einmal so unterhalten zu können! Im Grunde ist auch diese Art von Unterhaltung wie für mich geschaffen! Kein Ausfragen und Anstarren, keine schweren Einzelsätze, in die Landschaft platziert! Stattdessen ein Auftakt, eine Wiederholung, eine Variation, ein Abgesang! So etwas könnte ich sogar lernen, ja, bestimmt, nach einer Weile werde ich so etwas ebenfalls können. Vielleicht ist das Italienische die einzige Fremdsprache, die ich am Ende einmal wirklich beherrschen werde. Vielleicht.
Ich überquere den Tiber und sehe die Kuppel der Peterskirche jetzt aus der Entfernung. Seltsam, sie schrumpft nicht, im Gegenteil, sie bleibt immer dieselbe noble, ideale Erscheinung, ob man sie nun aus der Nähe oder der Ferne betrachtet. Sicher liegt der Konstruktion dieses Baus ein Geheimnis zugrunde, anders kann ich mir seine Wirkungen auf den Betrachter nicht erklären. Ich werde Zeit haben, das herauszubekommen, vielleicht werde ich sogar Zeit haben, neben meinem Klavierstudium noch Kunstgeschichte zu studieren.
In Rom Kunstgeschichte zu studieren auch auf diese sehr naheliegende Idee bin ich in Deutschland nicht einmal gekommen. Jetzt aber habe ich einen Plan, ein
Projekt, eine Zukunft. Was ich nun noch brauche, ist ein preiswertes, gutes Quartier. Ein einfaches Zimmer mit einer schmalen, flachen Liege, einem Tisch, einem Schrank. Mal sehen, immerhin habe ich eine Adresse, die Adresse der deutschen Gemeinde in Rom. Ihre Kirche liegt ganz in der Nähe der Piazza Navona.
Wenig später erreiche ich die Piazza, und als ich sie betrete, werde ich von dem Eindruck erneut überwältigt. Ich nähere mich durch eine schmale Gasse und stehe dann plötzlich mitten im Licht einer weiten, ovalen Öffnung. Ein Haus fügt sich nahtlos ans andere, so dass der Platz wie die Bühne eines Theaters erscheint und die Häuser ringsum wie Kulissen. Drei Brunnen messen die Länge des Platzes aus. Ein wenig erinnert das alles an den ovalen Platz vor unserem Kölner Wohnhaus, nur dass dort die Häuser von sehr unterschiedlicher Größe waren und daher keinen homogenen Eindruck erweckten. Ich gehe bis zur Mitte und setze mich an den Rand des größten Brunnens. Direkt gegenüber befindet sich eine Kirche. Der Platz ist fast vollständig leer, selbst die umliegenden Cafes sind noch nicht geöffnet. Das Sonnenlicht füllt ihn in seiner vollen Länge, der Platz badet bereits in diesem Licht.
Ich sitze eine Weile auf dem Brunnenrand und frage mich, wann ich jemals so glücklich gewesen bin wie gerade jetzt. Und wodurch entsteht dieses Glück? Durch das Licht, durch die großzügige Wohnlichkeit all dieser Räume und dadurch, dass ich weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denke. Ich lebe jetzt, in diesem Augenblick, ich bin hier, nun muss ich nur noch die ersten Kontakte knüpfen.
Die Kirche der deutschen Rom-Gemeinde liegt nur wenige Schritte entfernt. Ich mache mich auf den Weg dorthin und biege in eine kleine Gasse ein, ja, es sind wirklich nur wenige Schritte. Da ist die Kirche, Santa Maria del Anima, ich habe sie gleich entdeckt. Ich gehe hinein, es ist kurz nach acht, anscheinend hat bereits ein Frühgottesdienst stattgefunden, der Weihrauchduft ist noch sehr stark.
Ich setze mich in eine Bank und schaue mir alles an. Da bleibt mein Blick an der kleinen Chororgel neben dem Altar hängen. Es ist eine Orgel, wie man sie zur Begleitung des Gesangs der Gemeinde benutzt, es ist eine Gottesdienstorgel, in der Klosterkirche habe ich oft auf einer solchen Orgel gespielt. Ich kann die starke Anziehung, die von ihr ausgeht, nicht unterdrücken. Ich gehe hin und nehme an ihr Platz, ich beginne, auf ihr zu spielen, ich sitze an meinem ersten römischen Morgen in der Kirche Santa Maria del Anima und spiele die Orgel.
Nach wenigen Minuten erscheint ein Priester. Er unterbricht mich nicht, nein, er macht sogar ein Zeichen, dass ich zu Ende spielen soll. Ich spiele einen Choral von Johann Sebastian Bach, ich spiele den alten Choral Jesu bleibet meine Freude, es ist ein Stück, das ich immer wieder von großen Pianisten gehört habe, so etwa von Dinu Lipatti, der es am ergreifendsten in seinem letzten Konzert kurz vor seinem Tod gespielt hat. Als ich den Choral beendet habe, stehe ich auf, gehe auf den Geistlichen zu und spreche ihn auf Deutsch an. Ich erkläre ihm, wer ich bin und was mich in diese Kirche geführt hat. Der Geistliche spricht ebenfalls Deutsch, er gibt mir die Hand und fordert mich auf, ihn in die Räume des Konvents zu begleiten, die an die Kirche angeschlossen sind. Sie spielen sehr gut, sagt der Geistliche und geht etwas voran. Dann aber bleibt er mitten im Gehen stehen und dreht sich noch einmal nach mir um: Hätten Sie Zeit und Lust, in unseren Frühgottesdiensten werktags diese Orgel zu spielen?
Ich schaue ihn an, ich glaube, nicht richtig zu hören. Dann aber antworte ich: Ja, ich habe Zeit und Lust, die habe ich natürlich auch. Wenn Sie wollen, kann ich schon morgen früh anfangen.

#37 
regrem патриот24.04.14 07:54
NEW 24.04.14 07:54 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:28 (regrem)

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ICH BIN Antonia wieder im Treppenhaus begegnet und habe sie gefragt, ob sie vor mir davonlaufe. Sie hat kurz und ein wenig erschrocken gelacht und geantwortet, die Sache lasse sich nicht im Treppenhaus besprechen, wir brauchten dafür etwas Zeit. Wir sind beide in unsere Wohnungen gegangen und haben uns für den Mittag in einer kleinen Bar am Testaccio -Markt verabredet.
Ich war erleichtert, dass ich es geschafft hatte, sie auf ihr merkwürdiges Verhalten anzusprechen, und genau das sagte ich ihr als Erstes, als wir einander in der Bar gegenüberstanden. Sie ging aber auf meine Bemerkung
nicht ein, sondern fragte mich, wie weit ich mit meinem Buchprojekt sei. Ich fragte sie, warum sie das wissen wolle, und sie antwortete, es interessiere sie zu wissen, ob ich Rom nach Beendigung meines Buchprojekts wieder verlassen werde.
Ich zögerte einen Moment mit meiner Antwort, dann aber sagte ich, ich hätte darüber noch nicht nachgedacht. Im Augenblick wäre ich ausschließlich mit dem Manuskript beschäftigt, alles Weitere werde sich dann ergeben. Jedenfalls hätte ich in meinem bisherigen Leben feststellen können, dass sich in Rom immer alles von allein ergebe, auf natürliche Weise oder einfach von selbst. Ich könne ihr viele solcher Geschichten erzählen, die wichtigsten Dinge hätten sich für mich in Rom ganz leicht und beinahe ohne mein Zutun ergeben.
Du kannst Dir also auch vorstellen, in Rom zu bleiben?, fragte Antonia, und ich antwortete, aber ja, natürlich kann ich mir das vorstellen. Da sagte sie, dass sie in letzter Zeit immer wieder darüber nachgedacht habe, wie ich mir die Zukunft ausmale. Wir seien drauf und dran, eine engere Freundschaft einzugehen, eine solche Freundschaft aber wolle sie nur, wenn ich nicht in wenigen Monaten schon wieder verschwinde. Das Verschwinden eines Mannes aus ihrer Nähe habe sie erst gerade überwunden, das genüge, ein zweites Mal wolle sie so etwas nicht erleben. Ich antwortete, dass ich das gut verstehe, mich jedoch noch nicht entschieden hätte. Ich wolle mich mit der Zukunft jetzt nicht beschäftigen, es sei aber alles möglich, und vieles spreche dafür, dass ich bliebe.
Gut, sagte Antonia, wenn das so ist, bin ich beruhigt. Wenn Du nicht ausschließt, hier in Rom zu bleiben, ist ja noch alles offen. Hättest Du dagegen gesagt, dass Du vorhast, wieder nach Deutschland zurück zu reisen, hätte ich mich nicht mehr mit Dir getroffen, Du verstehst? — Ja, antwortete ich, ich verstehe genau. — Dann hätten wir das endlich geklärt, sagte Antonia. Und jetzt erzähl mir eine Deiner Rom-Geschichten, wie alles hier einfach von alleine passiert, das möchte ich gern einmal hören, ich habe nämlich genau den gegenteiligen Eindruck, dass alles hier sehr mühsam ist und beinahe nichts ohne großen Aufwand und Mühen vorankommt.
Ich überlegte einen Moment, ich hatte einen Einfall, und dann sagte ich, dass ich ihr solche Geschichten am liebsten vor Ort erzählen würde, also direkt dort, wo sie sich hier in Rom ereignet hätten. Und wo haben sie sich zum Beispiel ereignet?, fragte Antonia. — Zum Beispiel in der Via Bergamo 43, antwortete ich. — Dann lass uns dort hingehen, sagte Antonia, dann lass uns in der Via Bergamo zu Abend essen.
Genau so haben wir es dann auch an einem der folgenden Abende gemacht. Wir sind mit einem Taxi in die Nähe der Via Bergamo gefahren und zunächst in ihrer Umgebung spazieren gegangen. Je länger wir gingen, umso aufgeregter wurde ich, schließlich hatte ich in dieser Gegend vor Jahrzehnten einmal gelebt.
Dann war es so weit, und ich bog mit Antonia in die Via Bergamo ein. Es handelt sich um eine schnurgerade, sonnige Wohnstraße mit vielen kleinen Geschäften, die direkt auf eine Markthalle zuläuft. Wir kamen zum Haus Nummer 43 und gingen durch einen Torbogen in den Innenhof. Die Palmen, in der Mitte ein Brunnen, die Front von geschlossenen, grünen Läden, alles war noch so, wie ich es in Erinnerung hatte.
Wir standen einen Moment still nebeneinander, als der Portiere auf uns zukam und sofort fragte, was wir hier suchten. Ich erklärte ihm, dass ich vor Jahrzehnten einmal im fünften Stock dieses Haus zur Untermiete gewohnt habe. Wir unterhielten uns eine Weile und gingen in Gedanken die Liste der ehemaligen und jetzigen Mieter durch, der Portiere war sehr freundlich und fragte mich zum Schluss, ob ich noch einmal mit dem Aufzug hinauf in den fünften Stock fahren wolle. 'Ja, sehr gern, antwortete ich, und dann begleitete er uns hinüber zum Aufzug, öffnete ihn und ließ uns einsteigen. Er schloss das Außengitter, ich zog die Tür zu, dann drückte ich auf einen Knopf. Antonia und ich — wir fuhren langsam hinauf in meine Vergangenheit.
Vor Jahrzehnten bin ich in genau diesem Aufzug am ersten Tag meines Rom-Aufenthalts in den fünften Stock gefahren, erzählte ich. Ich hatte die Adresse am frühen Morgen im Pfarrbüro der deutschen Gemeinde bekommen, und als ich hier oben klingelte, stand mir eine ältere Frau gegenüber, die eine kleine Pension vor allem für angehende Priester betrieb. Sie ließ mich eintreten, und als ich fragte, ob sie ein kleines, einfaches, preiswertes Zimmer für mich habe, sagte sie, dass ein solches Zimmer seit festern frei sei. Wie lange vollen Sie denn bleiben?, fragte sie. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nur zwei oder drei Wochen in Rom zu bleiben, es sollte ein Ferienaufenthalt sein, doch schon nach den ersten wenigen Stunden in dieser Stadt hatte ich mich entschieden, länger zu bleiben. Eigentlich möchte ich ein paar Monate bleiben, sagte ich damals. Und dann erklärte ich ihr, dass ich vorhabe, mich um einen Studienplatz für eine pianistische Ausbildung am römischen Conservatorio zu bewerben. Ah, Sie sind ein Pianist!, sagte die ältere Frau, wenn Sie ein Pianist sind, bekommen Sie das Zimmer zu einem günstigen Preis, ich habe nämlich eine Schwäche für Pianisten.
Der Aufzug kam im fünften Stock an, wir stiegen aus und standen nun im hohen Flur direkt vor der Wohnungstür, vor der ich damals gestanden hatte. Ich ging mit Antonia ein paar Schritte beiseite und zeigte ihr den Blick, den man vom Flur aus in den stillen Innenhof hatte, wo der kleine Brunnen plätscherte.
Die Signora, die mich damals aufnahm, war eine wunderbare Frau, erzählte ich weiter, sie hat mir in den nächsten Wochen sehr geholfen. Schon am zweiten Tag meines Aufenthalts durfte ich sie Signora Francesca nennen, sie hatte mich darum gebeten. Signora Francesca war vor vielen Jahren aus Südtirol nach Rom gekommen und hatte zunächst in einem Hotel und in einem Restaurant gearbeitet, danach hatte sie sich mit dieser Pension selbständig gemacht. Die Priester, die bei ihr ein und aus gingen, erhielten ein gutes Frühstück und ein einfaches bequemes Zimmer. So hatte sie ruhige Gäste und brauchte keinen allzu großen Aufwand zu betreiben. Als ich eine Woche hier wohnte, nahm ich der Signora die Einkäufe in der Markthalle ab, und mit der Zeit wurde ich zu ihrem Vertrauten. Frühmorgens, frühmorgens ..., ich s t and meist bereits gegen halb sechs auf, frühmorgens ...
Ich stockte, ich konnte nicht weitersprechen, die Erinnerungen waren plötzlich zu stark. Ich blickte weiter hinab in den Innenhof und sah, wie ich den Hof durchquerte und mich mit dem früheren Portiere unterhielt. Er gab
mir die Post für die Pensionsgäste, und ich reichte ihm eine Packung der schwarzen Zigarren, die ich für ihn in einem nahen Tabakladen gekauft hatte.
Anfangs sprachen wir sehr langsam miteinander, damit ich jedes Wort mitbekam. Er war so geduldig mit mir, dass er mir manche Sätze sogar mehrmals vorsprach, damit ich sie Wort für Wort wiederholen konnte. Jeden Tag gab es so eine Viertelstunde Sprachunterricht, Lektion für Lektion. Darüber hinaus hielt er mich an, in die Zeitung zu schauen, denn Zeitungslesen hielt er für das beste Sprachtraining. Manchmal saßen wir an einem schattigen Platz im Innenhof und lasen zusammen ein paar Artikel und Nachrichten. Er las vor, und ich musste ihm nachsprechen. Was ich nicht verstand, erklärte er mir, er übersetzte das Italienisch der Zeitung in ein einfacheres Italienisch.
Entschuldige, Antonia, sagte ich, die Erinnerungen an früher überfallen mich gerade. — Ich verstehe, antwortete sie, dann lasse ich Dich jetzt einmal ein paar Minuten allein. Ich gehe in das Restaurant schräg gegenüber, dort warte ich auf Dich, einverstanden? — Einverstanden, sagte ich. Sie schaute mich kurz an, als müsste sie sich vergewissern, dass mit mir alles in Ordnung sei, dann ging sie zum Aufzug, drehte sich jedoch vor dem Einsteigen noch einmal um, kam die wenigen Schritte zurück und gab mir einen KUSS auf die Wange. Es geht Dir doch gut?, fragte sie, und ich antwortete: Mach Dir keine Sorgen, es gebt mir sehr gut.
Als sie verschwunden war, lehnte ich mich auf die Brüstung des Umgangs, von dem aus man in den Innenhof
schauen konnte. Dieser kleine, umgrenzte, geschützte Raum war zusammen mit meinem Zimmer im fünften Stock einmal mein Lebensraum gewesen. Viele Nächte hatte ich dort unten gesessen, mich mit dem Portiere und den Nachbarn unterhalten, Wein getrunken, Erzählungen aus der Nachbarschaft gehört und Tag für Tag etwas mehr Italienisch gelernt.
Vom ersten Tag an hatte man mich hier gut aufgenommen und nicht wie einen hergelaufenen Fremden, sondern wie einen wirklichen Freund behandelt. Ich hatte mit den Menschen, die hier gelebt hatten, oft zusammen gegessen, ich hatte viel von ihrem Leben erfahren, ja, ich war mit der Zeit eine feste Größe im Reigen ihrer Gespräche und Unterhaltungen geworden. Wie oft war ich an den Abenden beim Betreten dieses Innenhofes erkannt und mit einem ecco, Giovanni, il pianista! begrüßt worden. Sie hatten mich behandelt, als wäre ich nicht ein junger, unerfahrener Pianist, sondern eine Berühmtheit, ja eine Zelebrität von der Art Arturo Benedetti Michelangelis.
Natürlich war es ein Spiel gewesen, ein Stück Komödie, aber wie elegant und abwechslungsreich hatten wir die Szenen dieser Komödie immer wieder gespielt! Und wenn es nötig war, hatten wir daraus etwas Ernstes gemacht, wie etwa in dem Fall meiner Anmeldung für die Prüfung im Conservatorio. Paolo, der Portiere, hatte mich dorthin ins Büro begleitet und später die Aufnahmeanträge für mich ausgefüllt, er hatte sich um alles gekümmert, bis ich das genaue Datum der Prüfung gewusst hatte und alle Formalitäten geregelt waren.
Das Klirren von Geschirr. Der Gesang des Vogels, den man in einem Käfig nach draußen, auf einen Balkon, gestellt hatte. Das blaue Rechteck des Himmels über mir, monochrom wie ein Rechteck von Mondrian.
Frühmorgens ..., frühmorgens war ich gegen halb sechs aufgestanden und hatte in der Bar, die sich gleich neben dem Hoftor befand, einen Cappuccino und ein Cornetto gefrühstückt. Dann war ich zu Fuß hinab ins historische Zentrum gegangen, durch den großen Park der Villa Borghese bis zur Aussichtsterrasse des Pincio. Ich hatte Goethes römische Wohnung passiert und wenig später die Kirche der deutschen Gemeinde erreicht, um sieben Uhr hatte der Frühgottesdienst begonnen, in dem ich die Chororgel gespielt hatte.
Gegen acht Uhr war ich dann ein freier Mensch gewesen, bis zu den frühen Nachmittagsstunden, in denen allen Studenten die Uberäume im Conservatorio zur Verfügung standen. Ich hatte drei, vier Stunden geübt, das war mir aber auf die Dauer zu wenig gewesen, so dass ich mich nach einer weiteren Möglichkeit zum Üben umgeschaut hatte. Im Konvent der deutschen Gemeinde hatte ich schließlich einen Flügel entdeckt, es war ein alter Bösendorfer gewesen, auf ihm hatte ich dann manchmal an den Morgenden noch einmal zwei bis drei Stunden geübt.
Und? Und was?! Und was noch?! An die wichtigste, stärkste Erinnerung wollte ich einfach nicht denken, obwohl sie es doch gewesen war, die mich gerade im Gespräch mit Antonia so durcheinandergebracht hatte. Clara also ..., die Erinnerungen an Clara ...
Am zweiten Abend meines Aufenthalts war ich unten, in diesem Innenhof, einer jungen Frau begegnet, die mich begrüßt und davon erzählt hatte, dass sie die Nichte von Signora Francesca sei. Sie hatte mich aufgefordert, mit ihr einen Kaffee zu trinken, und dann waren wir in die kleine Bar nebenan gegangen und hatten uns zwei, drei Stunden unterhalten.
Clara studierte Geschichte und Italienische Literatur, sie war Südtirolerin wie Signora Francesca auch, wohnte jedoch nicht in der Pension ihrer Tante, weil sie von ihr angeblich noch strenger als eine Tochter behandelt wurde. Deshalb hatte sie sich ein Zimmer in der Nähe genommen, kam die Tante aber alle paar Tage besuchen.
Ich hatte mich mit Clara vom ersten Moment an sehr gut verstanden, wäre aber nie auf die Idee gekommen, sie als etwas anderes als eine gute Freundin zu betrachten. Fast täglich war ich ihr irgendwo in der Nähe dieses Hauses begegnet, und meist hatten wir etwas zusammen getrunken und uns über Rom und die Leute in der Nachbarschaft unterhalten.
Ich hatte ihr von meiner Vorliebe für das Kino erzählt, und so waren wir schließlich auch in das kleine Kino am Campo dei Fiori gegangen, in dem es auch viele der älteren Filme aus den sechziger Jahren noch einmal zu sehen gab. Die Kinobesuche waren der Anfang unserer gemeinsamen Unternehmungen gewesen, später waren wir zu Lesungen und Konzerten gegangen, ich hatte Clara davon überzeugen können, sich alle nur erdenkliche Musik anzuhören, ja, ich hatte es so gemacht wie jetzt mit Marietta und war mit ihr in die Jazz-Keller Trasteveres ebenso gegangen wie in die Abend-Vespern von Santa Maria in Domnica.
Clara und ich — wir waren beinahe gleich groß, und wenn Menschen, die uns noch nicht kannten, mit uns sprachen, hielten sie uns zwar nicht für Geschwister, wohl aber für Verwandte. Etwas Verwandtschaftliches, ja, das gab es von Anfang an zwischen uns, wir hatten sehr ähnliche Interessen, wir liebten Musik und Literatur, liefen gerne stundenlang durch die Stadt und waren zusammen so ausgelassen, wie es keiner von uns jemals war, wenn er allein durch die Stadt ging.
Ich glaube, wir waren beide von Rom völlig verzaubert, wir sprachen darüber nicht, natürlich nicht, aber ich denke, unsere Begeisterung hatte damit zu tun, dass wir beide in kleinen Schutzzonen und beinahe geschlossenen Räumen aufgewachsen waren, sie in einem kleinen Dorf in Südtirol nahe Brixen, und ich auf einer Insel in Köln und in einer Eremiten-Klause auf einem westerwäldischen Waldgrundstück.
Beide lebten wir zum ersten Mal in einer Stadt weit von unserer Heimat entfernt, wir betrachteten sie als ein Terrain, das wir erobern wollten, wir wollten es besser kennenlernen als jeder Römer es kannte, ja, wir wollten ihm unsere Liebe beweisen, indem wir diesen Stadtkörper tagelang auf der Suche nach den schönsten und entlegensten Plätzen durchstreiften ...
Ich hatte Antonia lange genug warten lassen, ich musste wieder hinab. Und so riss ich mich vom Anblick des Innenhofs mit den hohen, grünen Palmen los, betrat den Aufzug und fuhr in die Tiefe. Als ich das Haus verließ, gab mir der Portiere die Hand. Kommen Sie wieder, Signore, sagte er, und ich dachte einen Moment: Ja, warum eigentlich nicht? Warum nicht noch einmal in diesem Innenhof sitzen, um ein Glas Wein zu trinken, warum nicht? Vielleicht kommt noch einer der Nachbarn von früher vorbei und erkennt mich an der Stimme! Vielleicht ..., ach nun lass, lass das Vergangene vergangen sein, Antonia wartet auf Dich!
Sie saß in dem Restaurant schräg gegenüber nahe der Tür und schaute mich wieder so an, als müsste sie sich Sorgen machen. Es ist alles in Ordnung, sagte ich wieder und müsste lachen, als ich ihren misstrauischen Blick sah. Ich setzte mich neben sie, der Kellner kam zu uns, aber wir ließen uns mit der Bestellung noch etwas Zeit, um erst in Ruhe ein Glas Wein trinken zu können.
Der Raum um dieses fünfstöckige Wohnhaus schräg gegenüber war einmal so etwas wie meine Heimat, sagte ich, nach einiger Zeit habe ich sogar nicht mehr ausgeschlossen, mein ganzes Leben in Rom zu verbringen. Stell Dir das vor, ich war achtzehn Jahre alt und hatte noch eine sehr enge Bindung an meine
Eltern, leb war ihr einziges Kind, ich war ihr fünfter ..., nein, das wollte ich doch jetzt nicht sagen, ich war ihr einziges Kind, und sie hingen in einer geradezu verzehrenden Weise an mir.
Und dann reist dieses einzige Kind zum ersten Mal ins Ausland und meldet sich nach drei Tagen von dort mit der Nachricht, ein paar Monate dort bleiben und eine Aufnahmeprüfung am Conservatorio ablegen zu wollen. — Und, hast Du diese Prüfung dann wirklich abgelegt?, fragte Antonia. — Paolo, der frühere Portiere des Hauses schräg gegenüber, hat mir damals geholfen. Gemeinsam mit ihm habe ich die vielen Formulare ausgefüllt und die notwendigen Unterlagen beschafft. Ich hatte zweieinhalb Monate Zeit, mich auf die Prüfung vorzubereiten. Drei Stücke von insgesamt einer Stunde musste ich spielen, es konnten darunter aber auch einzelne Sätze von größeren Kompositionen sein.
- Und wie war es, am Tag Deiner Prüfung? Warst Du nervös? — Nein, ich war überhaupt nicht nervös, ich bin vor öffentlichen Auftritten niemals nervös gewesen, das hat damit zu tun, dass ich ah Kind ..., aber lassen wir das, das tut jetzt nichts zur Sache. Ich bin jedenfalls am frühen Morgen von hier aus mit dem Taxi zum Conservatorio gefahren, Paolo, der Portiere, hatte das Taxi bestellt und mir einen Anzug geliehen.
Ich saß im Fond dieses römischen Taxis, trug einen schwarzen Portiersanzug und dachte: 'Jetzt geht es um Leben oder Tod! Mein Gott, ich dachte das wirklich, genau so: Es geht um Leben oder Tod! — Aber wenn es doch um Leben oder Tod ging, musst Du doch nervös gewesen sein. — Nein, nervös war ich nicht, ich war vollkommen ruhig, fühlte mich aber eiskalt, Deine Hände sind ja eiskalt, sagte damals Clara zu mir. — Clara? Welche Clara? — Ach, Clara war eine Nichte von Signora Francesca, sie saß damals auch im Taxi und begleitete mich zur Prüfung. — War sie Deine Freundin? — Ja, sie war eine gute Freundin. -Wart Ihr ineinander verliebt? — Nein, wir waren damals wohl nicht ineinander verliebt, wir waren gute Freunde, das war alles. — Und weiter?
— Im Conservatorio musste man sich im Büro anmelden, man bekam eine Nummer und anhand der Nummer war dann klar, wann man vorzuspielen hatte. — Weißt Du noch, wann Du vorspielen musstest? — Ich musste um 11.20 Uhr vorspielen, ich weiß es noch genau. — Und was hast Du bis 11.20 Uhr getan? — Ich habe mich von den beiden anderen getrennt und bin hinüber zum Tiber gegangen. Ich habe mich an den Tiber Besetzt und
mich zu konzentrieren versucht. Und ich hatte dauernd diesen Satz im Kopf: Es geht um Leben und Tod, ich wurde den Satz einfach nicht los. - Und weiter? Was passierte um 11.20 Uhr?
— Ich musste vor dem Konzertsaal des Conservatorio warten, bis ich hereingerufen wurde. An der Querwand saßen die Juroren, viele Juroren, ich konnte gar nicht genau übersehen, wie viele es eigentlich waren. Der Vorsitzende sprach mich an und fragte nach dem ersten Stück, das ich vortragen wollte. Ich sagte ihm, dass ich den ersten Satz der C-Dur-Fantasie von Robert Schumann spielen werde, er nickte, fragte dann aber, wie es um meine Italienisch-Kenntnisse stehe.
Ich antwortete ihm, dass ich erst seit etwas mehr als zwei Monaten in Italien sei und mich seither bemühe, Italienisch zu lernen. Er lächelte und schaute weiter überlegen lächelnd zur Seite, zu den anderen Juroren. Einen Moment dachte ich, dass sie mich wegen meiner schlechten Italienisch-Kenntnisse nicht nehmen könnten, ich hatte damit nicht gerechnet, deshalb fragte ich noch einmal eigens nach, ob meine zugegeben schlechten Italienisch-Kenntnisse der Grund dafür sein könnten, dass ich nicht aufgenommen würde.
Da wurde der Vorsitzende der Jury leicht unwillig und sagte: Wir sind nicht zum Reden hier, sondern um zu hören, wie Sie spielen! Das, ha!, das brauchte er gerade mir nicht zweimal zu sagen, nicht zum Reden, sondern zum Spielen sind wir hier, das hörte ich gern, das war ja geradezu ein Leben lang mein Grundsatz gewesen, mein Leben lang, seit ich ah Kind begonnen hatte, das Klavierspiel zu lernen ..., aber lassen wir das.
Ich setzte mich also an den Flügel und begann zu spielen, doch schon nach wenigen Minuten wurde ich unterbrochen. Bravo, sagte der Vorsitzende, bravissimo, es reicht bereits, Sie spielen erstaunlich! Er fragte mich nach meinen Lehrern, und ich erzählte von Walter Fornemann, den er glücklicherweise kannte. Das Mussorgskij-Buch von Walter Fornemann ist gerade im Italienischen erschienen, sagte er. Ich nickte und lächelte verkrampft, denn ich hatte das Mussorgskij-Buch von Walter Fornemann natürlich noch gar nicht zur Kenntnis genommen.
Als Reizwort und Signal alter passte „Mussorgskij“ geradezu ideal, denn eine Komposition von Mussorgskij war zufällig die zweite, die ich spielen wollte.
Der Vorsitzende wirkte beinahe betört, als ich das sagte und er sich an die Runde der anderen Juroren wenden konnte: Unser junger Freund spielt jetzt noch etwas von Mussorgskij, am den »Bildern einer Ausstellung«. Ich legte wieder los, und wieder unterbrach er mich nach wenigen Minuten. Es ist gut, sagte er, Sie brauchen nicht weiterzuspielen. Wir nehmen Sie auf, ich brauche meine verehrten Kollegen gar nicht weiter zu fragen, ob
sie einverstanden sind, wir nehmen Sie auf.
Ich dankte ihm und verbeugte mich. Da sagte er noch: Was ist das für ein Totengräber-Anzug, den Sie da tragen? Ich antwortete, es sei der Anzug eines Portiere. Da aber begannen alle zu lachen, der ganze Kreis der Juroren lachte plötzlich, und auch ich musste lachen. Machen Sie sich einen schönen Tag, junger
Freund, sagte der Vorsitzende, reckte sich dann aber noch einmal vor: Einen Moment noch, ziehen Sie Ihre Anzugjacke aus, legen Sie die Jacke zur Seite und geben Sie noch eine Zugabe, spielen Sie zum Abschluss noch ein Etüde von Chopin.
In dem Augenblick, als er das sagte, drohte noch einmal alles zu kippen. Ich spürte es genau, ich hatte plötzlich ein mulmiges, dumpfes Gefühl: Jetzt kippt doch noch alles, dachte ich, jetzt wird Dir Chopin zum Verhängnis. — Aber wieso denn?, fragte Antonia, warum hätte Dir ausgerechnet Chopin zum Verhängnis werden können? — Weil ich seit der Kindheit ausgerechnet mit Chopin nicht zurechtkam, antwortete ich, weil ... Chopin und ich keine gute Verbindung ergaben. — Und wie hast Du das Problem dann gelöst? — Indem ich darum bat, etwas anderes spielen zu dürfen, ja, ich bat darum, ein Stück aus dem Zweiten Teil der „Annees de pelerinage“ von Franz Liszt spielen zu dürfen. Ecco!, sagte der Vorsitzende, sehr erstaunt, ja, genau, ich glaube ihn noch zu hören, wie er dieses Ecco! sagt und mich dann fragt, ob ich ein Stück aus dem Zweiten Teil der „Annees de Pelerinage“ spielen wolle, weil dieser Zweite Teil von Liszts Komposition eine Hommage an Italien sei. Genau deshalb möchte ich dieses Stück spielen, antwortete ich. Also ebenfalls als eine Hommage an Italien?, fragte der Vorsitzende, und ich antwortete, als eine Annäherung an Italien ...
Danach gab er auf und sagte nichts mehr, er erhob sich, hinüber zu meinem Flügel und stellte sich neben mich. Er legte mir die Hand auf die rechte Schulter und sagte zu seinen Kollegen: Unser junger deutscher Freund spielt uns zuliebe jetzt einen Teil aus den Italien-Partien der „Annees de pelerinage“.
Es war ein feierlicher, großer Moment, denn nachdem er das gesagt hatte, stand plötzlich die gesamte Jury auf, als hätte ich angekündigt, die italienische Nationalhymne zu spielen.
Vorsichtshalber behielt ich die Anzugjacke an, setzte mich wieder und spielte fast eine halbe Stunde aus den „Annees de pelerinage“ Danach gab es großen Beifall, und jeder der Juroren reichte mir die Hand. Ich war aufgenommen, ich hatte es geschafft.
— Und wie war es danach? Was passierte in den Minuten danach? — Ich verließ den Konzertsaal, ging eine breite Treppe hinab und stand dann einen Moment allein im Treppenhaus des Conservatorio. Mir war etwas schwindlig, ich klammerte mich an das Geländer und schaute durch die ovalen Fensterluken nach draußen. Dort draußen war aber nichts als eine Flucht ziehender Wolken zu sehen, es waren leicht gelblich getönte Wolken vor einem matten, hellblauen Grund. Als ich diese eilig ziehenden Wolken sah, dachte ich plötzlich, dass sie so etwas wie mein Glück und mein Leben symbolisierten, ja, ich brachte diese Wolken wirklich mit meinem Leben in Verbindung. Ich hatte das Gefühl, mir könne nie mehr etwas Schlimmes passieren, ja ich glaubte wirklich, ich sei für immer gerettet.
— Aber was hätte Dir denn passieren können? Und wovor fühltest Du Dich gerettet? — Mir passieren?! Was mir hätte passieren können? Na, das ist doch klar, ich hätte, ich hätte ..., wenn ich diese Prüfung nicht bestanden hätte ..., wenn das schief gegangen wäre ..., ich ..., nein, Antonia, lassen wir das, diese Überlegungen führen zurück bis in meine Kindheit, ich möchte aber nicht von meiner Kindheit erzählen, nicht heute, nicht hier.
— Du machst immer wieder einen Bogen um Deine Kindheit, was war denn mit Deiner Kindheit? — Ich mache heute Abend einen Bogen um meine Kindheit, Antonia, da hast Du recht. Ich habe aber in den letzten Monaten durchaus keinen Bogen um meine Kindheit gemacht, ich habe vielmehr nichts anderes
getan, ah mir diese Kindheit zu vergegenwärtigen und von ihr zu erzählen. — Dein Euch handelt von Deiner Kindheit? — Ja, von meiner Kindheit und den ersten beiden Jahrzehnten meines Lebens. - Du möchtest jetzt nicht darauf angesprochen werden, habe ich recht? — Ich werde Dir, wenn Du magst, davon erzählen, aber hier und heute möchte ich von etwas anderem sprechen. - Von der Leichtigkeit, in Rom zu leben und zu bestehen? — Genau, von der Leichtigkeit, in Rom anzukommen und sich in dieser Stadt einzuleben! Glaubst Du mir jetzt, dass es in Rom so etwas wie Leichtigkeit gibt?
- Ich glaube, dass Du Glück gehabt hast, Johannes! Du hast ein geradezu unverschämtes Glück gehabt: Am ersten Tag Deines Aufenthalts hast Du eine Wohnung, eine Gönnerin und Freunde gefunden, und zwei Monate später ist ein Lebenstraum von Dir in Erfüllung gegangen. Und wenn Du mir jetzt noch sagst, dass Du Dich später in Clara verliebt hast und sie sich am Ende auch noch in Dich, dann zweifle ich an der himmlischen Gerechtigkeit.
— Es war aber himmlische Gerechtigkeit, sagte ich, es war nichts anderes als himmlische Gerechtigkeit. — Was meinst Du damit, Johannes? — Dass ich plötzlich so viel Glück hatte und dass alles so leicht gelang, das, Antonia, war himmlische Gerechtigkeit, Du ahnst gar nicht, wie viel himmlische Gerechtigkeit da im Spiel war. — Ich verstehe Dich nicht, Johannes, warum beharrst Du so darauf? ~ Ich erkläre es Dir später einmal, Antonia, hier und jetzt aber nicht. — Du bist ein Geheimniskrämer. — Nein, das bin ich nicht. — Dann sag mir aber wenigstens noch, ob Clara und Du ...,ob ihr in Rom wirklich ein Paar geworden seid. — Ob Clara und ich? Clara und ich —ja, wir sind in Rom noch ein Paar geworden, damals, als ich ..., ach, lassen wir das.
Es war mir etwas peinlich, davon nicht erzählen zu können, aber ich bemerkte, dass ich bisher noch niemandem davon erzählt hatte, wie Clara und ich ein Paar geworden waren. Hier in Rom hatten alle nach einer Weile gewusst, dass wir ein Paar geworden waren, aber in Deutschland habe ich später keinem einzigen Menschen von Clara erzählt, meinen Eltern nicht und meinen wenigen Freunden und Bekannten sowieso nicht. Clara war meine römische Freundin gewesen, ja, das war sie gewesen, aber sie war einzig und allein das und nichts anderes gewesen, sie war keine Figur für eine Geschichte oder eine Erzählung, nein, das war sie eben nicht gewesen.
Einen Moment spürte ich eine seltsame Hitze und Erregtheit, deshalb ging ich hinaus auf die Toilette, um etwas Wasser zu trinken. Ich drehte den Wasserhahn auf und ließ das Wasser in meine hohle, rechte Hand laufen, dann trank ich, mehrmals, immer wieder, um mir danach mit etwas Wasser durch das Gesicht zu fahren. Dann ging ich zurück.
Ich lade Dich jetzt zum Essen ein, sagte Antonia, ist es Dir recht, wenn ich die Bestellung übernehme? — Natürlich ist es mir recht, antwortete ich, ich freue mich und bin gespannt. Antonia rührte aber die Speisekarte nicht an, sondern gab nur dem Kellner ein Zeichen. Sie bestellte Antipasti, ausschließlich Gemüse, danach sollte es Fisch geben, die Weinbestellung übernahm sie gleich mit. Ich habe noch nie mit einer Frau zusammen gegessen, die nicht nur das Essen, sondern auch gleich den Wein bestellt hat, sagte ich. — Wir feiern, dass Du diesmal nicht mehr nach Deutschland zurückfährst, so wie damals, sagte Antonia. — Was sagst Du da?, fragte ich und erstarrte. — Wir feiern, dass Du diesmal in Rom bleibst, sagte Antonia, genau das feiern wir, hier und jetzt.
Ich schaute auf, hier und jetzt, richtig, wir befanden uns ...— ja, wo eigentlich? Wir befanden uns in einem Hier und Jetzt. War dieses Hier und Jetzt das Hier und Jetzt meiner Erzählung, oder war es das Hier und Jetzt meines Lebens? Ich bin etwas durcheinander, Antonia, sagte ich, ich bin mit diesem Hier und Jetzt durcheinandergeraten. – Das macht nichts, sagte Antonia, dann erklären wir das Hier und Jetzt einfach zu meinem Hier und Jetzt. Ich nämlich sitze hier, neben Dir, hier und jetzt, ich bin ab hier und jetzt Deine, wenn ich richtig rechne, zweite römische Freundin. Das bin ich doch? Sag, bin ich das? — Ja, sagte ich, das bist Du auf jeden Fall, da gibt es kein Durcheinander, Du bist meine zweite römische Freundin ...
Jetzt, ja. Ich verlasse jetzt das Conservatorio, ich schaue auf die Uhr, es ist 12.30 Uhr. Draußen, in der Bar gegenüber, warten Paolo und Clara auf mich. Als ich die Bar betrete, stehen sie an der Theke und trinken beide ein Glas Mineralwasser. Ich blicke auf dieses Mineralwasser, gehe auf sie zu und sage: Ihr trinkt Mineralwasser? Wir trinken jetzt einen Spumante!
In diesem Moment wissen sie, dass ich es geschafft habe. Ich aber stehe herum und fühle mich so erschöpft und schwach wie seit Langem nicht mehr. Aber da ist Paolo, und Paolo umarmt mich länger als eine Minute, wischt sich unbeholfen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln und sagt, dass er im Stillen für mich gebetet habe. Und da ist natürlich auch Clara, die zu mir kommt, meinen Kopf in beide Hände nimmt und mir einen KUSS gibt. Sie küsst mich aber nicht wie sonst, flüchtig und eher nebenbei auf die Wange, nein, Clara steht mir gegenüber, hält meinen Kopf und küsst mich auf den Mund.
Plötzlich ist alles ganz anders als zuvor. Es ist, als wäre dieser KUSS das Signal für unsere Liebe, ja, wahrhaftig, genau so empfinde ich es in diesem Moment, und genau so habe ich es später immer wieder empfunden. Ich stehe in der kleinen Bar, umarme Clara und denke, als wäre mir gerade blitzartig diese Erkenntnis gekommen: Ich bin verliebt, zum ersten Mal in meinem Leben bin ich verliebt! Eine winzige Drehung in unserer Freundschaft hat bewirkt, dass ich verliebt bin, eine kleine, winzige Drehung oder Umschichtung oder Potenzierung unserer Gefühle hat meine Verliebtheit bewirkt. Von einer Sekunde auf die andere ist es geschehen, in einem seltenen, glücklichen Moment, in einem Moment, in dem wir uns so berühren und so zusammenfinden, wie wir uns zuvor vielleicht immer hatten berühren wollen.
Ich bin aber nicht allein mit diesem Gefühl, nein, ich schaue Clara an, und ich sehe genau, dass sie in diesem seltenen, einzigartigen Moment dasselbe empfindet. Ich erkenne es an ihrem Strahlen, ich erkenne es daran, dass sie kein Wort sagt, mich anstrahlt und nicht aufhören kann, mich zu küssen. Immer wieder von Neuem fliegen unsere Münder aufeinander zu, immer wieder suchen sie die Berührung, es hört gar nicht auf, nein, wir können
nicht aufhören, es ist, als hätte uns eine seltsame Sucht befallen, heftig und gewaltig. Wir nehmen die Umgebung nicht mehr wahr, wir sind völlig vernarrt in dieses unermüdliche Küssen und Einander-Berühren, die Empfindung ist so stark und so erotisierend, dass es beinahe nicht zum Aushalten ist.
Am liebsten würde ich mich sogar auf der Stelle entkleiden, und am liebsten würde ich Clara entkleiden, dieser plötzliche, irre Gedanke steckt von diesem Moment an in meinem Kopf. Dazustehen und sich zu küssen, das genügt einfach nicht mehr, vor allem genügt es aber nicht, sich in dieser viel zu kleinen und engen Bar zu küssen, und vor allem geht es nicht an, sich in Paolos Nähe zu küssen, denn Paolo weiß natürlich längst nicht mehr, wohin er noch schauen soll, um den Anblick der beiden sich Küssenden zu vermeiden.
Letztlich ist Paolos Anwesenheit aber der Grund dafür, dass Clara und ich den Absprung schaffen, denn Paolo hat inzwischen eine Flasche Spumante und dazu mehrere Gläser bestellt, und dann trinken wir nicht nur zu dritt, sondern laden auch noch die anderen Anwesenden ein, mit uns ein Glas Spumante zu leeren. Auch während wir trinken, können wir aber nicht voneinander lassen, nein, Clara und ich, wir halten uns weiter an den Händen, und als die Gläser leer sind, rücken wir noch enger zusammen und küssen uns wieder, denn es hat uns so gepackt, dass wir gar nicht mehr anders können.
Paolo macht sich dann zurück auf den Heimweg, wir aber denken nicht daran, jetzt zurück in die Via Bergamo zu gehen, wir wissen nicht, was wir als Nächstes tun werden, wir spüren nur, dass wir jetzt nicht mehr unserem Verstand gehorchen, sondern alle Vernunft abgegeben haben an unsere Körper, die völlig selbständig ticken und nichts anderes begehren als eine möglichst ununterbrochene, intensive, ja gar nicht mehr aufhörende Nähe,
Wir verlassen die Bar und stehen im hellsten römischen Mittagslicht, ich frage Clara, ob ich sie zum Essen einladen solle, aber wir wissen beide, dass das nicht das Richtige ist, nein, wir passen doch jetzt nicht an einen Mittagstisch, wir haben ja gar nicht die Geduld für ein Mittagessen und für ein ruhiges Sitzen und für all diesen zivilisierten Genuss, im Grunde wollen wir nichts anderes als uns bewegen, unterwegs sein, Hand in Hand durch die römischen Straßen oder besser noch durch die römischen Parks laufen, wir wollen unterwegs sein, um einen Platz für uns beide zu finden, wir suchen einen abgelegenen Platz, wo wir allein sind und jedem Anblick entgehen, das genau suchen wir jetzt.
Zum Glück aber hat Clara die gute Idee, etwas gegen unseren Hunger und gegen den Durst zu tun, deshalb fallen wir vor unserer Suche noch in einem Lebensmittelgeschäft in einer Seitenstraße des mächtigen Corso ein, es gibt dort alles, was wir brauchen, etwas Brot, Mortadella und Käse, Mineralwasser und Weißwein, das passt alles in eine leichte, handliche Busta, vielen Dank für die Busta, sage ich auf Italienisch zu dem Händler, weil mir das Wort busta so gut gefällt, denn busta ist natürlich schöner als Tasche oder gar Tüte.
Mit der gefüllten Busta in der linken und Clara an der rechten Hand steige ich dann hinauf zur Aussichtsterrasse des Pincio, dort oben beginnt das grüne Parkgelände der Villa Borghese, wir schlüpfen hinein in das schattige Grün der großen Steineichen, Zypressen und Pinien, die Stadtgeräusche treten allmählich zurück, das schrille Zirpen der Grillen beginnt in den Zonen des von der Sonne strohblond gebleichten Grases, wir sind unterwegs, bleiben aber zwischendurch immer wieder lange stehen, um uns zu küssen, einmal kollert die Busta während dieser Küsse einen kleinen Hang hinunter und die Lebensmittel verstreuen sich an seinem Auslauf zu einem pittoresken hellgrünen Bild wie von Warhol.
Zum Glück ist es so heiß, dass kaum Spaziergänger unterwegs sind, jetzt, in den Stunden zwischen 13 und 17 Uhr, döst die Ewige Stadt vor sich hin und hält ihre Bewohner unter Tausenden von Ventilatoren gefangen, Paolo hat gesagt, der Mittagsschlaf sei der eigentliche römische Tiefschlaf, nachts dagegen schliefen die Römer nicht tief, sondern eher nervös, in steter Erwartung des frühen Morgenlichts. Clara und ich, wir suchen aber nicht wirklich nach einem Ort, wo uns niemand beobachten kann, wir bewegen uns vielmehr weiter, obwohl es solche Orte für das Alleinsein doch überall gibt.
Ich weiß aber genau, warum wir noch nicht Haltmachen, wir fliehen noch ein wenig vor dem, was ganz unausweichlich geschehen wird, wir laufen gegen unseren eigentlichen Willen noch etwas davon. Keiner von uns beiden sagt noch etwas, aber ununterbrochen rotiert in unseren Köpfen jetzt eine kleine Phantasie- und Erwartungs-Maschine: Wie wird das sein, vor dem wir davonlaufen? Was genau wird jetzt geschehen?
Dann aber sind wir so erschöpft, dass es nicht mehr weiter geht, wir machen im dunklen Schatten von Steineichen halt und tun dann noch einen Moment so, als wollten wir wirklich die Lebensmittel Stück für Stück aus der Busta auspacken. Clara beginnt jedenfalls damit, aber es wird mir zu viel, mein Gott, ich habe nicht den geringsten Hunger, nein, und dann gebe ich Clara das erwartete Zeichen, indem ich mit der Hand kurz über ihren Rücken streiche, so dass sie sich sofort zu mir umwendet und wir uns wieder zu küssen beginnen, immer wieder von Neuem, aber jetzt in dieser schattigen, kühlenden Glocke des kleinen Wäldchens, wo wir den weichen, duftenden Boden ganz für uns haben.
Mit diesen erneuten Küssen ist aber alles vergessen, was sich gerade ereignet hat, unser Einkauf, unser Weg, alles ist ausradiert und bereits aus dem Gedächtnis getilgt, was wir jetzt wahrnehmen ist nichts als die unglaublich erleichternde Anknüpfung an unsere Küsse in der Bar nahe dem Conservatorio. In all unseren Bewegungen ist diese Erleichterung, wir denken jetzt an nichts anderes mehr, wir überlassen uns ganz diesem Empfinden, dem Gefühl, dass die Körper alles von selbst wissen, alles von allein, ja, die Körper haben ein geradezu phantastisches Repertoire an kleinen Gesten und Annäherungen, das mit dem teilweisen Entkleiden beginnt, mit dem Ausziehen meines weißen, gestärkten Hemdes und mit dem raschen Über-den-Kopf-Streifen des roten Shirts, das Clara trägt.
Die Nacktheit unserer Oberkörper verschwindet aber im Schatten der Bäume, sie wirkt nicht auffällig oder fremd, nein, ganz im Gegenteil, die Nacktheit der leicht gebräunten, aber noch nicht dunklen Haut wirkt wie genau die richtige, passende Ergänzung zum dunklen Steineichengrün, ich bekomme diese Harmonie gerade noch mit, es schaut aus wie ein Farbspiel auf einem impressionistischen Picknick im Grünen, dann aber sehe ich nichts mehr von all diesen Spielereien, denn ich spüre nur noch, wie die beiden nackten Oberkörper unter der gegenseitigen Berührung einen Moment erschauern und sich dann kaum noch bewegen, es ist der pure Genuss, die Urform des Genusses, denke ich noch, alle anderen Genüsse leiten sich her von diesem hinreißend schönen Erleben, dem Erleben der totalen Berührung eines anderen nackten Körpers, dem Erleben dieses Schocks, der Erstarrung, dem Einatmen und Einsaugen des Fremden, das so erleichternd nah und vertraut ist, ja, absolut fremd und absolut nah, beides zusammen in ein und demselben Moment.
Ich glaube, wir haben unendlich lange Zeit so beisammen gelegen, die Oberkörper dicht aneinander geschmiegt, nur noch vertieft in Orgien von Küssen, ja, wir haben das alles sehr lange genossen, bis wir nahe genug an der Klippe standen, sehr nahe, kurz vor dem Absprung, und als es denn so weit war, haben wir es in Windeseile beinahe zugleich geschafft, auch die anderen Kleidungsstücke noch loszuwerden, weg damit, und sofort spürten wir, dass jetzt die Erfüllung unserer lange gehegten Erwartung begann, das vollkommene Ineins der beiden Körper, so selbstverständlich leicht und so schön, als wären sie nur dafür bestimmt.
Genau das aber dachte ich wirklich, eigentlich ist der Körper nur dafür bestimmt, dachte ich und war in diesem Moment über die Maßen glücklich, dass ich so etwas erfahren und herausbekommen hatte. Ich, ausgerechnet ich, der ich nie daran geglaubt oder gar darauf gehofft hatte, so etwas wie Die Liebe einmal zu erleben, ich erlebte das alles jetzt, und ich erlebte es als eine Sensation, ja, genau als das erlebte ich es, ich erlebte Die Liebe wie ein Ereignis, mit dem ich nie gerechnet hatte und das ich mir nie hätte ausmalen können. Als unerwartetes, ja geradezu blitzhaft eingetretenes Ereignis überstieg es meine Vorstellungen und Gedanken. Nicht einmal daran zu denken, hatte ich ja bisher gewagt, und es war gut gewesen, dass ich daran erst gar nicht gedacht hatte, denn ich hätte meine Zeit nur mit unsinnigen Grübeleien verschwendet, nichts geahnt oder erspürt. Die Liebe als Erlebnis ließ alles hinter sich, was ich mir hätte träumen können ...
All diese Empfindungen erschienen mir aber wie ein rasanter Traum von nur ein paar Sekunden, während ich neben Antonia ein Glas Weißwein aus den Castelli Romani leerte, eine winzige, flüchtige Berührung von Antonias Seite hatte zu meinen Träumereien geführt, eine Berührung, die von ihrem nackten Unterarm nach jenem Moment ausgegangen war, als sie ihre Jacke abgestreift und mir übergeben hatte, damit ich sie über ihre Stuhllehne hängte.
Genau das tat ich, doch als ich mit dem eigenen nackten Unterarm eine Bewegung von dieser Lehne zurück an den eigenen Platz machte, streiften sich unsere Arme zufällig. Es war wirklich nur eine sehr flüchtige, momentane Berührung von einigen Zehntelsekunden, doch diese Berührung genügte, um den rasanten Traum auszulösen, denn plötzlich spürte ich die alte, vertraute Empfindung, eine Mischung aus starker Wollust und verhaltener, noch kontrollierter Gier, eine starke Sehnsucht, ein extremes Verlangen.
Ich wusste nicht, ob es Antonia ähnlich erging, ich sagte jedenfalls nichts, war aber erstaunt, dass sie mich nach einem kurzen, stummen Moment plötzlich fragte, ob ich wirklich Liebesromane schriebe. Wie kommst Du denn darauf?, fragte ich, und sie antwortete, sie habe sich in der Buchhandlung im Parterre unseres Wohnhauses nach den Büchern, die ich bisher geschrieben hätte, erkundigt. Zuletzt hätte ich anscheinend ausschließlich Liebesromane geschrieben, zwei oder sogar drei hintereinander. Warum schreibst Du Liebesromane? Wie bist Du darauf gekommen? Du hast doch in all den Jahrzehnten vorher anscheinend keinen einzigen Liebesroman geschrieben!
Ich sagte, dass ich darauf auch keine mich selber ganz befriedigende Antwort hätte, denn schließlich hätte ich mir überhaupt nicht vorgenommen, einen Liebesroman nach dem ändern zu schreiben. Es sei vielmehr einfach geschehen, und zwar mit einer Dringlichkeit, als wäre es für mich geradezu notwendig, diese Romane zu schreiben. Und es gibt keine bestimmten Ereignisse, die das Schreiben solcher Romane ausgelöst haben?, fragte sie. — Ah, jetzt, ahne ich, warum Du mich so etwas fragst, sagte ich, Du vermutest vielleicht, ich hätte mich wirklich verliebt oder ich hätte gerade Erlebnisse hinter mir, die dieses Thema berühren. Das ist aber nicht der Fall, nein, das stimmt nicht, Gott sei Dank stimmt es nicht, denn wenn es so wäre, wäre das ja nur peinlich. — Aber was war es dann? — leb habe eine einzige, vage Vermutung, antwortete ich, und diese Vermutung hat mit meinem Aufbruch nach Rom zu tun. Seit mehreren fahren habe ich nämlich bereits daran gedacht, mir eine Wohnung in Rom zu nehmen und hier in Rom am Roman meiner Kindheit und fugend zu schreiben. Das Ganze war wie eine fixe Idee, ich war von dieser Idee besessen, immer wieder dachte ich daran, dass ich nach Rom reisen sollte, um endlich mit diesem Roman zu beginnen. — Und in dieser Zeit hast Du die Liebesromane geschrieben? — Ja, und in all diesen Jahren der Sehnsucht nach Rom habe ich einen Liebesroman nach dem ändern geschrieben.
Ich hatte über diese Zusammenhänge bisher nur im Stillen und sehr vorläufig nachgedacht, jetzt aber, als ich offen über sie sprach, erschienen sie mir plötzlich nicht mehr so vage, sondern durchaus überzeugend, ja sogar gut begründet. Mit dem Schreiben der Liebesromane hatte ich mich Rom genähert, mit diesem Schreiben hatte ich die jahrzehntelang unterdrückte Erinnerung an die bisher einzige, große Liebe, die ich erlebt hatte, angelockt und genährt.
Jetzt, wo ich mit Dir darüber rede, finde ich meine Vermutung überzeugend, sagte ich zu Antonia. — Stimmt, antwortete sie, ich finde sie auch überzeugend, ja, ich finde sie zwar etwas seltsam und merkwürdig, aber durchaus überzeugend. Vielleicht finde ich sie aber auch bloß überzeugend, weil ich froh bin, dass Du nicht wirklich verliebt warst. — Ich verliebe mich nicht leicht, sagte ich, ich habe mich nur sehr selten in meinem Leben verliebt. — Und der Sex?, fragte Antonia, wie lief es denn mit dem Sex, wenn Du nur selten verliebt warst? - Ich mag das Wort Sex nicht, antwortete ich, ich finde, das Wort bezeichnet nur etwas Abstraktes, aber kein eigentliches Begehren. — Ah ja, und dieses eigentliche Begehren, wie Du es nennst, gibt es nur in Verbindung mit Liebe?— Aber nein, keineswegs, das Begehren gibt es latent ununterbrochen, es wird bloß nicht laufend geweckt.
— Es gibt ein latentes, ununterbrochenes Begehren? — Aber ja. — Und dieses Begehren ist einfach da und richtet sich auf die gesamte Umgebung?— Ja, auf die gesamte Umgebung. Das latente Begehren wählt unablässig aus, wovon es jeweils mehr will: von diesem Wein, von den Artischocken dort drüben, von der Farbe Blau, von einem Dreiklang in cis-Moll oder von Deinem Unterarm, der meinen Unterarm eben gestreift hat. — Mein Unterarm hat Deinen Unterarm eben so gestreift, dass Du diese Berührung als ein Begehren erlebt hast? — Genau so. — Und jetzt ist dieses Begehren bereits wieder vorbei? ~ Aber nein, es ist nicht vorbei, sondern nur gespeichert, es kann jederzeit neu aufgeladen und intensiviert werden. — Und das hat mit Liebe zu tun?— Nein, mit Liebe hat es noch nichts zu tun, es kann aber damit zu tun bekommen. — Und wie kann es das? — Wenn sich das Begehren an irgendeinem funkt kristallisiert, wenn es umkippt in Verliebtheit.
— Und wie kommt es dazu? — Frag nicht so scheinheilig, liebe Antonia, Verliebtheit entsteht einfach von selbst, sie ist plötzlich da, wie eine Aufladung der Atmosphäre, wie ein Blitz. — Ach ja?, ganz leicht, wie von selbst entsteht die Verliebtheit?, jetzt verstehe ich, Verliebtheit ist in Deinen Augen wohl etwas durch und durch Komisches. — Im übertragenen Sinne ja, Verliebtheit ist eine römische Krankheit, eine Ekstase. — Das klingt interessant, mein lieber "Johannes, Du solltest ein Buch darüber schreiben. — Ein Buch? Wie kommst Du denn darauf? — Du solltest ein Buch über die römische Ekstase schreiben. — Du wirst Dich wundern., Antonia, aber ich habe daran auch schon gedacht.
Ich nippte an dem kräftigen, guten Weißwein aus den Castelli Romani und beobachtete, wie versunken Antonia plötzlich neben mir saß. Sie spielte mit einem Serviettenring, sie schob ihn hin und her, drehte ihn, tippte ihn an und ließ ihn ein kleines Stück über den Tisch rollen. Dann aber hielt sie plötzlich inne, als hätte sie bemerkt, dass ich sie beobachtete. Sie drehte den Kopf zu mir, und als sie sah, dass ich sie wirklich anschaute, lachte sie und fragte: Sag mal, wirst Du noch weitere Liebesromane schreiben? Oder ist es jetzt, wo Du in Rom lebst, damit vorbei?— Ich sage dazu nichts mehr, antwortete ich, ich kann dazu einfach nichts Weiteres sagen. Würde ich nämlich jetzt viel darüber reden und nachdenken, würde ich mir jede Chance verbauen, noch einmal spontan so etwas zu schreiben. — Entschuldige, sagte Antonia, ich bin wirklich zu neugierig. — Schon gut, sagte ich, wir unterhalten uns vielleicht später noch einmal darüber, aber jetzt lass uns essen, ich freue mich jetzt auf das Essen.

#38 
regrem патриот24.04.14 07:55
24.04.14 07:55 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:29 (regrem)

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ICH HABE den jungen Mann jetzt genau vor Augen, der sich in Rom ein neues Leben geschaffen hat. Er ist verliebt, wird von einer älteren Gönnerin unterstützt, hat in dem Haus, in dem er wohnt, viele Freunde und kennt in Rom von Tag zu Tag immer mehr Menschen, die er regelmäßig trifft und mit denen er sich sogar oft längere Zeit unterhält.
Sein römisches Leben ist mit dem Leben, das er zuvor in Deutschland geführt hat, nicht mehr zu vergleichen, es ist ein Leben, wie er es sich immer gewünscht hat. Das Schönste aber ist, dass niemand, dem er begegnet, ihn auf sein früheres Leben anspricht oder von diesem früheren Leben etwas ahnt, natürlich spricht er selbst auch niemals davon, um keinen Preis will er noch weiter an seine stummen Tage oder an seine einsamen Streifzüge durch die deutschen Städte und Landschaften erinnert werden.
In Rom aber ist es unmöglich, einsam zu sein, denn selbst wenn er einige Stunden allein in der Stadt ist, hat er das Gefühl, mit allen Menschen und Dingen um ihn herum in einem direkten Austausch, ja sogar in einem engen Kontakt zu stehen. Er spürt diesen Kontakt physisch, wie eine innere und äußere Wärme, eine Geborgenheit, ein Vertrauen, nie empfindet er auch nur den Hauch einer Bedrohung oder einer Gefahr, die Ewige Stadt ist so sehr sein ureigenes, auf seinen Leib und seine Seele ausgerichtetes Terrain, dass er sich schon bald nicht mehr vorstellen kann, noch einmal in einer anderen Stadt zu leben.
Das einzige Problem, das er in dieser Zeit überhaupt hat, besteht darin, sein neues Leben den Eltern begreiflich zu machen. Jede Woche schreibt er ihnen einen ausführlichen Brief und erzählt ihnen von seinen Wegen durch
Rom, natürlich lässt er bestimmte Details weg, über seine Liebe zum Beispiel kann er nicht schreiben, wohl aber über die Abende im Innenhof seines Wohnhauses, über die Gespräche mit Paolo und den anderen Mitbewohnern, aber auch über den Unterricht am Conservatorio und seine Mitstudenten, über die Treffen und Begegnungen mit ihnen in den Bars und Cafes rund um die Piazza del Popolo.
Da die Telefonkosten viel zu hoch sind, verläuft der gesamte Kontakt mit den Eltern nur über diese Briefe. Ausschließlich die Mutter antwortet ihm, der Vater versieht jeden Brief nur mit einem kurzen Postskriptum. In diesen Postskripta schreibt er lauter aufmunternde und freundliche Sätze, mach so weiter, Junge!., schreibt er zum Beispiel, und daneben findet sich häufig die Wendung, dass er stolz ist auf seinen Sohn, stolz und begeistert.
Dass der Vater stolz und begeistert ist, kann er sich genau vorstellen, solche Wendungen sind bei ihm keine Phrasen, der Vater meint sie ernst, er freut sich mit seinem Sohn, schließlich hat er ja einmal viel dafür getan, aus einem stummen Idioten einen lebensfähigen Menschen zu machen.
Mit der Mutter ist es dagegen gar nicht so einfach. Auch aus ihren Briefen klingt zwar eine starke Zufriedenheit mit seiner Entwicklung heraus, diese Zufriedenheit wird aber immer wieder überlagert durch ihre langen Schilderungen und Berichte vom Leben im Haus auf der Höhe. Seit sie ihm von diesem Leben erzählt, begreift er erst, wie wunderbar sie erzählen und schreiben kann, im Grunde liest er kaum etwas anderes lieber als diese
Schilderungen und Berichte seiner Mutter, die Erzählungen vom Leben im großen Garten, seinen Veränderungen und den Gedanken, die sie sich über die kleinsten Details macht. Manchmal kommt es ihm sogar so vor, in diesen Briefen nicht die Stimme seiner Mutter, sondern die einer Schriftstellerin wiederzuerkennen, er kennt diesen Ton sonst nur aus französischen Texten, ja wahrhaftig, der Erzählton seiner Mutter liest sich so, als läse man eine Übersetzung aus dem Französischen.
So elegant und verführerisch diese Briefe auch sind, der junge Mann erliegt ihnen nicht. Vor einiger Zeit wäre das noch unmöglich gewesen, denn vor einiger Zeit hätte ihn der Ton dieser Briefe noch derart getroffen, dass er sich sofort auf den Weg nach Hause gemacht hätte. Es handelt sich nämlich um einen Ton, der ein starkes Heimweh auslösen kann, ja, es ist ein Ton, der ihn lockt und ihm all das, was er so genau und intensiv seit den frühsten Kindertagen kennt, wie eine geschlossene, harmonische Welt präsentiert.
Aus dieser Welt sind nun aber die alten Dunkelheiten verbannt, sie werden nicht einmal mit einer kleinen Bemerkung gestreift, die Welt rund um das Haus auf der Höbe ist jetzt vielmehr ein paradiesischer Garten mit einem Schutzwall aus Hecken und Wäldern, in dem man sich nur noch mit den schönen Dingen des Lebens beschäftigt.
Genau diese Lebenskunst beschreibt die Mutter wie ganz nebenbei in ihren Briefen, sie schreibt davon, wie sie an einer bestimmten Stelle des Gartens Tee trinkt und dazu ein bestimmtes Buch liest, sie erwähnt die Musik, die aus dem Blockhaus des Vaters dringt, sie schreibt von den Spaziergängen, die sie mit ihm zusammen macht und die beide immer wieder an die alten, schönen Orte führt, wo der junge Mann als kleines Kind das Sprechen gelernt hat.
So eindringlich und verlockend das alles auch ist, der junge Mann ist gegen die Versuchung, nach Hause zurückzukehren, gefeit, in Rom hat er nicht das geringste Heimweh, denn in Rom wirken die schönen Bilder von seinem deutschen Zuhause zwar noch immer sehr intensiv nach, sie lösen aber nicht so starke Emotionen aus, dass er verunsichert wäre.
Dass es zu solchen Verunsicherungen nicht kommt, liegt vor allem an seiner Liebe, denn diese Liebe hält seine gesamten Gefühle und Empfindungen derart stark besetzt, dass es für so etwas wie Heimweh keinen Platz mehr gibt. Auch die Liebe zu den Eltern ist gegenüber der Liebe zu seiner Freundin Clara von deutlich schwächerem Gewicht, natürlich liebt er seine Eltern, sie beherrschen nur nicht mehr so ausschließlich wie früher seine Gedanken und Empfindungen.
Hinzu kommt, dass ihn der strenge Unterricht am Conservatorio stark beschäftigt und ihm keine Zeit für Nostalgien lässt, jeden Tag übt er viele Stunden und jede Woche hat er eine Vielzahl von Theorie-Seminaren zu besuchen, ganz zu schweigen von den Treffen mit jenen Kommilitonen, mit denen er auch noch Kammermusik probt. In seinem Jahrgang hat er viele Mitspieler gefunden, er spielt vierhändige Kompositionen oder Kompositionen für zwei Klaviere, oder er tritt mit einigen älteren Studenten, die ein Streichquartett gegründet haben, bei allerhand festlichen Gelegenheiten in den römischen Häusern und Palazzi auf, um etwas Geld zu verdienen.
Das gefeierte Meisterwerk solcher Auftritte ist Schumanns Klavierquintett, dessen erster Satz, in einem hohen, geradezu tollkühnen Tempo gespielt, beim Publikum regelmäßig zu Begeisterungsstürmen führt, der junge Mann hat dieses Stück auf die Programme gesetzt, er hat es für die römischen Zirkel entdeckt, wie er mit der Zeit überhaupt Freude daran findet, die seltsamsten und ungewöhnlichsten Programme zusammenzustellen, mit denen er seine Freunde und Mitspieler, vor allem aber die Musik begeisterten Römer immer wieder verblüfft.
Die Fähigkeit, den Geschmack dieser Kreise zu treffen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, etwas Außergewöhnliches, Raffiniertes und Rares zu hören, gehört nach einer Weile zu seinem rasch wachsenden Ruf, der junge Mann gilt nicht nur als ein guter Pianist, sondern auch als eine Art von Programmgestalter, der das Publikum mit abwegigen und ungewohnten Programmen zu verblüffen und in Scharen anzuziehen versteht.
Diese immer stärker werdende und durch Mundpropaganda verbreitete Anziehung hat aber auch damit zu tun, das s er mit seinen Freunden und Kommilitonen nicht an den bekannten Konzertstätten auftritt, sondern sich auf die Suche nach Räumen macht, in denen noch nie Musik aufgeführt worden ist.
Die meisten dieser Räume liegen zunächst im Stadtteil Trastevere, es handelt sich um alte Weinkeller oder ehemalige Zisternen, der halbe Untergrund dieses Viertels wird von katakombenartigen Gängen und Stollen durchzogen, die oft unterhalb von Wirtschaften und Restaurants liegen.
Meist findet sich das Publikum in diesen Wirtschaften ein und beginnt mit dem Abendessen, das zwei- oder dreimal von musikalischen Darbietungen in den Kellern unterbrochen wird. Auf die Ausschmückung dieser Keller verwenden der junge Mann und seine Freunde viel Energie, brennende Öllampen verbreiten eine intime Spannung, Blumendüfte sorgen für ein narkotisches Flair von intensiven Gerüchen, während die vielen, überall in den Gängen postierten Vasen und Schalen mit Blumen einen verschwenderischen, luxuriösen Eindruck machen.
Die Phantasien, denen der junge Mann bei solchen Inszenierungen folgt, hat er aus altrömischen Texten und Büchern über das Alte Rom, immer wieder liest er Gedichte, Briefe und Erzählungen aus dieser Zeit, ja er ist von den Bildern und Zeichen der altrömischen Kultur mit all ihren Villen, Wandgemälden und Festen derart eingenommen, dass er manchmal sogar davon träumt, in einer altrömischen Villa irgendwo in der römischen Campagna als Mitglied einer großen Hofhaltung zu leben.
Neben den Briefkontakten mit seinen Eltern ist der Kontakt mit Walter Fornemann der einzige, der noch nach Deutschland besteht. Auch an Fornemann schreibt der junge Mann Briefe und erhält von seinem früheren Lehrer ausführlich Antwort. Ihr gesamter Briefwechsel kreist ausschließlich um die Musik, um bestimmte Stücke und Komponisten, um neue Schallplatten und Interpreten. Am wichtigsten für den jungen Mann ist, dass Fornemann ihn immer wieder in seinem Tun und Handeln bestärkt und sich darüber hinaus sogar Gedanken macht, wie er ihn aus der Ferne animieren kann, noch mehr musikalische Neuheiten kennen zulernen
So schickt ihm Fornemann Partituren und Bücher, empfiehlt ihm Stücke, von denen er noch nie gehört hat, und erzählt auf seine pointierte, unterhaltsame Art von den Auftritten großer Pianisten im Rheinland. Ich habe Arrau gehört, lieber "Johannes, es geht nichts über Arrau! — in diesem Ton beginnen seine enthusiastischen Porträts, die der junge Mann seiner Freundin vorliest. Sie geraten über der Lektüre solcher Briefe oft gemeinsam in eine Begeisterung, die sie noch am Tag der Lektüre in ein Konzert treibt, am liebsten besuchen sie Konzerte im Freien, die Auftritte großer Pianisten in der gewaltigen Basilika des Maxentius auf dem Forum oder Konzerte in den Kreuzgängen der mittelalterlichen Kirchen, in denen die Musik es gegen die jahrhundertealte, schwere Stille oft schwer hat.
So ist das römische Leben für den jungen Mann ein einziger, unfassbarer, nicht enden wollender Rausch, ein Rausch aus Liebe, intensiver Arbeit und Freundschaft, der ihn vom frühen Morgen bis tief in die Nacht durch die Ewige Stadt treibt. Mit der Zeit füllt sich der seltsam arbeitende Speicher seines Gehirns darüber mit lauter Daten und Zeichen, seine alte Protokollsucht ist weiter am Werk, so dass er unablässig in seine schwarzen Kladden notiert, in welchen Gegenden Roms er sich bewegt und was genau er dort sieht. Was er einmal notiert hat, bleibt haften, so hat der junge Mann zum Beispiel ein gutes Gedächtnis für kunsthistorische Details und Daten, seine Freundin spielt manchmal mit ihm ein eigenartiges Spiel und fragt ihn, in welcher Kirche sich dieses oder jenes Gemälde befindet, er weiß es genau, ja er kann sogar die Kapelle nennen, in der das Gemälde hängt.
Das geplante Studium der Kunstgeschichte betreibt er nebenbei, er geht jedoch ausschließlich in bestimmte Überblick bietende Vorlesungen, nicht aber in Seminare, insgesamt ist ihm die universitäre Lehre zu langsam und zu wenig originell, nein, das alles packt ihn nicht, er findet an dieser Lehre nur wenig Gefallen, und wenn ihm einmal etwas imponiert, so ist es ein einzelner Lehrer, der sich traut, etwas zu behaupten, das sich von der allgemeinen Lehrmeinung entfernt. Solche Lehrer aber gibt es nur wenige, meist sind es die jüngeren, vielleicht ist es letztlich nur einer, er heißt Roberto Zucchari und ist ein später Nachfahre der römischen Künstlerfamilie Zucchari.
Mit Roberto, der nur sechs Jahre älter ist als er, trifft sich der junge Mann auch privat häufig, Roberto hat ein Faible für die Musik der Romantik, so wie er ein Faible für Renaissance-Malerei hat. Dazu passt, dass Roberto ein schöner Mann ist, ein Mann, der so erscheint, als denke und rede er nicht nur ununterbrochen über die Schönheit, sondern als trage er auch Sorge dafür, sie zu verkörpern. Diese Sorge schlägt sich in seiner Kenntnis von Stoffen und Kleidung und von beinahe allem nieder, was den Alltag berührt, in Robertos Nähe glaubt sich der junge Mann in ein ästhetisch stimmiges Reich versetzt, das ihn schließlich auch Robertos Ratschlägen zur Praxis des Schönen folgen lässt.
Diese Ratschläge verschaffen ihm auf kostengünstige Weise lauter angenehm zu tragende Kleidungsstücke aller Art, zum ersten Mal in seinem Leben achtet er jetzt darauf, wie er sich kleidet, und damit darauf, was er etwa während des Orgelspiels in der Kirche trägt oder wie er sich während einer abendlichen Seance in Trasteveres Kellern präsentiert.
So geht und wirkt für den jungen Mann in Rom alles zusammen und kreist ununterbrochen um seine Liebe und die Musik, die Liebe hat die starke Wirkung, die Musik auf ihn ausübt, aufgefangen und noch verstärkt, so dass er sich während seiner vielen Stunden in den Übezellen des Conservatorio nicht wie ein Übender vorkommt, sondern wie einer, der seinen Rausch und seinen Taumel zu bändigen sucht.
Das Üben erscheint ihm daher wie ein sportliches Training, wie langes, ununterbrochenes Laufen mit dem Einsatz aller Glieder und Muskeln oder wie ein Stemmen und Ausbalancieren von schweren Gewichten oder wie ein Schlagtraining, das Ganze ist ein ewiger Kampf mit der Schwere des Instruments, mit seiner Unbeweglichkeit, mit der Härte seiner Melodietönung, mit der Monstrosität seines Klangs. Das Ziel ist, diesem widerständigen, schwerfälligen Wesen so etwas wie Eleganz und Weichheit zu entlocken, eine perlende Melodieführung zu erreichen und dadurch einen Klang zu erzielen, wie man ihn einem Flügel nie zutrauen würde.
Auf der Suche nach diesem Klang ist der junge Mann in Roms Klavierfabriken und Klavierläden unterwegs, er testet die verschiedensten Fabrikate und notiert, für welche Kompositionen sie sich jeweils eignen könnten. Im Conservatorio dagegen stehen beinahe ausschließlich Flügel der Marke Steinway, der junge Mann kommt jedoch gerade mit ihnen nicht gut zurecht, die meisten sind ihm zu starr und zu hart und vor allem in den Tiefenbereichen zu trocken, manchmal schlägt er resigniert und erschöpft auf sie ein, und sie antworten mit einem fahlen, matten Krachen und Ächzen, als empfänden sie bei derartigen Züchtigungen noch eine geradezu masochistische Lust.
Wenn der junge Mann aber eine ideale Kombination von Instrument und Komposition erwischt, wenn beides zusammenpasst und ein Stück so klingt, als wäre es nicht auf einem Tasten-, sondern einem Saiteninstrument gespielt oder sogar mit der Stimme gesungen, dann überfällt ihn während des Spiels oft eine alte Erinnerung.
Er beugt sich etwas vor, er macht den Oberkörper leicht und schlank, er lässt den Fingern ihren Lauf, er korrigiert sie nur unmerklich einmal hier und da in ihrer Ausrichtung — in solchen wilden, schönen Momenten ist manchmal die alte Erinnerung da und er glaubt, wie früher als Kind auf dem Rücken eines schnell galoppierenden Pferdes zu sitzen. Es ist dieselbe Schnelligkeit und dieselbe Lust, es ist ein sanftes Dahingleiten über einen weichen, nachgiebigen Boden, Schwindel erregend und doch kontrolliert, ein geradezu ideales Zusammenwirken von zunehmendem Tempo und unmerklicher Lenkung.
Er erzählt Clara davon, wie er ihr überhaupt das meiste erzählt, was ihm am Tag durch den Kopf geht. Das Erzählen ereignet sich in den Stunden ihrer Erschöpfung, in den ruhigen Minuten nach der ersten Überwältigung durch die Nähe der Körper, die weiter so stark ist, dass sie die beiden Liebenden von der ersten Minute ihrer Begegnungen an mitreißt. Kaum haben sie sich nämlich irgendwo in der Menschenmenge der Ewigen Stadt entdeckt, fliegen sie auch schon aufeinander zu und verfallen gleich, noch ohne ein Wort gesprochen zu haben, in einen heftigen Austausch von Küssen, sie haben sich so daran gewöhnt, dass jede andere erste Aktion sie durcheinanderbringt und unruhig werden lässt.
Nach diesen ersten atemlosen Minuten aber kommen sie erst recht nicht zur Ruhe, sie bewegen sich meistens rasch, sie kreuzen die Straßen und springen irgendwo in ein Abseits, Hauptsache, sie sind dort allein und am besten auch noch versteckt, denn die Körper wollen sofort, auf der Stelle, so nahe zusammen wie möglich, weshalb sie sich angewöhnt haben, eine sehr leichte Kleidung zu tragen, einfache, dünne, leicht abzustreifende Hemden und Hosen, ein Nichts von Kleidung über den nackten Körpern.
Unter dieser leichten, sommerlichen Kleidung spüren sie auch während der Abwesenheit des anderen ihre Nacktheit, es ist gut, diese Nacktheit den ganzen Tag über zu spüren, der Körper geht viel stärker auf die Umgebung ein und reagiert ununterbrochen auf ihre Reize, so macht die gespürte Nacktheit aus ihm ein sensibles Instrument mit einem feinen, exakten Sinn für Erotik, Rom, findet der junge Mann, ist ein Universum an erotischen Begegnungen, immerzu findet er Neues, das ihn erregt und beschäftigt, von den Besuchen der großen Märkte in der Nähe der Stazione Termini bis hin zu den nächtlichen Spaziergängen an den dunklen, tiefliegenden, einsamen Ufern des Tibers.
Sind der junge Mann und seine Freundin aber einmal mit Freunden oder Bekannten zusammen oder irgendwo unterwegs, spüren sie nach einer Zeit eine gewisse Nervosität, sie entsteht durch die Anwesenheit der anderen, die sie daran hindern, nur miteinander zu sprechen oder sich so zu berühren, wie sie sich nun einmal berühren müssen, um ein Durchdrehen und Ausrasten der Körper zu verhindern, es kommt dann immer wieder zu der seltsamen Szene, dass sich einer von ihnen aus dem Kreis der Freunde entfernt und der andere ihm wenig später folgt, es geht nicht anders, zumindest für ein paar Minuten müssen sie ausschließlich zu zweit sein, sich berühren, sich vergewissern, wie vollkommen und hingebungsvoll der Körper des anderen dem Verlangen des eigenen Körpers entspricht.
Leicht in Trance, aber getrennt kommen sie dann wieder zu den Freunden zurück, einmal ist ihre gleichzeitige Abwesenheit aufgefallen und hat nach ihrer Rückkehr für Gelächter gesorgt, sie scheren sich darum nicht und kümmern sich auch nicht darum, dass sie beneidet werden. Meist kleidet sich der Neid in die Kritik, dass die beiden zu häufig und jeweils zu lange zusammenseien, sie hören sich so etwas an und erwidern nichts, es gibt darauf nichts zu erwidern, ihre Liebe hat zu einer gegenseitigen Bindung geführt, die etwas Magnetisches und
Dämonisches hat, es ist ein Zauber, so nennt es der junge Mann, ja es ist, als hätte ihnen jemand eine Droge verabreicht, die sie nicht mehr ruhen und vernünftig denken lässt, sondern eine ununterbrochene Sehnsucht bewirkt, einander so häufig wie möglich nahe zu sein.
Lange haben sie darüber gesprochen, ob sie diese Nähe noch dadurch verstärken wollen, dass sie zusammenziehen, sie haben sich jedoch dagegen entschieden. Sie schlafen nachts nicht zusammen in einem Bett, sie möchten nicht erleben, wie der andere einschläft und morgens erwacht, nein, das alles wollen sie nicht sehen und nicht erleben. Viel stärker ist nämlich der Reiz der Entbehrung und der stundenlangen Askese, das einsame Schlafen während der Nacht und der erste Gedanken am Morgen daran, den anderen wiederzusehen. Außerdem können sie sich ihre geschmeidigen und beweglichen Körper nicht in Betten oder in geschlossenen Räumen vorstellen, sie liefern diese Körper lieber laufend anderen Umgebungen aus, sie suchen unentwegt nach Verstecken und geheimen Terrains, wo sich diese Körper in Windeseile oder in langsamer Verzögerung ineinander auflösen. So sind sie in ganz Rom und seiner weiten Umgebung unterwegs, sie haben etwas Lektüre und etwas Ess- und Trinkbares dabei, aber sie verwenden für diesen Transport nie eine feste Tasche oder ein anderes Accessoire, nein, sie kaufen ein und stecken alles in eine leichte, im Wind flatternde Busta, die sich bis zum Abend hin leert und dann in einem Papierkorb verschwindet. So leicht und luftig wie ihre Kleidung ist diese Busta, und so leicht und vor allem spurenlos soll das ganze Leben sein, ein
Flug, ein Gleiten durch den weiten Raum der Ewigen Stadt, ein Umherstreifen an ihren Stranden und Schilfzonen am Meer, eine stundenlange, mittägliche Siesta in den kleinen Weinorten der Castelli.
Wenn sie aber doch einmal eine ganze Nacht miteinander im Freien verbringen, legen sie es oft darauf an, in gesperrte Bezirke wie das alte Gelände der Foren oder des Palatin einzudringen. Dort hineinzukommen, ist ganz einfach, sie verbringen den Nachmittag und den Abend in einem solchen Gelände und verstecken sich dann eine Weile, bis die Wärter bei einbrechender Dunkelheit abgezogen sind. Nachts aber gibt es keine Kontrollen, die stillen, von der Sonnenhitze des Tages erwärmten Zonen atmen aus, und wenn man es geschickt anstellt, kann man in der tiefen Nacht sogar ein kleines Feuer anzünden, das niemand sieht. Man muss nur in die Tiefe steigen, in die dunkle Weite einer Arena und ihrer Torbögen, in eine überdachte Hütte von der Art der alten Romulus-Hütten oder in kleine Gewächshäuser, in denen die Wärter der archäologischen Bereiche heimlich Tomaten und Zucchini anbauen.
In solchen Verstecken und Behausungen feiern sie dann ihre kleinen Feste, sie haben einen Weltempfänger dabei und hören Konzertübertragungen aus Finnland oder einer anderen unvorstellbaren Ferne, sie hören einen Auftritt des Pianisten Claudio Arrau in der Royal Albert Hall von London und bekommen mit, wie er die Sonate in As-Dur Opus einhundertzehn von Ludwig van Beethoven spielt, der junge Mann hört zu, als spielte der große Pianist das Stück nur für ihn, denn es ist eine der Beethoven-Sonaten, die auch er gerade spielt.
Einmal haben sie es sogar gewagt, eine Nacht in der Peterskirche zu verbringen, sie haben sich in einer überdimensionalen Gewandfalte eines marmornen barocken Papst-Grabes versteckt und die Rundgänge der Wächter abgewartet, der junge Mann wollte unbedingt eine ganze Nacht bleiben und sie zusammen mit seiner Freundin ganz für sich haben, sie wagten es dann aber kaum, sich in dem gewaltigen Bau frei zu bewegen, und schlichen hastig von Pfeiler zu Pfeiler, als wären unsichtbare Kohorten hinter ihnen her.
Zum Höhepunkt dieser römischen Zeit, ihrer Monate und schließlich sogar ihrer Jahre, wird dann sein zwanzigster Geburtstag. Um das Datum auch im Bild zu fixieren, lässt er sich von Roberto in eine römische Foto-Agentur einladen, wo einige Fotos von ihm gemacht werden sollen. Aus diesem Anlass trägt er einen leichten, schwarzen Anzug, ein weites, weißes Hemd und eine schmale, elegante Krawatte, es dauert Stunden, bis die Aufnahmen fertig sind, denn immer wieder korrigieren die beiden Fotografen den Sitz seiner Kleidung, den Stand der Beleuchtung oder ein Farbdetail einer Leinwand im Hintergrund.
Als er die teuren Fotografien, die Roberto ihm zum Geburtstag schenkt, schließlich in der Hand hält, erschrickt er. Er sieht einen schlanken, jungen Mann mit weit über die Ohren reichenden, langen Haaren, offener, breiter Stirn und schmalem, leicht überanstrengten! Gesicht, dessen dunkel getönte Erscheinung ihn wie einen
Römer erscheinen lässt. Die Augen blicken entschlossen, als stünde eine Entscheidung bevor, die breiten Lippen haben einen besonders dunklen Ton, alles an diesem Foto eines jungen Mannes in Halbtotale wirkt wie die Erscheinung eines anderen Menschen oder einer ihm fremden Figur, die niemand in der Heimat mehr wiedererkennen wird.
Der junge Mann hatte vor, das Foto nach Hause, an seine Eltern, zu schicken, er lässt es nach mehrfacher Betrachtung dieses Bildes dann aber doch bleiben, sag mal, Clara., bin ich das, bin ich das wirklich?, fragt er seine Freundin, die solche Fragen überhaupt nicht versteht, aber ja, caro, das bist Du, Du bist das, was fragst Du denn so? Irgendetwas an dieser Fotografie macht ihn aber unruhig und lässt ihn die Bilder schließlich verstecken, er erträgt es nicht, diesen anderen Menschen zu sehen, denn das Bild dieses anderen Menschen erinnert ihn jedes Mal an den Menschen von früher und an dessen Hilflosigkeit. Der andere, römische Mensch jedoch erscheint nicht im Geringsten hilflos, er wirkt wie eine Figur, die einen guten Weg hinter sich hat, ja er erscheint wie der Sohn aus vermögendem italienischem Haus.
Die Fotografien des reichen Sohnes haben ihn aber gerade noch rechtzeitig davon abgehalten, zur Feier seines Geburtstags ein großes Fest zu veranstalten, deshalb lässt er es mit einer kleinen Feier und höchstens zehn geladenen Gästen bewenden. Für diese Feier hat er sich ein Restaurant in Trastevere ausgesucht, in dem man ihn kennt, eine lange Tafel wird dort am Nachmittag des festlichen Tages gedeckt, und Clara, seine Freundin, kümmert sich um die Ausstattung des Raumes, in dem das Fest stattfinden soll.
Auf ihren Wunsch hin darf er bei den Vorbereitungen nicht zugegen sein, er ist etwas nervös, versteht aber nicht, warum er das ist, den ganzen Nachmittag treibt er sich allein in seinen Lieblingsgegenden herum und macht seiner Unruhe schließlich ein Ende, indem er den weiten Platz vor der Kirche Santa Maria in Trastevere betritt, lange Zeit auf den Stufen des Brunnens vor der Kirche verweilt und sie am frühen Abend endlich auch betritt.
In der schweren Dunkelheit des mittelalterlichen Baus sind nur noch wenige Menschen unterwegs, ein paar Kerzen brennen, im Chor leuchten die alten Goldmosaike mit Szenen aus dem Leben Mariens. Eine seltsame, lange nicht mehr gespürte Anspannung ist in ihm, als er sich hinkniet und ein Gebet spricht, er bringt das alte Deus, in adjutorium meum intende/ Domine, ad adjuvandum me festina nicht über die Lippen, sondern murmelt wie unter dem Zwang der strahlenden Marienbilder vor seinen Augen den Beginn des Magnificat, den er zum letzten Mal während seiner Schulzeit in der Klosterkirche gebetet hat: Magnificat anima mea Dominum/ Et exultavit Spiritus meus in Deo salutari meo ..., Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter ...
Während er aber diese Zeilen spricht, stürzen die lange verdrängten Erinnerungen nun doch auf ihn ein, es ist wie ein Befall, als wären Schwarmgeister hinter ihm her und setzten ihm zu, jedenfalls sieht er in einem raschen, sich beschleunigenden Reigen lauter Bilder seines früheren Lebens, Bilder seiner Ohnmacht und Schwäche, als wollte ihm jemand mit aller Macht vorführen, woran er sich so lange Zeit nicht zu denken getraute.
Er kann denn auch nicht länger in der dunklen Bank knien, nein, er tritt die Flucht an, bekreuzigt sich und entzündet am Eingang der Kirche noch rasch eine Kerze. Dann tritt er hinaus auf die Weite des großes Platzes, auf dem die Römer allabendlich feiern. Er biegt nach rechts ab, das Restaurant, in dem sein Geburtstag stattfinden wird, ist ganz nahe, als er es beinahe erreicht hat, bleibt er stehen, denn er erkennt, dass ausgerechnet vor diesem Restaurant an diesem Abend eine lange Schlange mit Gästen wartet, die alle keinen Platz mehr bekommen haben.
Als er jedoch an ihnen vorbeischleicht, erkennt man ihn plötzlich, er hört seinen Namen, ecco!, Giovanni!, da begreift er, dass all diese Menschen nur seinetwegen hier stehen und gekommen sind, mit ihm zu feiern. Von drinnen ist jetzt auch Musik zu hören, die breite Tür des Restaurants öffnet sich, und man blickt auf einen mit einem Blumenmeer gefüllten Gartensaal von der Art altrömischer Gartensäle. Es gibt aber keinen langen Tisch, sondern eine Gruppierung von vielen Tischen in einer großen Hufeisenform, über dem zentralen Tisch an der Wand aber erkennt er sein Foto, das Foto eines jungen Mannes in Halbtotale.
Während er den Saal betritt und die Hochrufe hört, sieht er zur Rechten einen Halbkreis von Streichern, die ihm zuliebe den Anfang der Meistersinger intonieren. Er mag dieses Stück sehr, aber er mag nicht, wenn man es schmettert und wenn es dröhnt, deshalb haben sie anscheinend die kleine Besetzung gewählt, so dass es jetzt klingt wie ein munterer, festlicher Reigen, sie spielen es sogar leicht überdreht, mit einigen Hupfern und Schlenkern, als lieferten sie eine übermütige, ausgelassene Version dieses Beginns.
Unübersehbar viele Menschen füllen den Raum, die jetzt auf ihn zuströmen, viele studieren mit ihm, andere kennt er von seinen Konzerten oder von Begegnungen in den Cafes rings um das Conservatorio, er bleibt hilflos stehen und bedankt sich immer wieder für die guten Wünsche, als er seine Freundin, Clara, erkennt, die in einem weißen, kurzen Kleid direkt vor seinem Foto steht und ihn unverwandt anschaut. Er schaut zurück, einen langen Moment betrachten sie sich regungslos, kein Lächeln, nichts, geht durch ihr Gesicht, es ist ein Medusenblick, den sie plötzlich beide zugleich haben und auch an sich spüren, so lange, bis er sieht, wie sich Clara aus dieser kurzen Erstarrung löst und mit vor Rührung fest aufeinandergepressten Lippen auf ihn zukommt.
Sie umarmen sich, sie küssen sich wie ein Brautpaar, und als er seine Augen wieder öffnet, sieht er im Hintergrund sein unscharfes Foto, als wäre Clara genau diesem Bild entsprungen und hätte sich nun mit ihm vermählt wie eine Roma, wie die schönste Erscheinung der Ewigen Stadt.

#39 
regrem патриот24.04.14 07:56
NEW 24.04.14 07:56 
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:31 (regrem)

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VOR EINER Woche habe ich am Schwarzen Brett des Conservatorio einen Aushang anbringen lassen, auf dem nach einer Klavierlehrerin oder einem Klavierlehrer für Marietta gesucht wird. Seither haben sich fünf Bewerber gemeldet, mit denen ich einen Nachmittags-Termin im Sekretariat des Conservatorio vereinbart habe.
Natürlich möchte ich nicht allein entscheiden, wer Marietta in Zukunft unterrichtet, sie selbst hat ein Wort mitzureden, die endgültige Entscheidung aber liegt bei Antonia, die mir inzwischen sagte, dass sie nicht nur neugierig auf die Bewerber, sondern auch auf das Conservatorio sei. Wie lange bist Du nicht mehr in diesem Gebäude gewesen?, fragte sie mich. Ich rechnete kurz nach und antwortete: Mehr ah drei Jahrzehnte.
Seit unserem Abend in der Via Bergamo haben wir uns wieder täglich gesehen, ja, wir sind inzwischen wirklich gute Freunde geworden. Ich spüre deutlich, dass Antonia im Umgang mit mir gelassener und offener geworden ist, und auch ich bin ihr gegenüber viel entspannter als früher. Die Bewohner in der Umgebung sehen uns oft zu zweit unterwegs und machen manchmal schon Bemerkungen darüber, auch unten, in der Buchhandlung, sehen sie uns als zusammengehörend an und geben mir bereits die Bücher mit, die Antonia bestellt hat.
Wahrscheinlich denken alle, wir wären längst ein Paar, das ist aber nicht so, wir sind kein Paar, und wir haben seit dem Abend, als wir kurz darüber nachdachten, gemeinsam eine Nacht zu verbringen, auch keine Anstalten mehr gemacht, eines zu werden. In unserem Alter küsst man sich nicht mehr laufend auf Straßen und Plätzen oder streunt durchs Grüne auf der Suche nach abgelegenen, intimen Orten, vielleicht ist das im Fall von Antonia und mir aber auch keine Frage des Alters, sondern hat mit den vielen anderen Erlebnissen und Geschichten zu tun, die unsere Freundschaft berühren und die wir alle im Kopf haben. Letztlich aber vermute ich, dass auch diese Geschichten nicht mehr zählen würden, wenn es plötzlich zu dem einen, schönen Moment käme, der alles über den Haufen würfe. Diesen einen, schönen Moment haben wir jedoch noch nicht erlebt, wir haben uns darauf zu bewegt, ereignet hat er sich aber noch nicht.
In einem solchen Moment ist alles klar und selbstverständlich, und man tut das, was man tun möchte, ohne langes Hin und Her. Ein paar Mal habe ich in meinem Leben solche starken Momente erlebt, sie haben aber nicht nur mit so großen Erfahrungen wie Freundschaft oder Liebe zu tun, nein, es sind einfach Momente, in denen sich etwas, an das man mehr oder weniger bewusst bereits längere Zeit gedacht hat, blitzartig entscheidet ...
Nun gut, Antonia und ich — wir haben also am gestrigen späten Mittag ein Taxi bestellt und sind zusammen mit Marietta zur Piazza del Popolo gefahren, in deren Nähe sich das Conservatorio befindet. Wir hatten noch etwas Zeit, deshalb habe ich die beiden zu einem Getränk in eines der beiden bekannten Cafes an der Piazza eingeladen, Marietta sagte, sie stelle es sich nicht leicht vor, in kurzer Zeit zu entscheiden, wen man von den fünf Bewerbern bevorzuge, und ich antwortete, dass sie den Bewerbern Fragen stellen solle.
Fragen? Was soll ich sie denn fragen? — Frag sie nach ihren Lieblingskomponisten oder frag sie nach einem Stück-, das sie hassen. — Darf ich sie so etwas wirklich fragen? — Aber ja, warum denn nicht? Frag sie nach ihrer 'Lieblingstonart und nach dem besten Pianisten, den es gegenwärtig auf der Welt gibt, und frag sie nach dem schönsten Euch über Musik. — Ich könnte sie auch fragen, woher sie kommen und was sie bisher so getan haben. — Kannst Du auch, aber das sind langweilige Fragen, Du solltest sie nicht das Übliche fragen, sondern Fragen stellen, bei deren Beantwortung sie nachdenken und Gefühle neigen müssen. — Ach, am liebsten, Giovanni, wäre es mir, wenn ich weiter bei Dir Unterricht hätte. — Danke, Marietta, das freut mich, aber ich habe Dir schon erklärt, dass Du jetzt eine richtige Lehrerin oder einen richtigen Lehrer brauchst. Du brauchst eine Technik -Löwin oder einen Technik-Champion, die Dir lauter Kniffe und technische Besonderheiten beibringen, dafür bin ich nicht der Richtige, glaube mir.
Als es an der Zeit war, gingen wir die wenigen Meter zu Fuß hinüber zum Conservatorio. Das Gebäude ist sehr groß, man kann es in einer schmalen Straße an seiner Vorderseite betreten und nach seiner Durchquerung auf der Rückseite in einer Parallelstraße wieder verlassen. Ich ging voraus und war erstaunt, dass sich bei
nahe nichts verändert hatte. Es gab noch immer die kleine Portier-Luke, an der man unbefragt vorbeischlüpfen konnte, und es gab die langen Fluchten mit den Übe- und Unterrichtsräumen, aus denen die Musik weit nach draußen, in die gesamte Umgebung, schallte.
Na, fragte Antonia, erkennst Du etwas wieder? — Es ist beinahe alles wie früher, antwortete ich, dieselbe stickige Luft, dieselben Kleiderhaken an den Wanden, die mich an die Kleiderhaken in meiner Volksschule erinnern, derselbe Innenhof mit den verdursteten Palmen, und die vielen Ankündigungen von Konterten an jedem, nur denkbaren Pfeiler. Plötzlich bemerkte ich, dass Marietta nach meiner Hand griff, sie ging langsam und zögernd neben mir her, die Größe und Monotonie des Gebäudes schien sie einzuschüchtern. Um sie zu beruhigen, nahm ich auch ihre Hand, während wir zu dem etwas versteckt liegenden Sekretariat einbogen, wo man uns sofort in einen Nebenraum führte, in dem die Bewerber erscheinen würden.
Wir warteten ein paar Minuten, dann tauchten drei der Bewerber auf, sie machten auf mich alle einen sehr jugendlichen, frischen Eindruck und beantworteten Mariettas Fragen mit erstaunlicher Schnelligkeit. Wir sagten ihnen, dass sie noch einen Moment auf dem Flur warten sollten, und nahmen uns noch zwei weitere Bewerber vor.
Die gesamte Gruppe setzte sich aus drei Frauen und zwei Männern zusammen, am meisten gefiel mir die jüngste Bewerberin, die nicht lange wartete, bis sie von uns etwas gefragt wurde, sondern sich gleich nach den Stücken erkundigte, die Marietta zuletzt geübt hatte
Marietta nannte einige, eine Partita von Bach, etwas von Pergolesi, Walzer von Brahms, etwas von Duke Ellington, daneben Samba und Tango.
Fantastisch, sagte die junge Frau zu Marietta, Du hast anscheinend einen sehr guten Lehrer gehabt. Aber warum unterrichtet er Dich nicht weiter? Ich erklärte ihr kurz, dass ich selbst Mariettas letzter Lehrer gewesen sei, die junge Bewerberin geriet für einen Augenblick durcheinander, lachte dann aber so schallend und herzlich, dass wir auch alle anfingen zu lachen.
Das aber war genau einer jener Momente, von denen ich eben erzählte, es war ein Moment der Befreiung und der Erleichterung, alles erschien plötzlich ganz einfach und selbstverständlich, so dass wir ohne weiteres Nachdenken wussten, dass wir genau diese Bewerberin nehmen würden und keine andere.
Wir unterhielten uns noch eine Weile, und Antonia konnte sich nicht verkneifen, ihr zu erzählen, dass ich vor Jahrzehnten selbst einmal ein Schüler dieses Conservatorio gewesen sei. Haben Sie auch jeden Nachmittag hier drinnen geübt?, fragte die junge Frau, und ich bestätigte, dass auch ich beinahe täglich in diesem Gebäude geübt hatte. Noch während ich das aber sagte, bekam ich Lust, noch einmal einen dieser früheren Überäume zu sehen, ich sagte das, und die junge Frau reagierte auch gleich, indem sie uns einen Stock höher zu genau dem Raum führte, in dem sie wohl vor wenigen Minuten noch selbst geübt hatte.
Das kleine Fenster stand offen, der Flügel war schräg davorgerückt, daneben gab es in dem winzigen Zimmer
noch einen Tisch und einen Stuhl, ja, es sah alles genauso aus wie früher. Ich starrte vielleicht einen Moment zu lange auf das schwarze, glänzende Geschöpf vor mir, es war ein Steinway, ja, dann ging ich darauf zu und fuhr mit den Fingern der rechten Hand kurz über die Tastatur, als die junge Frau sagte: Ich sehe schon., wir sollten Sie jetzt allein lassen.
Ich wehrte ab und sagte, dass ich gar nicht vorhätte, etwas zu spielen, es half aber alles nichts, alle, die sich mit mir im Raum befanden, schienen plötzlich der Meinung zu sein, dass man mir unbedingt Zeit lassen müsse, unbeobachtet auf genau diesem Flügel zu spielen. Eine Stunde? Reicht Dir eine Stunde?, fragte Antonia. Ich wehrte noch einmal ab, doch es war nichts zu machen, sie zogen sich alle zurück und ließen mich mit dem Instrument allein, ich hatte nun eine Stunde Zeit, danach würde ich mich wieder mit Antonia und Marietta treffen.
Ich setzte mich auf den kleinen Stuhl und wartete, bis sie nicht mehr zu hören waren, dann legte ich meine Jacke ab, krempelte die Ärmel meines Hemdes zurück und wechselte auf den Klavierhocker. Ich legte beide Hände auf die Tastatur, als wollte ich ersten Kontakt mit dem Instrument aufnehmen und es beruhigen, dann begann ich zu spielen.
Weil Marietta gerade eine Partita von Bach geübt hatte, hatte ich das Stück genau im Kopf, ich hätte es Note für Note hinschreiben können, selber gespielt hatte ich es aber lange nicht mehr. Wie viel Zeit war überhaupt vergangen, seit ich dieses Stück das letzte Mal gespielt hatte? Ich verbot mir, über diese Frage nachzudenken,
und legte einfach los, anfangs blieb ich zwei-, dreimal hängen und begann dann jedes Mal wieder von vorn, ich spürte, dass es nicht das richtige Stück für so einen Wiederbeginn war, deshalb brach ich ab, obwohl ich durchaus etwas Sicherheit gewonnen hatte.
Und wie stand es um meine Zugnummer, um Schumanns Fantasie in C-Dur? Ich fürchtete einen Moment, schlimm zu versagen, doch dann beruhigte mich der Gedanke, dass mich niemand beobachten konnte. Von der Straße aus würde man nichts anderes hören als einen übenden, jungen Studenten, er spielte noch unbeholfen und machte viele Fehler, immerhin hatte sein Spiel aber etwas Draufgängerisches, Wildes.
Ich wollte loslegen, aber dann störte mich die Schwüle im Raum. Ich zog das Hemd ganz aus und setzte mich mit nacktem Oberkörper auf den Hocker, nun los!, ich setzte an, und wahrhaftig, die raschen, rollenden Bewegungen der linken Hand verliefen vollkommen mühelos, als hätte ich sie in all den Jahrzehnten weiter ununterbrochen geübt. Sicher, ich spielte das Stück viel langsamer als früher, aber ich hatte keine technischen Probleme, nein, das Stück ließ sich mit einer Genauigkeit aus der Erinnerung abrufen, als hätten sich mir seine Bewegungsabläufe eingebrannt.
Ich spielte es aber nicht fortlaufend, sondern setzte an den verschiedensten Stellen ein, ich checkte es durch und unterhielt mich mit ihm, ich wechselte in eine andere Tonart, improvisierte mit dem Thema des letzten Satzes, trudelte über die Tasten, spielte zwei, drei Minuten etwas von Phil Glass und kam dann wieder auf die Fantasie zurück. Zuhörer hätten glauben können, dass das Instrument gerade einem Klavierstimmer zum Opfer fiel, so sprunghaft ging ich mit ihm um.
Ich wollte nichts Fertiges spielen, ich wollte dem Instrument nicht gehorchen, nein, ich wollte weder ihm noch mir eine Freude machen, nein, verdammt, ich wollte niemanden und auch mich nicht mit meinem Klavierspiel beeindrucken, sondern ich wollte lediglich diesen harten, ungelenken Steinway testen und ihn domestizieren, um ihm etwas von seiner grässlichen, aufreizenden Arroganz zu nehmen.
Ich spürte nämlich, wie mich das Instrument reizte, schon früher hatte man von diesen Steinway-Flügeln so gesprochen, als wären sie die besten Instrumente überhaupt und geradezu unschlagbar, ich hatte das nie geglaubt und glaubte es noch immer nicht, nein, ich würde diesem Prachtexemplar vor meinen Augen jetzt zeigen, wie ich mit ihm zurandekam, ich würde es hetzen und jagen, bis es vor lauter Atemlosigkeit nur noch klirrenden Schrott produzierte.
Und womit würde ich das tun? Mit welchem Stück? Ich brauchte nicht lange zu überlegen, ich wusste es sofort. Am Ende meiner früheren Auftritte hatte ich manchmal ein richtiges Rasse-Stück gespielt, eine Orgie aus purem Rhythmus und Temperament, bei dem das Klavier wie ein Schlagzeug behandelt wird. Es dauert kaum vier Minuten, ja, ich meine den dritten Satz einer Prokofieff-Sonate, genauer gesagt, meine ich den dritten Satz der siebten Klaviersonate von Sergej Prokofieff.
Das Stück ist ein klassischer Rausschmeißer und ein echter Orkan, das Publikum gerät dabei immer in Rage. Wenn ich es früher im Konzert spielte, hörte ich das Aufstampfen und Mitmachen der Zuhörer, manchmal setzte sogar während der Darbietung bereits rhythmisches Klatschen ein, man kann sich dieser Hexerei als Zuhörer einfach nicht entziehen.
Ich rückte den Klavierhocker ein wenig vom Instrument fort und schraubte ihn höher, ich wippte einen Moment mit dem Oberkörper hin und her, dann schlug ich zu und sprang das Instrument an. Ha!, es war eindeutig zu langsam, zu fahl, zu trocken, ich musste an Lautstärke zulegen, nein, das reichte noch immer nicht, ich musste beschleunigen, jetzt, noch etwas mehr, ich musste es antreiben, in der Höhe begann es wahrhaftig zu klirren, während die linke Hand einen satten Rhythmus hinbekam, das passte nicht gut zusammen, das schepperte in dem kleinen Raum, aber ich hatte das Ding jetzt in meiner Gewalt, es machte mit, ja, es schwankte sogar etwas, jetzt bog ich auf die Zielgerade ein, und dann kam der plötzliche, rabiate Schluss, Ende, aus, keine Fortsetzung möglich.
Der Schweiß lief mir über den ganzen Oberkörper, von unten auf der Straße kam Beifall. Sollte ich ans Fenster gehen und mich gönnerhaft hinausbeugen? Sollte ich mich bedanken und winken wie ein Musterschüler? Nein, das kam nicht in Frage, ich wollte unbekannt und unentdeckt bleiben, deshalb rührte ich mich nicht und wartete, bis das Klatschen aufhörte.
Doch während ich noch durchatmete und wieder etwas ruhiger wurde, erinnerte ich mich, wie oft ich mich früher aus einem dieser Fenster gebeugt und nach niemand anderem als Clara Ausschau gehalten hatte. Sie hatte mich oft vom Conservatorio abgeholt und dann unten auf der Straße daraufgewartet, dass ich in einem der Fenster erschien, ich hatte sie rufen hören, kurz und hoch, ja, sie hatte einen kurzen und hohen Schrei ausgestoßen, den wir beide immer dann ausstießen, wenn wir dem anderen ein Signal geben wollten.
Ich griff zu meinem Hemd und rieb mir den Oberkörper trocken, jetzt dachte ich wieder an sie, verdammt, ja, ich dachte an sie jetzt so stark wie in den gesamten letzten Monaten nicht. Ich setzte mich wieder auf den Stuhl und stützte meinen Kopf in beide Hände, ich schloss die Augen. Der Geruch dieses Zimmers! Die leisen Stimmen unten auf der Straße! Der Duft aus den umliegenden Lokalen und Restaurants! Diese abendliche Auszehrung aller Geräusche! Es war kaum zu ertragen, wie mich das alles an früher erinnerte.
Ich hielt es nicht auf dem Stuhl aus, ich ging die paar Schritte zum Fenster und lehnte mich etwas nach draußen, in der Straße unten bemerkte mich niemand, nein, die Klatscher waren anscheinend bereits abgezogen. Dort unten, neben dem Schuhgeschäft, genau dort unten hatte Clara meist gestanden und zu mir hinaufgewunken: Eine schwarzhaarige, schlanke, schöne Erscheinung, meist in hellen, bunten Farben gekleidet, eine Erscheinung, der ich sofort verfiel, wenn ich sie sah, denn ihre Anziehung war so stark, dass ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, noch eine Minute weiter zu üben.
Manchmal fasste ich nicht, dass diese Frau dort unten ausgerechnet mit mir befreundet sein sollte. Sehnte sich diese Schönheit wirklich gerade danach, mit mir zusammen zu sein? Jedenfalls behauptete sie das und sprach von uns beiden so, als stünde ein für allemal fest, dass wir uns niemals trennen würden.
Vielleicht hatten diese Wendungen mich in Sicherheit gewiegt, vielleicht hatten sie dazu beigetragen, dass ich mich niemals länger gefragt hatte, ob Clara wirklich mit unserem Leben ganz zufrieden und von ihm restlos begeistert war. Nach außen hin machte alles diesen Eindruck, und doch stellte sich später heraus, dass ich in meinem dummen, einfältigen Wahn vieles übersehen hatte. Die Vorstellung von einer absoluten und totalen Liebe hatte mich derart geblendet, dass ich immer nur die Bestätigung dieser Liebe gesucht hatte, anstatt darauf zu achten, wie es Clara in meiner Gegenwart wirklich erging und wie sie sich fühlte.
Und wie erging es ihr? Und wie fühlte sie sich? Erst später und lange nach unserer Trennung habe ich mich mit solchen Fragen beschäftigt und darüber nachgedacht, wie Clara unsere gemeinsame Zeit wohl erlebt hat ..

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