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regrem патриот17.02.16 18:34
NEW 17.02.16 18:34 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 22.02.16 13:23 (regrem)
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20.1

ALS WIR die Kabine verließen, war die Umgebung kaum noch zuerkennen, wir hielten uns an den Händen und gingen dann, eng umschlungen, zusammen, wohin gehen wir? fragte ich, und sie antwortete, ich weiß, wohin, Du wirst überrascht sein. In der Ferne schwebten einige Lichter über einem dunklen, anscheinend bewaldeten Felsen, dort hinaufmüssen wir, sagte sie und gab meine Hand frei, wir kletterten einen schmalen Pfad aufwärts, oben angekommen, griff sie sofort wieder nach meiner Hand, wir gingen eine schmale Landstraße entlang, langsam führte sie in Serpentinen den Hang hinauf, wir hörten gedämpfte Stimmen, dann auch Gelächter, manchmal überholte uns ein Wagen in sehr langsamem Tempo.
Auf der Höhe ordnete sie ihre Haare und strich über ihr Kleid, sie zog die Schuhe aus und schlug sie kurz gegeneinander, bin ich schön? fragte sie, wunderschön, antwortete ich, wann hast Du bemerkt, dass ich schön bin? fragte sie weiter, als Du im Museum zur Tür hereinkamst, sagte ich, warum hast Du nie etwas gesagt?, hätte ich gleich etwas sagen sollen?, nein, sagte sie, nicht gleich, aber als wir oben in den Bergen zu Abend aßen, hättest Du etwas sagen können. Hast Du darauf gewartet? fragte ich, ja, sagte sie, den ganzen Abend, ich dachte immer, jetzt ist er soweit, was hätte soweit sein sollen? fragte ich, dass Du mich einmal berührst, dass Du mich küsst, sagte sie, ist das wahr?, fragte ich, Du hast mir zugehört und doch genau darauf gewartet?, ich habe Dir zugehört, antwortete sie, Du erzählst wirklich sehr schön, das habe ich Dir doch sogar gesagt, ich wollte Dir zuhören und später geküsst werden, unbedingt, als Du Dir die Zimmer anschautest, dachte ich, er will mit mir hier übernachten. Warst Du enttäuscht?, fragte ich, ja, sagte sie, sehr, ich war vollkommen niedergeschlagen, einen Moment lang habe ich Dich sogar gehasst. Gehasst? Ja, all diese Umwege, was für ein Unsinn sind doch all diese Umwege, habe ich nur gedacht. Weißt Du, was ich gedacht habe? fragte ich sie, was hast Du gedacht, nun sag schon, all diese Umwege, was für ein Unsinn sind doch all diese Umwege, das hab ich gedacht.
Wir lachten, sie stand jetzt wieder dicht vor mir und schlang ihre Arme um meinen Hals, küss mich, sagte sie, komm, küss mich, ich werde nie mehr verschweigen, was genau ich von Dir will. Was willst Du von mir? fragte ich, hier oben zu Abend essen und hier übernachten, das will ich. Man kann hier übernachten? fragte ich, ja, komm, ich zeige es Dir.
Ein Wagen rollte vor uns auf den schwach beleuchteten Kies eines Hofes, das Gebäude lag im Dunkel, es war von Efeu oder wildem Wein dicht bewachsen, als wir um die Ecke bogen, erkannte man erst seine verblüffende Lage, es kauerte auf dem vorderen Teil eines steil abfallenden Felsplateaus wie ein Horst über der Tiefe, Bänke und Stühle standen auf einer großen Freifläche, das Abendessen war bereits voll
im Gang, die Kellner eilten zwischen den Gästen und dem Haupthaus hin und her, ich ging hinein und erkundigte mich nach einem Zimmer. An der Rezeption wehrte eine ältere Frau mich vorerst ab, jetzt, im Hochbetrieb, habe sie keine Zeit, mir ein Zimmer zu zeigen, später, bitte später, reservieren Sie uns aber bitte eins, sagte ich, für wie viele Personen? fragte sie noch, für die Signora und mich, antwortete ich.
Wir setzten uns an einen der wenigen freien Tische, es war sehr voll, man hörte das ruhige Murmeln einer großen Abendgesellschaft, anfangs achtete ich noch auf den Betrieb, dann aber ging auch das unter, wir saßen einander gegenüber, sie ließ meine Hand nicht mehr los, ich fühlte mich nackt, als wäre meine Kleidung nicht mehr von Bedeutung, meine Haut war plötzlich auch sehr empfindlich, sie reagierte anscheinend ununterbrochen auf Francas Bewegungen und Gesten, als hätten wir noch immer einen intimen Kontakt.

20.2

Wir bestellten das Essen, der Kellner brachte eine Flasche Wein und einen Kübel mit Eis, was für ein Aufwand, sagte ich, lass ihn, ach, lass ihn, antwortete sie, ihr Gesicht schien zu glühen, immer wieder warf sie ihre Haare zurück und griff dann wieder nach mir, wir tranken, das Essen wurde serviert, wir nahmen es aber kaum zur Kenntnis, so sehr waren wir miteinander beschäftigt. Du warst nie verheiratet, habe ich recht? fragte sie, nein, sagte ich, nie, hast Du überhaupt je mit einer Frau länger zusammengelebt?, ja, sagte ich, das schon, was denkst Du von mir? Ich habe es genau gewusst, ganz genau, verheiratet war er nie, aber eine Zeitlang hat er mit einer Frau zusammengelebt, so hatte ich es mir gedacht, übrigens hast Du mir vom ersten Moment an gefallen, aber wieso? fragte ich, du warst so ruhig, vollkommen ruhig, antwortete sie, und Du hast mich so neugierig betrachtet, beinahe etwas verlegen, Du hattest Ähnlichkeiten mit meinem jüngeren Bruder - ah, hatte ich das? -, ja, aber hör zu, Du hattest etwas von seiner Unbeholfenheit und seinem Buben-Charme, das machte Dich mir gleich sehr vertraut - ah ja? -, ja, aber hör bitte zu, mein Bruder wartete auf mich oft auf der schwimmenden Insel, Du weißt? - ja, meinst Du die kleine Bar mitten im Hafen? -ja, da wartete mein Bruder früher sehr oft auf mich, mittags haben wir einen Aperitif dort getrunken und uns unterhalten, ich verstehe mich mit niemandem so gut wie mit meinem jüngeren Bruder -, hast Du mich deswegen zu dieser Bar geschickt? -, ja, ich habe meinen Bruder seit sieben Monaten nicht mehr gesehen, er ist Physiker und unterrichtet in den USA an einem College, ich wollte ... -Du wolltest Deinem Bruder wieder begegnen, auf dieser schwimmenden Insel, war es so? -, ja, vielleicht wollte ich das, ich verließ das Museum, ich stieg auf mein Fahrrad, ich sah Dich in der kleinen Bar warten, ich fuhr direkt auf Dich zu, fast wäre ich wahrhaftig zu Dir gekommen und hätte mich zu Dir gesetzt, um einen Aperitif mit Dir zu trinken ...
Sie sprach sehr schnell, beinahe rauschhaft, alle Verschwiegenheit war jetzt dahin, wir erzählten uns die Szenen unserer kurzen Bekanntschaft noch einmal, was hatten wir in diesen Momenten wirklich gefühlt und gedacht, was hatte der eine am anderen bemerkt, was sonst noch beobachtet, wie sich verhalten, sie hatte ein großes Repertoire kleiner Details im Kopf, sie schien ganz versessen darauf, sie genau zu erzählen. Da wir nur wenig aßen, aber umso mehr tranken, gerieten wir mit der Zeit in eine beinahe bacchantische Stimmung, ein Kellner kam mit einer besorgt wirkenden Miene zu uns an den Tisch und fragte, warum es uns denn nicht schmecke, es schmeckt ausgezeichnet, sagte sie, machen Sie sich keine Sorgen, unser Appetit ist heute nicht gerade groß.
Immer wieder streckte sie eine Hand nach mir aus, wir ließen uns dann eine Weile nicht los, erinnerst Du Dich an den Abend nach unserer ersten Begegnung? fragte sie, ich war mit Elena und ein paar anderen Bekannten im Café Florian, Du kamst plötzlich herein, ich erkannte Dich von weitem sofort, Du gingst an die Theke und trankst dann ein Bier, Du warst unglaublich verschlossen und ernst, als hingst Du schweren Gedanken nach, was ist bloß mit ihm, fragte ich mich, es geht ihm anscheinend nicht gut. Ich habe Dich auch bald gesehen, sagte ich, ich habe Dich dann eine ganze Weile fixiert, sie hat einen jüngeren Bruder, habe ich damals gedacht, ihr Vater ist Arzt oder Jurist, ach, komm, hör auf, das kann doch nicht sein, wie konntest Du so etwas wissen? sagte sie, ich wusste es ganz genau, sagte ich, ich sah Dich mit Deinem Bruder auf einem Kinderfoto von früher, Dein Bruder hatte enganliegendes, glänzendes Haar, es war schwarz, seltsam, dachte ich noch, wieso hat er schwarzes Haar, sie ist doch blond, jetzt hörst Du aber auf, sagte sie, warum? bitte lass mich, sagte ich, nein, sagte sie, es wird mir unheimlich jetzt, mein Bruder hat schwarzes Haar und mein Vater ist Arzt, siehst Du, sagte ich, das alles ahnte ich schon an diesem Abend, wir begrüßten uns dann kurz an der Tür, jetzt empfand ich Dich als sehr verschlossen, Du haspeltest lauter Informationen herunter, was? rief sie, was tat ich?, Du haspeltest, sagte ich, es war nicht zum Anhören, ich war beinahe beleidigt, wie Du mich stehen ließest, ich musste Dich stehen lassen, sagte sie, ich war mit Freundinnen unterwegs, ach was, sagte ich, Du hättest mich küssen und den anderen Adieu sagen sollen! Ich hätte? rief sie wieder und lachte laut, ich hätte Dich küssen sollen, ich Dich?, ja, antwortete ich, Du hättest mich küssen und mich begleiten sollen, komm, Lieber, das hättest Du damals schon sagen können, statt dessen ließest Du mich allein in diesem Café stehen, ich trank mein Bier aus und schlich dann wie ein umtriebiger Spanner hinter Dir her, ich habe Dich aus einem Versteck heraus heimlich gefilmt, da ich Dich nicht berühren konnte, habe ich Dein Bild näher und näher gezoomt, so stand es um mich. Gezoomt, Du hast wirklich gezoomt? lachte sie, ja, sagte ich, lach mich nur aus, es war reine Verzweiflung, ich habe gezoomt und bin dann davongeschlichen, ich hatte nicht einmal mehr Appetit. Weißt Du was? sagte sie und beugte sich näher über den Tisch, an demselben Abend bin ich später noch einmal allein zurück ins Café, ich dachte, vielleicht siehst Du ihn wieder, vielleicht steht er noch immer dort an der Theke. Und? fragte ich, was hast Du gemacht, als ich nicht mehr dort war?, ich habe ein Bier getrunken, sagte sie, ganz allein und genau an der Stelle, an der Du zuvor gestanden hattest.
Wir leerten die zweite Flasche, als der Wirt an unseren Tisch kam, entschuldigen Sie, ist mit dem Essen etwas nicht in Ordnung? fragte er, nein, nein, sagte ich, wir haben uns nur so viel zu erzählen, wir haben uns längere Zeit nicht gesehen, deshalb kommen wir kaum zum Essen, das Essen ist aber ganz ausgezeichnet, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Ich verstehe, sagte der Wirt, ich war nur etwas verwundert, unsere Gäste kommen von weit her, unsere Küche hat einen sehr guten Ruf, Sie verstehen? Absolut, sagte ich, nehmen Sie es uns bitte nicht übel, wir werden das Essen und diesen schönen Ort weiterempfehlen. Er lächelte, als fühlte er sich nun wirklich geschmeichelt, dann nahm er die leere Flasche aus dem Kübel, noch eine dritte? fragte er leise, noch eine dritte? fragte ich sie, noch eine dritte, antwortete sie, die dritte geht auf Kosten des Hauses, sagte der Wirt.
Hör zu, setzte sie das Gespräch fort, ich muss morgen früh sehr zeitig ins Institut, schlaf ruhig aus, wir können uns dann am Nachmittag sehen. Was hast Du am Wochenende denn vor? fragte ich, ich fahre mit Dir nach Ascoli Piceno, in die schönste Stadt der Region, antwortete sie, wir bleiben das ganze Wochenende dort, einverstanden? Ich zögerte einen Moment, ich schaute sie an, nicht den geringsten Widerspruch hätte sie jetzt geduldet, so begeistert und entschlossen wirkte sie. Ich jedoch dachte kurz an Gianni Alberti, in unserem ganzen Gespräch vermieden wir, ihn zu erwähnen, alle Szenen, in denen er hätte auftauchen können, streiften wir höchstens, ich wusste, es wäre ganz falsch gewesen, jetzt auf ihn zu sprechen zu kommen, ich musste aber an ihn denken, er geisterte in meinem Kopf herum, ich überlegte, wie ich ihn in das Gespräch einbeziehen sollte, kam aber in meinen Überlegungen nicht weiter. Diese
Fahrt nach Ascoli, fragte ich sie, hast Du schon länger daran gedacht? Seit heute Morgen, antwortete sie, Du warst wieder so ernst und verschlossen, dabei hatte ich mich extra früh aufgemacht, mit Dir zu frühstücken, ich nahm sogar Deine Hand, selbst das brachte uns aber keinen Schritt weiter, Du hättest mich umarmen können, ich wartete doch genau darauf, wieder hast Du nicht das Geringste getan. Soll ich sie umarmen, habe ich laufend gedacht, sagte ich, jetzt gleich, etwas später, soll ich wirklich?, all das habe ich laufend gedacht. Ich bin mit dem Fahrrad den ganzen Boulevard auf und ab gefahren, sagte sie, so verärgert war ich, ich musste mich richtiggehend beruhigen und so lange fahren, bis ich erschöpft war, wie kann er denn nicht bemerken, was ich von ihm will? habe ich immer wieder gedacht.
Die dritte Flasche wurde gebracht, la terza, sagte der Kellner überdeutlich, als wollte er darauf aufmerksam machen, wie übertrieben dieser Genuss war, die dritte, auf Kosten des Hauses, sagte ich und blickte mich um. Die meisten Gäste waren schon wieder gegangen, auch davon bekamen wir kaum etwas mit, ich stand auf und ging in das Haupthaus, ich klingelte an der Rezeption und erinnerte noch einmal daran, dass wir das Zimmer später benötigten, kommen Sie doch kurz mit hinauf, sagte die ältere Frau, oder nehmen Sie sich die Schlüssel, Zimmer Vier, Zimmer Vier, wiederholte ich, schaut man von Zimmer Vier direkt aufs Meer?, wir haben nur Zimmer mit Blick auf das Meer, antwortete sie. Ich überlegte, ob ich wirklich schon einmal allein hinaufgehen sollte, nein, dachte ich dann aber, ich will das Zimmer jetzt noch nicht sehen, ich will keinen Vorsprung vor ihr, ich möchte später mit ihr zusammen hinaufgehen.
Zurück an unserem Tisch zeigte ich ihr die Schlüssel, ich ließ sie in der Luft baumeln, sie schlugen wie Kinderspielzeug kurz gegeneinander. Sie hatte sich zurückgelehnt, sie streckte den Körper ganz lang, sie lächelte kurz, als sie die Schlüssel sah, dann reckte sie sich wieder vor und sprach weiter. Weißt Du, dass ich Dich mehrmals ganz allein in der Stadt gesehen habe? fragte sie. Nein, sagte ich, wo hast Du mich gesehen?, einmal gegen Mittag auf dem Markt, ich hatte etwas zu erledigen, ich ging in eine Apotheke, als ich herauskam, sah ich Dich in voller Aktion, auf einer Obstkiste, mit der Kamera in der Hand, mein Gott, dachte ich, was hat er vor? Du wirktest plötzlich so passioniert, als wolltest Du die ganze Umgebung durchpflügen, warum ist er so unruhig, fragte ich mich, ich erkenne ihn ja kaum wieder. Ich bin den Umgang mit der Kamera nicht gewohnt, sagte ich schnell, ich konzentriere mich vielleicht noch zu sehr auf die Bilder, manchmal versetzt mich das Filmen auch in einen Rausch, und ich erinnere mich später stärker an die Filmbilder als an die realen. Das würde mir auch so gehen, antwortete sie, auf jeden Fall, und es ist ja auch beinahe natürlich, die fokussierte Blickweise lässt das Film Bild konzentrierter erscheinen, wie eine kompakte Verdichtung. Das wird es sein, Dottoressa, sagte ich, machst Du Dich über mich lustig? fragte sie, ja, sagte ich, es gefällt mir, wenn Du plötzlich so streng und genau wirst, lauter Fachbegriffe schleust Du dann in Dein Reden, ist das so? antwortete sie, es fällt mir gar nicht auf, es ist so, sagte ich, ich bin jedes Mal von neuem verblüfft.
Wir unterhielten uns ohne Pause, als ich mich sehr spät umschaute, sah ich, dass wir die letzten Gäste waren, nur wenige Lichter brannten noch, die Kellner räumten die Tische ab und stellten die Stühle zusammen. Direkt unterhalb lag das Meer, wir hatten es die ganze Zeit nicht beachtet, der schwache Mondschein zeichnete genau in die Mitte des Bildes eine glänzende Bahn, der helle, leuchtende Streifen sah aus wie eine glatte und ebene Piste. Wir saßen noch eine Weile an dem längst geleerten Tisch, wir hielten uns an beiden Händen, der Bund mit den beiden Schlüsseln lag zwischen uns, endlich griff sie danach, ließ die Schlüssel kurz klingen und deutete hinüber zum Haupthaus. Komm, sagte sie, oder warte, lass mich zuerst hinaufgehen, ja?, lass mich bitte zuerst gehen und warte noch ein paar Minuten, ich belege schon einmal das Zimmer, ich dusche, ich krieche ins Bett, und wenn Du hinaufkommst, wird es sein, als wären wir bereits seit Wochen hier. Wir sind bereits seit Wochen hier, sagte ich, wir leben seit Wochen in diesem zeitlosen Raum, dieser Raum ist unsere einsame Höhle, die Höhle eines sehr alten Zaubers.
Sie nahm die Schlüssel an sich und stand auf, sie trat von hinten heran an meinen Stuhl, sie stützte sich auf die Lehne und küsste mich auf die Stirn, ich warte auf Dich, sagte sie und ging ins Haupthaus.
Als sie nicht mehr zu sehen war, schaute ich mich nach den Kellnern um, zwei standen in der Nähe der Tür und beobachteten anscheinend die Szene, der Blick des einen ruhte auf mir, er musterte mich mit einem durchdringenden Blick, vielleicht gönnte er mir diese Nacht nicht, vielleicht hasste er mich dafür, dass ich in wenigen Minuten mit dieser Frau allein sein und mit ihr schlafen würde, während er auf seiner Vespa davonbrausen musste.
Ich leerte mein Glas, ich hielt es noch eine Zeitlang in der Hand, meine Finger spielten damit, noch immer war ich aufgeregt und gespannt, ich dachte kurz an Gianni Alberti und Ancona, er steckt in Ancona, dachte ich, das ganze Wochenende wird er ahnungslos dort verbringen.
Dann stand ich auf, mir schwindelte einen Moment, ich hielt mich an der Stuhllehne fest und blickte noch einmal aufs Meer, der helle Streifen war breiter geworden und strahlte jetzt wie ein weißes Linnen, das dazu einlud, sich auf seiner Mitte zu betten.

#21 
regrem патриот17.02.16 18:34
NEW 17.02.16 18:34 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:09 (regrem)
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SEHR FRÜH am Morgen brach sie auf, noch in der Dunkelheit machte sie sich zu Fuß auf den Weg, ich konnte nicht mehr schlafen und lag lange Zeit bewegungslos auf dem Rücken, das Fenster stand offen, die Läden ließ ich noch eine Weile geschlossen. Ich sah zu, wie das Sonnenlicht sich herantastete und dann immer stärker in den Raum strömte, der Lichtandrang war schließlich kaum noch zu ertragen, ich erhob mich und stieß die Läden auf, ich erschrak, als ich das Meer sah, es lag direkt unterhalb, als könnte ich mit einem weiten Sprung in ihm untertauchen. Ich duschte, ich kleidete mich an, dann ging ich nach unten, anscheinend waren die anderen Gäste schon längst aufgebrochen, jedenfalls saß ich draußen allein in diesem strahlenden Licht, man brachte mir einen Kaffee und ein kleines Frühstück.
Ich drehte Tisch und Stuhl so, dass ich aufs Meer schauen konnte, ich konnte den Blick gar nicht abwenden von dieser weiten und jetzt so einladenden Fläche, das Blau war von goldenen Adern durchsetzt, die sich zu feinen Rissen verjüngten und weiter verzweigten, das starke Sonnenlicht ließ laufend neue Muster entstehen, so, dachte ich, stelle ich mir die Schöpfung vor, Licht und Wasser sind die Ur-elemente. Ich saß eine Weile allein, der Padrone trat immer wieder aus der Tür und schaute unschlüssig zu mir hinüber, schließlich kam er über den schmalen Kiesweg zu mir, er stützte sich mit beiden Händen auf einen Stuhl, ich spürte, wie neugierig er war. Er fragte, ob ich noch eine Nacht bleiben wolle, und ich sagte, nein, das ist leider unmöglich, dann erkundigte er sich nach meinem Wagen, und ich sagte, wir sind zu Fuß hinaufgekommen. Er tat verwundert und ließ nicht nach, bis er erfahren hatte, woher ich kam und was mich genau an diese Küste führte, ich bot ihm mehrmals einen Platz an, aber er wehrte immer wieder ab, als gehörte es sich nicht, dass er sich schon am Morgen neben einen Gast setzte. So hielt er weiter die Lehne des Stuhls in beiden Händen, er schwang sie vor und zurück, es ließ ihm anscheinend keine Ruhe, wie wenig wir am Abend gegessen hatten, jedenfalls erwähnte er es, er sprach von der picenischen Küche und der Küche der Marken, und plötzlich hörte ich aus seinem Mund die alte Formel, la terra marchigiana, auch Franca hatte sie in dem Dorf in den Bergen mehrmals benutzt. La terra marchigiana hörte sich an wie eine Zauberformel, es reizte mich sofort, ihn danach zu fragen, bitte, sagte ich, nehmen Sie doch endlich Platz, was hat es auf sich mit la terra marchigiana und was mit den Pkenern, erzählen Sie einem Fremden davon, ich bin Ihnen dankbar.
Er schaute mich an, als prüfte er die Ernsthaftigkeit meines Wunsches, dann sagte er, wenn Sie sich Zeit nehmen, etwas aus der Küche zu probieren, setze ich mich zu Ihnen, jetzt? fragte ich, so früh am Morgen?, ah, antwortete er, es ist gegen Elf, nicht mehr früh am Morgen, heute ist unser Ruhetag, der einzige Tag, an dem niemand mich hetzt. Er wartete meine Antwort nicht einmal mehr ab, er stand auf und verschwand im Haupthaus, geben Sie mir zehn Minuten, rief er mir über die Schulter hin zu, ich war glücklich, glücklich über seinen Eifer, diesen Morgen, die Nacht, bin ich jemals so glücklich gewesen wie jetzt? dachte ich und rührte mich minutenlang nicht, als könnte schon die geringste Bewegung alles zerstören.
Ich nahm mein Handy hervor und wählte ihre Nummer, das Wahlzeichen erklang nur kurz, dann hörte ich schon ihre Stimme, sie klang warm, ruhig und sehr vertraut, wie soll ich arbeiten, sagte sie, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, dann nimm Dir doch einfach frei, sagte ich, nimm Dir frei und komm mit einem Wagen hierher zurück, das geht nicht, sagte sie, Gianni ist nicht hier, Dottore Alberti, den meine ich, ja, antwortete ich, er ist nicht da?, nein, sagte sie, er ist in Ancona, deshalb muss ich heute bleiben, verstehst Du? Ja, sagte ich, ich verstehe, danke, Liebster, sagte sie, danke, dass Du so schnell verstehst und dass Du Geduld mit mir hast, ich schlage vor, wir treffen uns gegen Fünf, geht das, gegen Fünf? Natürlich, sagte ich, ich bin frei, ein freier, glücklicher Mann, vielleicht sogar noch um Fünf. Mach keine Witze, sagte sie, und sag, bist Du glücklich, bist Du es wirklich? Ja, sagte ich, ich war es die ganze Nacht und bin es noch, ich sitze draußen vor dem Hotel, der Padrone hat mich eingeladen zu einem Imbiss, da Du nicht da bist, wird mir nichts anderes bleiben als ihn zu umarmen und ihm mein Glück zu gestehen, mit irgendwem muss ich schließlich darüber reden. Behalt es für Dich, sagte sie, rede nach Fünf mit mir darüber, ich bin eine Expertin in solchen Dingen, gut, sagte ich, ich denke darüber nach, und wo treffen wir uns?, wo? sie zögerte einen Moment, wo? ach, wir treffen uns in der kleinen Bar, mitten im Hafen, auf der schwimmenden Insel, tust Du mir den Gefallen? Um Fünf sitze ich in der kleinen Bar auf der schwimmenden Insel und trinke einen Aperitif, sagte ich. Danke, sagte sie, und kommst Du auch zurecht, schaffst Du es, allein hierher zu kommen? Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Dottoressa, sagte ich, ich werde da sein, pünktlich, um Fünf.
Der Padrone kam zurück an meinen Tisch, er schien zu ahnen, mit wem ich telefoniert hatte, ich bemerkte, dass er mich etwas fragen wollte, aber er rückte noch nicht damit heraus. Gianni bringt uns gleich etwas zu essen, sagte er, der Kellner heißt Gianni? fragte ich, ja, sagte er, Gianni verehrt die Signora, mit der Sie gestern Abend hier waren, so? tut er das? fragte ich, ja, sagte der Padrone, er verehrt sie nicht nur ihrer Schönheit wegen, er verehrt sie noch aus einem anderen Grund, ich werde es Ihnen später erklären.
Ich hakte nicht weiter nach, ich gab mich damit zufrieden, ich hatte nicht den Willen und nicht die Lust, jemanden zu drängen oder gar hartnäckig zu werden, ich war entspannt, völlig entspannt, ich wollte nur noch zuhören und zuschauen. Der Padrone nahm nun wirklich neben mir Platz, er setzte sich etwas umständlich hin, als machte er es sich an einem fremden Ort nur vorübergehend bequem, er hatte eine Karte der Region dabei und entfaltete sie gleich auf dem Tisch. Es war eine alte, an den Rändern leicht eingerissene Karte, er glättete sie mit dem flachen Handrücken und legte los, sein Zeigefinger stolzierte die Linien entlang, schauen Sie, das Hinterland der Berge, zweitausend, dreitausend Meter hoch, von dort geht es in sanften Schwüngen bergab, bis zur Hügellandschaft hier vor der Küste, bis zu den steilen Felsen und bis hinab zum Meer. Er hielt die Karte nur noch mit der Linken, mit der Rechten zeichnete er die Konturen der Landschaft, immer wieder setzte er mit den Berghöhen an und malte die Hügelkuppen nach, dann kam er zur Karte zurück und sprach von den Flüssen, die von weither, von den Bergen, hinab zum Meer stürzten, an diesen Bächen und Flüssen hatten sich die ersten Siedlungen gebildet, in frühester Zeit waren die Marken das Land der Picener gewesen.
IPiceni, hörte ich, und plötzlich klang er sehr belehrend, iPicetii, wiederholte er und dozierte ein wenig, der Name der Picener kam anscheinend von picus, der Specht, irgendwann waren die Picener von jenseits der Berge hierher gezogen, er sprach von ihnen, als stammte er in direkter Linie von ihnen ab, dabei handelte es sich wohl um ein mythisches Früh Volk, das vor beinahe dreitausend Jahren seine Spuren hier hinterlassen hatte, ich schloss einen Moment die Augen, ich konnte mir die Spuren gut vorstellen, ich sah moderne, neue Museen mit verglasten Wänden und unterirdischen
Gängen, ich sah kleine, tanzende Kriegerstatuen aus Bronze, mit Schwertern, Schilden und tellergroßen Hüten, ich sah Gefäße, Fibeln und Ketten, ich ging mit dem Padrone jetzt durch dieses Museum, wir verbeugten uns vor dem Mythos der Frühe und ehrten seine Ahnen durch einen Besuch.
Als Gianni, der Kellner, sich mit zwei großen Platten näherte, sprach der Padrone etwas schneller, er wollte seine historische Exkursion rechtzeitig beenden, alle Aufmerksamkeit gehörte nun den Speisen, ecco! rief er, Gianni, der Kellner, servierte, ich sollte mit den gefüllten und frittierten Oliven beginnen, mit den unvergleichlich weichen Oliven dieser Region, nach denen schon die Römer sich so verzehrt hatten, dass sie auf der Via Salaria nach Rom geliefert worden waren, kosten sollte ich aber auch diese Steinpilze in einer Limetten-Creme, Linsen mit dünnen Scheiben von Schweinsfuß, eine Bohnencreme mit Spuren von Anchovis ..., der Padrone schob den ganzen Reigen in meine Nähe, nehmen Sie das gute Brot, kosten Sie, was immer Sie wollen, Gianni, bring unserem Gast ein Glas Prosecco!
Ich kostete und ließ mir die Geheimnisse der Küche genau erklären, jetzt, durch diese Nachfragen, war ich endlich ein Gast, den der Padrone schätzte, ich war dabei, sein Lehrling und Schüler zu werden, die Raffinessen der Küche beschrieb er wie einen respektvollen Umgang mit der heimatlichen Landschaft und ihren Produkten, so wurde ich, indem ich aß, eingeweiht, so offenbarte sich der Klingklang, la terra marchigiana.
Da war es wieder, das schwärmerische, preisende Sprechen, das ich an manchen Italienern so mochte, es war wie eine gute Mischung aus Konkretem, Mythos und Volkslied, zwei begeisterte Männer saßen auf einem sonnenüberfluteten Felsplateau an der adriatischen Küste, tranken Prosecco und unterhielten sich, manchmal albern wie Kinder, darüber, ob man eine Thunfischpaste mit Butter und Zucker oder mit einer Spur Grappa und geriebenen Zwiebeln anreichern sollte.
Gegen Mittag beendeten wir unsere Debatten, ich hatte die ganze Vielfalt der picenischen Küche genossen, ich dankte dem Padrone und folgte ihm ins Haupthaus, um zu bezahlen, an der Rezeption schrieb er mir eine Quittung, als ich an einer seitlichen Wand die naiv gerahmte Kopie eines kleines Gemäldes erblickte. Ich stockte, ich schaute mit offenem Mund hin, die Ähnlichkeit war enorm, die junge Frau auf dem Gemälde glich Franca auf beinahe unheimliche Weise, sie war es, und sie konnte es doch nicht sein, denn anscheinend handelte es sich um ein altes, ja sogar mehrere Jahrhunderte altes Gemälde, das eine Heilige darstellte.
Der Padrone bemerkte, dass ich das Bild anstarrte, er drehte sich zu ihm hin, ja, sagte er, da ist noch diese Sache, denken Sie jetzt gerade auch, was wir gestern Abend alle gedacht haben? Was? fragte ich, was hat wer gestern Abend gedacht?, gestern Abend, sagte er, kam Gianni, unser Kellner, plötzlich zu mir in die Küche und bekreuzigte sich, draußen, sagte Gianni, sitzt die heilige Magdalena, wie auf dem Bild, aber leibhaftig. Ich bin nach draußen geeilt, zu dritt standen wir vor der Tür und schauten zu Ihnen herüber, Sie haben uns nicht bemerkt, Sie waren zu sehr miteinander beschäftigt, ein Paar, das sich liebt, man sieht so etwas ja gleich. Um die Signora aus der Nähe zu betrachten, bin ich eigens an Ihren Tisch gekommen, ich erschrak beinahe, als ich sie sah, die heilige Magdalena, wie auf Crivellis Bild, nur in natura.
Das Bild ist von Crivelli? fragte ich, Crivelli ist der Name des Malers? Ja, antwortete er, Carlo Crivelli, er war Venezianer, verbrachte aber den Großteil seines Lebens hier in den Marken, nach einem Gefängnisaufenthalt floh er aus Venedig, er hatte die Frau eines Schiffers vor den Augen ihres Mannes entführt und sie monatelang gefangen gehalten, er hat ihr Gewalt angetan, Sie verstehen? Ja, sagte ich, wenn ich dieses Bild betrachte, verstehe ich es sofort, was meinen Sie? fragte er nach, ach, sagte ich, ich denke gerade an eine andere Geschichte, es ist nicht von Bedeutung, sagen Sie mir lieber, wo befindet sich das Original? Nicht weit von hier, in einer Dorfkirche, sagte der Padrone, mit dem Wagen brauchen Sie eine halbe Stunde, nur eine halbe Stunde? fragte ich, ja, sagte er, ich sehe, Sie würden gern hin, nehmen Sie doch meinen Wagen, schauen Sie es sich an, ich melde Giacomo, dass Sie kommen. Wer ist Giacomo? fragte ich, Giacomo, sagte er, ist der Custode der Kirche, er hat den Schlüssel, er weiß alles über das Bild, er kennt jedes Detail, fahren Sie! machen Sie keine Geschichten, Sie müssen das Bild sehen, auf dem doch die heilige Magdalena der Signora auf so verblüffende Weise gleicht.
Ich ging mit ihm hinaus, er zeigte mir den Wagen, er erklärte mir die Route und reichte mir die Schlüssel, ich bedankte mich und stieg ein, wenige Minuten später fuhr ich durch die picenische Landschaft, la terra marchiglana, dachte ich, als ich die blaugrünen Hügel mit ihren Weinbergen und Olivenbäumen erkannte, sie waren durchzogen von tiefen Spalten und Schluchten, wie schwere Falten reihten sie sich hinter- und gegeneinander, ich fuhr sie wie kleine Wellen ab, eine Landstraße hinauf, eine Krümmung, wieder bergab, eine weitere Krümmung, wieder hinauf, ich sah die dunklen Äcker mit ihren Traktorenspuren, verfallene Gehöfte auf einigen Hügelkuppen, die Fahrt war ein Tanz, nein, ein leichter Ritt, ich ritt vom Meer aus in kurzen Sprüngen bergauf, es ging noch einmal in die Berge, das kleine Dorf war schon aus der Ferne zu sehen.
Im Ort angekommen, stellte ich den Wagen ab, ich ging durch die Hauptstraße zur Kirche, sie war wie erwartet geschlossen, ich folgte einem Hinweisschild und klingelte nebenan bei dem Custoden. Der Custode zeigte sich erst nach mehrmaligem Klingeln, er war ein älterer, dunkelhaariger Mann, der gleich auf die Mittagszeit verwies, mittags, sagte er, sei die Kirche geschlossen, er mache nur dies eine Mal eine Ausnahme, auf Bitten eines guten, eines sehr guten Freundes. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, ging er voraus zur Kirche, er öffnete ihre Tür, er schaltete die Beleuchtung einer Seitenkapelle zur Linken ein, dann trat er zurück und stellte sich hinter mich, er will jetzt beobachten, wie Du Dich dem Bild näherst, dachte ich.
Ich nahm das kleine Fernglas aus meinem Rucksack, ich setzte mich in eine Bank und stellte die Schärfe des Glases ein, dann hielt ich es minutenlang still. Es schien ihm zu lange zu dauern, denn plötzlich hörte ich seine Stimme, sie war überlaut und klang sehr gepresst, er sprach seinen Text, er begann mit dem Namen des Malers, seinem Geburtsort, einigen Daten der Vita, dann kamen die Hauptwerke, endlich auch dieses hier, ein Altarbild mit, von links oben nach rechts unten, den heiligen Sowieso Sowieso, gemalt in einer für Crivelli charakteristischen Technik, ich wandte mich zu ihm und unterbrach ihn, ich fragte, ob er mich eine halbe Stunde mit diesem Bild allein lassen könne, ich sei bereit, dafür zu bezahlen. Er schaute mich an, als machte ich ein eher zweifelhaftes oder unsittliches Angebot, er schüttelte den Kopf, ich sagte, ich sei Kunsthistoriker und ein Kenner der italienischen Malerei, er schaute mich noch einmal prüfend an, aufweiche Maler sind Sie spezialisiert? fragte er, auf die venezianischen, antwortete ich.
Ich drehte mich wieder um, ich hörte, dass er wider Erwarten die Kirche verließ, ich verharrte zur Sicherheit noch einige Zeit dort, wo ich mich befand, dann holte ich meine Kamera hervor und begann zu filmen. Ich zoomte mich so nahe wie möglich heran, ich verweilte bei dem zur Seite blickenden Auge, das ganze Bild kreiste um dieses Detail, um ein scharfes, reizbares Auge, das die Umgebung wahrnahm und gleichzeitig wahrgenommen werden wollte, die Lippen waren zu einem leichten Lächeln geöffnet, der Hals und der starke Nacken lagen bloß, über die Nackenpartie und den Rücken hinab bis zum Gesäß aber flammte das blondrote Haar, nur an einer einzigen Stelle von einem Haarband zusammengehalten. Die Verbindung von Auge, Lippen und Haar machte die große Ähnlichkeit aus, von dieser Trias ging etwas Erotisches aus, die Farbe des Auges gab die Farbe der Haare vor, die helle, rötlich getönte Haut aber spannte zwischen Auge und Haar eine glimmende Leere, so etwas wie Erwartung, Verlangen, die geöffneten Lippen lockten, in einer kaum merklichen Vorform des ein verständigen Lächelns.
Regungslos filmte ich ihren Kopf, alle Details, ich fuhr sie, aus einer immer neuen Richtung kommend, ab, um noch näher an das Geheimnis zu gelangen, da hörte ich hinter mir wieder die überlaute und gepresste Stimme, das Filmen ist nicht erlaubt. Ich filme für private Zwecke, sagte ich, das Filmen ist generell nicht erlaubt, sagte er, ich habe Sie gut verstanden, rief ich, Sie sind ja nicht zu überhören. Ich packte die Kamera und das Fernglas wieder ein, kann ich ihnen eine Postkarte abkaufen? fragte ich, nein, sagte er, wir verkaufen keine einzelnen Karten, wie viele müssen es sein? fragte ich, zehn, antwortete er, ich nehme zehn, sagte ich, zehnmal die Heilige Magdalena, zehnmal nur sie.
Er verschwand in der Sakristei, er kam mit den zehn Karten zurück, irgendetwas in mir frohlockte, dass ich jetzt so viele besaß. Ich gab ihm ein Trinkgeld, er schaute nicht einmal nach, wieviel es war, er blickte mich noch immer so an, als fragte er sich, ob er mir eine Spezialisierung auf venezianische Maler wirklich zutrauen sollte. Ich wollte die Kirche verlassen, als er sich zu fragen traute, haben Sie den Vogel gesehen?, auf dem linken Ärmel, meinen Sie den? antwortete ich, ja, sagte er, er trinkt die Strahlen der Sonne, was sagen Sie dazu? Er ist fremd, sagte ich, das Motiv wirkt wie ein Implantat, nicht zufällig handelt es sich um ein Motiv auf dem Stoff eines Ärmels, Sie haben Recht, sagte er, ich halte das Motiv für sarazenisch. Ich nickte, sarazenisch war fabelhaft, genau das richtige Wort für diese Fremdheit, für den blau-weißen, von goldenen Strahlen durchsetzend Stoff, noch am frühen Morgen hatte ich genau diese Farben ge
sehen, sarazenisch, dachte ich, das war es.
Ich hielt mich nicht länger in dem kleinen Ort auf, ich fuhr sofort zurück, im Hotel zeigte ich dem Padrone meine zehn Karten, er lachte und fragte, ob ich ihm eine schenken könne, ich gab ihm eine, er steckte sie gleich fort, als wollte er vermeiden, dass sie ein anderer sah. Er fragte mich, wie ich nun zurückkommen wolle, ich sagte, ich werde einfach wie gestern zu Fuß gehen, er lachte wieder und holte einen Zugfahrplan hervor, ich fahre Sie zur Station, sagte er, der Zug geht aber erst in anderthalb Stunden, dann setze ich mich noch eine Weile nach draußen, sagte ich.
Die Sonne stand nicht mehr über dem Meer, sie war längst weitergewandert und näherte sich bereits langsam den Hügeln des Hinterlandes, sarazenisch, dachte ich immer wieder, aus einem dunklen Grund kam ich von diesem Wort nicht los. Der Padrone kam noch einmal an meinen Tisch, wollen Sie noch etwas essen? fragte er, einen Teller der weichen, gefüllten Oliven, sagte ich, und dazu ein Glas Wein, Sie lernen ja schnell, sagte er.
Ich wartete, bis alles auf meinem Tisch stand, ich steckte mir eine Olive in den Mund, zerkaute sie langsam und trank einen Schluck, dann holte ich mein schwarzes Notizbuch hervor und schrieb: Diese Stille der Nacht, sie nistet noch immer in mir, wir waren beinahe lautlos, eine Lautlosigkeit in einem leeren und weiten Raum, dazu die Finsternis, die Augen gewohnten sich nur langsam an das Dunkel. War es Sex., war es das wirklich, nein, ich glaube nicht, Sex ist etwas anderes und hat mit dem Austarieren zweier Körper zu tun, Sex ist ein Ritual oder ein Spiel, eine Nummernfolge, ein Plan, eine Litanei, Sex vollzieht sich in Wiederholungen und Steigerungen, meist inszeniert sich ein Körper vor den Augen des anderen, bis dann der andere anspringt auf genau diese Rolle, die Einheit spielt beim Sex nur eine kurze und untergeordnete Rolle, obwohl gerade von ihr so geschwärmt wird ... Das Zusammensein mit Franca hatte aber etwas von dieser Einheit, ihr Körper und meiner gehörten zusammen und verharrten nach der ersten Berührung wie unter Choc, als hätten sie endlich, ja endlich, zueinandergefunden ...Es dauert Minuten, bis wir uns voneinander lösen, letztlich versuchen wir, dieses Glück der ersten Berührung zu wiederholen, wir sind süchtig danach, wir entfernen uns kurz voneinander und führen unsere Körper wieder zusammen, ich finde kein deutsches Wort für diese Nähe, »la tendresse« würde ich auf Französisch sagen, ja vielleicht: »la tendresse« ... Was ich dagegen mit Hanna erlebte, war Sex, immer wieder, seine Heftigkeit und seine meist plötzliche Inszenierung war stimmungsabhängig, so kam es vor, dass wir uns nach heftigem Streit in den Sex flüchteten, meist brach er aber von einem Moment zum ändern aus wie ein Fieber, wir kitteten damit unsere nicht zu leugnende innere Fremdheit, gerade wenn diese Fremdheit uns besonders schmerzhaft bewusst wurde, stürzten wir uns aufeinander, komm, lass uns ficken, sagte Hanna, fick mich, bitte fick mich, sie genoss es, »ficken« zu sagen, sie spuckte das Wort beinahe lustvoll aus, mit ihr zu »ficken« war ein scharfes und uns völlig verausgabendes Duell zweier Körper ...

#22 
regrem патриот17.02.16 18:34
NEW 17.02.16 18:34 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:11 (regrem)
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ALS ICH AM Nachmittag wieder in mein Hotelzimmer kam, erschien es mir so, als wäre ich wochenlang fort gewesen, einige der liegengebliebenen Feigen auf dem kleinen Teller waren aufgeplatzt und verströmten den Duft einer süßbitteren Fäulnis, meine Kleidung im Schrank wirkte staubig und heruntergekommen, und das glattgestrichene, weiße Laken des unbenutzten Bettes hatte beinahe etwas vorwurfsvoll Fremdes.
Ich ging die inzwischen eingegangenen E-Mails durch, darunter befand sich auch eine von Rudolf, sie war lang, heftig und klang gereizt, ich habe mit dem alten Hotelier Deines Hotels telefoniert, schrieb er, er macht sich Sorgen um Dich, anscheinend übernachtest Du nicht mehr im Hotel, bist Du noch gescheit? ... wohin soll eine solche Bekanntschaft denn führen und kann ich endlich einmal erfahren, um wen es sich handelt?! ... Du ahnst anscheinend nicht, dass es Leute gibt, die Deine Umtriebe misstrauisch verfolgen, Du riskierst allerhand für die große Liebe, ich hätte nie für möglich gehalten, dass Du so naiv bist ...
Ich druckte die lange und mit lauter Frage- und Ausrufezeichen versehene Mail aus, ich nahm sie mit nach draußen auf den Balkon, Rudolf hatte Recht, ich war naiv, die Welt um mich herum war versunken, meine Gefühle und Empfindungen absorbierten mich ganz, mein Leben hatte sich in wenigen Tagen vollkommen verändert, so radikal und so plötzlich, wie ich es nicht mehr für möglich gehalten hätte. Durch diese schleichenden Veränderungen war ich vielleicht wirklich unvorsichtig geworden, ich dachte nicht mehr in einfachen Schritten, ich überlegte nicht mehr so wie früher, gründlich, auf eine Sache beschränkt, im Grunde überlegte ich überhaupt nicht mehr, ich schaute, ich schmeckte, ich tastete, fühlte, ich war aufgegangen in einen nur noch von starken Sinneseindrücken bestimmten Körper oder besser gesagt in ein Medium der Liebe, alles, was dies Gefühl nicht berührte, ließ ich nicht mehr an mich heran. Daher hatte ich auf Rudolfs Fragen keine Antwort, ich hatte wahrhaftig keine Ahnung, wohin diese Liebe nun führen sollte, derart konkrete Fragen hatte ich mir nicht einmal gestellt. Es war aber Zeit, sich solche Fragen zu stellen, nur noch vier Tage blieben mir, dann müsste ich wieder zurück nach München, diesen Aufbruch konnte ich mir nicht einmal vorstellen. Nein, dachte ich, ohne sie fahre ich nicht zurück, dabei war doch klar, dass ich notfalls auch ohne sie zurückzufahren hätte, ich muss, dachte ich, mit ihr darüber sprechen, in Ascoli werde ich mit ihr darüber sprechen, wiederholte ich und schob das Thema mit diesem Entschluss vorerst wieder weit von mir.
Ich verließ den Balkon, auch mein nachdenkliches, träumerisches Sitzen auf dem Balkon gehörte vielleicht längst der Vergangenheit an, ich duschte und zog mich um, dann packte ich alles Notwendige in meinen Rucksack und ging hinunter zur Rezeption. Carlo war nicht da, ich hinterließ eine Nachricht, ich fahre für zwei Tage nach Ascoli, schrieb ich, machen Sie sich keine Sorgen, ich rufe Sie an.
Ich ging den breiten Boulevard hinab, hinunter zum Hafen, dieser Aufenthalt, dachte ich, besteht aus lauter kleinen Aufbrüchen und Abreisen, laufend bin ich unterwegs, nehme Abschied, komme wieder, dabei hatte ich davon geträumt, zehn Tage völlig unauffällig und ruhig an einem Ort zu verbringen. Flüchtig dachte ich auch an meinen Film, zum Glück hatte ich bereits so etwas wie ein Konzept und sogar etwas Text, ich vernachlässigte vielleicht die Recherche, dafür intensivierten sich andere Fähigkeiten, das Sehen, der präzise Blick, eine gesteigerte Aufmerksamkeit für alles Sinnliche, was sonst als peripher abgetan wird.
Ich erreichte den Hafen und setzte mich wie verabredet in die kleine Bar auf der schwimmenden Insel, ich war der einzige Gast, ich bestellte einen Aperitif, ich wartete eine Zeitlang und schaute immer wieder zum Museum hinüber, es war noch etwas Zeit, dann sah ich einen Mann näherkommen, irgendwoher kannte ich ihn, schließlich begriff ich, es war Antonio, der Museumswärter. Er ging schwerfällig über den schmalen, hin und her schlingernden Steg, er stolperte kurz, fing sich aber wieder und kam dann an meinen Tisch, darf ich mich zu Ihnen setzen? fragte er, ja, sagte ich, möchten Sie einen Aperitif? Er nickte und hob die Rechte ein wenig, als erfüllte ich nun endlich eine unausgesprochene Pflicht, ich weiß, begann er gleich ohne Umwege, ich weiß, warum Sie hier sitzen, Sie warten auf die Dottoressa, habe ich Recht? Ja, sagte ich, ich warte auf sie. Sie werden mit ihr nach Ascoli fahren, sagte er, habe ich wieder Recht? Ja, sagte ich, Sie haben wieder Recht, aber woher wissen Sie das alles? Die Dottoressa hat heute häufiger mit Ascoli telefoniert, sagte er, in unserem kleinen Institut kann man so etwas nicht geheim halten, wir bekommen das mit und machen uns unsere Gedanken, was wollen Sie von der Dottoressa? was haben Sie vor? Sie sind
ein Fremder, Sie dringen hier bei uns ein, in festgefügte Verhältnisse und älteste Traditionen, das alles scheint Sie nicht zu kümmern, Sie verdrehen der Dottoressa in einem schwierigen Moment ihres Lebens den Kopf, sind Sie sich darüber im Klaren?
Der Aperitif wurde serviert, ich wollte mit ihm anstoßen, aber er entzog sich dieser Geste, indem er sofort einen Schluck nahm, er war erregt, ich spürte es, er war gekommen, mir die Meinung zu sagen, an diesem Nachmittag geschah das nun schon zum zweiten mal, je häufiger ich mit Franca zusammen war, um so gereizter und warnender wurden die Stimmen ringsum.
Von welchem schwierigen Moment sprechen Sie? fragte ich ruhig. Sehen Sie, Sie wissen nicht einmal Bescheid, antwortete er, das haben wir uns beinahe gedacht, hoffentlich wissen Sie zumindest, dass die Dottoressa verlobt ist, sie ist mit Dottore Alberti verlobt, ja, sagte ich, ja, das ist mir bekannt, sie ist mit Dottore Alberti verlobt, eine Verlobung zählt bei uns viel, man kann darüber nicht einfach hinweggehen, wiederholte er hartnäckig, die beiden sind fest miteinander verbunden, Dottore Alberti wird die Direktion des Instituts in Ancona übernehmen, erwünscht, dass seine Verlobte ihn dorthin begleitet, er hat ihr dort eine vorzügliche Stelle beschafft, in seiner Mannschaft. Sie soll ihre Stelle hier aufgeben, sie soll für ihn arbeiten?, verstehe ich das richtig? fragte ich, die Stelle in Ancona, sagte er wichtigtuerisch und entschieden, ist besser für die Dottoressa, außerdem wäre sie auf dieser Stelle in der Nähe von Dottore Alberti, eine Frau sollte in der Nähe des Mannes sein, den sie heiraten wird. Sie wird ihn nicht heiraten, niemals, nie, wollte ich sagen, aber ich beruhigte mich und fragte, was sagt die Dottoressa dazu? Sie ist noch unentschieden, antwortete er und schaute zu Boden, aber sie muss es sich bald überlegen, bis wann? fragte ich, spätestens bis Ende kommender Woche, sagte er. Er schaute unverwandt weiter zu Boden, er hatte alles gesagt, was er sich zurechtgelegt hatte, seine Kraft reichte nicht mehr, um nochmals anzusetzen, er trank sein Glas auf einen Zug aus und stand auf. Lassen Sie sich das durch den Kopf gehen, sagte er, ich warne Sie, Sie befinden sich in einem Land, in dem alte Traditionen noch geachtet werden, lassen Sie die Dottoressa in Ruhe! Sie drohen mir? fragte ich. Ja, sagte er, ich drohe Ihnen, und nicht nur ich bin es, der Ihnen droht, damit Sie auch das wissen!
Er stellte das leere Glas mit einem leichten Knall auf den Tisch, er ging grußlos, ich schaute ihm hinterher, er nahm nicht mehr den Weg zum Museum, sondern verschwand zwischen zwei großen Schiffen, die an Land zur Renovierung aufgebockt worden waren. Ich vermutete, er wollte mir mit diesem Abgang etwas sagen, jedenfalls wirkten sein Verschwinden und Untertauchen im Hafengelände auf mich wie eine Verstärkung seiner Drohungen, als machte er sich auf den Weg in eine mir nicht zugängliche, verschlossene Welt, in der man schon über mein zukünftiges Schicksal beriet.
Ich saß still, ich atmete durch, auch er hatte in seinen Grenzen Recht, ich wusste von dem, was er mir erzählt hatte, nichts, es hätte auch wenig geholfen, wenn ich es gewusst hätte, ich hätte mich keinen Deut anders verhalten.
Vielleicht, dachte ich plötzlich, vielleicht ist es so etwas wie eine Verrücktheit, vielleicht bist Du verrückt, oder vielleicht ist auch sie es mit all ihrer Begeisterung und ihrem Drängen, wenn ihr zusammen seid, lebt ihr außerhalb jeder Gemeinschaft, mit keinem Wort kommt ihr darauf zurück, was die anderen sagen. Ich glaube auch, es ist falsch, an so etwas zu denken, jedenfalls widerstrebt es all meinen Gefühlen, die nur diesen einzigartigen Rausch auskosten wollen. Ich erlebe lauter glückliche Tage, von Tag zu Tag steigert und intensiviert sich das Glück, es ist ein Glück in mehreren Akten, das auf einen Höhepunkt zustrebt, den ich noch nicht kenne. Warum sollte ich mich da umschauen und ins Grübeln verfallen, nein, jetzt gibt es nur die Liebe, sie ist das Eine und Ganze, alles andere wird sich finden.
Ich holte wieder tief Luft, ich schaute hinüber zum Museum, da sah ich sie das Gebäude verlassen, sie trug jetzt ein hellblaues Kleid, schon mit ihrem bloßen Anblick war alles vergessen, alle Zweifel und Skrupel waren von einem Moment zum ändern zerstreut, sie ist es! dachte ich schlicht, wie gelähmt, und wiederholte, sie ist es!, es war reine Freude, was sich in mir da so brennend regte. Ich hatte eine derart starke, bis zum Zerspringen gehende Freude seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt, vielleicht, dachte ich kurz, führt die Liebe einen in besonders tröstliche Momente der Kindheit zurück, in Augenblicke, in denen man sich vollkommen sicher und bewahrt fühlte, oder in solche, in denen es nicht die geringsten Bedenken im Blick auf die Zukunft gab, sondern die Zukunft etwas Großes, Verlockendes hatte.
Ich beobachtete sie, wie sie näherkam, sie ging rasch, sie eilte geradewegs auf mich zu, als sie an meinen Tisch kam, stand ich auf, eine kurze Scheu ließ uns beinahe erstarren, wir fassten uns an beiden Händen, wir küssten uns nicht, was hast Du gemacht, ohne mich? fragte sie, ich erzähle es Dir bei einem Aperitif, sagte ich. Wir setzten uns, sie strich sich wieder übers Knie und fuhr jetzt mit beiden Händen das Schienbein entlang, wie heißt Dein Bruder? fragte ich, Luigi, antwortete sie, wir nannten ihn immer den kleinen Luigi, dabei ist er viel größer als ich, ein großer, oft etwas verlegener Mann, der nur dann ganz sicher erscheint, wenn er seine Vorträge hält. Lass uns auf ihn trinken, sagte ich, er hat uns zusammengeführt, zumindest auf ihn können wir uns berufen, wie meinst Du das? fragte sie, wir brauchen, sagte ich, einen Dritten im Bunde, jedes Liebespaar braucht einen Dritten im Bunde, einen Schutzgeist, einen Helfer, einen Eingeweihten, diese Rolle spielt in unserem Fall eben Luigi. Sind wir ein Liebespaar? fragte sie, sie biss sich ein wenig auf die Lippen, als sei sie auf die Antwort gespannt, sie hielt die Spannung aber nicht aus und begann, etwas zu grinsen, ich dachte an Augen, Lippen und Haar, sarazenisch, dachte ich, dann sagte ich, wir sind ein ganz klassisches Liebespaar, ohne Zeugen und ohne Sippschaft, nur mit einem klassischen Dritten im Bunde.
Die Getränke wurden gebracht, wir stießen mit unseren Gläsern an, ich war nicht ohne Dich, sagte ich, ich hatte Dich immer bei mir, schau!, ich zeigte ihr eine meiner frisch erworbenen Karten, sie errötete stark, sie kannte das Bild, ich sah sofort, dass jedes Detail dieses Bildes ihr sehr vertraut war. Sie nahm die Karte, hielt sie dann aber vorsichtig in Händen, mein Vater, sagte sie, war in dieses Bild vollkommen vernarrt, er ließ mir ein Kleid aus eben diesem Stoff machen, er ließ sogar die sarazenischen Muster kopieren, ich musste dieses Kleid tragen und den Schmuck und den Schleier, er ließ mich kleiden wie die heilige Magdalena. Trägt sie einen Schleier? fragte ich, und wirklich Schmuck?, aber ja doch, hier! sagte sie, siehst Du den kleinen Schleier nicht auf dem Kopf, es ist nur ein sehr feines Tuch, eine Kette mit einem roten Stein presst es an den Kopf, ich habe es übersehen, sagte ich, ich habe anscheinend ununterbrochen nur auf dieselben Stellen gestarrt. Darf ich die Karte behalten? fragte sie, natürlich, sagte ich, aber jetzt sag schon, bleibt es bei Ascoli? Ja, sagte sie, ich habe meinen Wagen neben dem Museum geparkt, ein Hotelzimmer ist reserviert, fährst Du mit mir, bist Du noch immer ein freier und glücklicher Mann? Ja, sagte ich, das bin ich, bist Du es?, ja?, bist Du es wirklich? dachte ich, glücklich war ich, aber nicht frei, einen Moment erinnerte ich mich an meine frühere Freiheit, als Freiheit war sie mir kaum bewusst gewesen, eher als ein männliches Kokettieren mit der Zeit und dem Alter, als hätte ich es mir leisten können, allein durchs Leben zu gehen.
Wir tranken aus und gingen zum Museum hinüber, wie lange fahren wir? fragte ich, höchstens eine halbe Stunde, sagte sie, wir gingen sehr schnell, wir eilten beinahe dem Wagen entgegen, ich hatte plötzlich das Gefühl, von allen Seiten und aus vielen Verstecken beobachtet zu werden, ich schaute seitlich zu ihr, vielleicht, dachte ich, legt sie es darauf an, vielleicht reizt es sie, diese Spannung jetzt auszukosten, könnte das sein?, wir erreichten den Wagen, nein, sagte ich mir, nein, Du entwickelst Anzeichen eines Verfolgungswahns, hör damit auf, verdirb Dir Dein Glück nicht durch solche Psychosen.
Wir fuhren los, schon nach den ersten Metern begann sie zu erzählen, sie lenkte den Wagen ganz unauffällig, mit nur wenigen Gesten, das Steuer hielt sie mit drei Fingern der Rechten, sie schien dem Fahren keine besondere Aufmerksamkeit widmen zu wollen, statt dessen erzählte sie, es kam mir sogar so vor, als hätten wir nur Platz genommen, damit sie erzählte. Sie sprach noch einmal von der heiligen Magdalena, dem schönen Bild, Crivelli, sagte sie, hat ein schöneres Bild nie gemalt, ich darf so etwas behaupten, denn ich habe all seine Bilder gesehen, bis in die entlegensten Winkel bin ich gefahren, um diese Bilder zu sehen, in Ascoli werde ich Dir, wenn Du willst, noch weitere zeigen. Ascoli ..., in meinen Ohren klang das plötzlich wie sarazenisch, Ascoli, dachte ich, ist gewiss eine sarazenische Stadt, ich empfand den Satz wie ein Rätsel, auch Crivellis Bild war ja rätselhaft, es übte eine starke Magie aus, zweimal hatte ich es jetzt schon verschenkt, vielleicht hatte auch das etwas zu bedeuten.
Ich zwang mich, ihr wieder zuzuhören, sie erzählte von ihrem Vater, schon als ich ein Kind war, erzählte sie, hat er mir gern Kleider und Schuhe gekauft, er interessierte sich sonst nicht dafür, nur was ich trug, beschäftigte ihn. Er hatte ein Leben lang Kinder um sich, meist waren es kranke Kinder, sie nannten ihn Dr. Dolittle, denn er kümmerte sich nicht um das Geld, er gab es aus, er half, wo er konnte, den Kindern und ihren Müttern, manchmal saßen sie in langen Schlangen in unserem Garten und wollten nach der Behandlung dann nicht fort, mein Vater ist der geduldigste Mensch, den Du Dir vorstellen kannst, ich habe ihn nie in heller Aufregung oder verärgert gesehen, seine große, starke Ruhe wirkt beinahe leidenschaftslos, aber das ist eine Täuschung, denn er hat eine große Passion, die Oper, vor allem liebt er die Callas, er verwandelt sich in einen anderen Menschen, wenn er sie hört, es ist dann, habe ich oft gedacht, als setze er mit der Musik über in ein fremdes Land, als wäre die Musik eine Fähre, die ihn von uns weg und woanders hin trägt, man sieht, wie er sich von der alltäglichen Welt löst, dieser Abschied hat etwas von der Art, wie sich Schiffe vom Land lösen, er ist feierlich, traurig und schwer, als Kind schlich ich einmal in sein Zimmer und sah ihn beim Gesang der Callas weinen, ich sah drei, vier langsam in den Gesichtsfurchen verrinnende Tränen, sie stockten auf seiner Haut und sahen aus wie Perlen, die er abgesondert hatte, was geht in ihm vor, fragte ich mich, kann Musik so schön sein, dass sie meinen Vater rührt und ihm diese Tränen entlockt? Er soll meine Mutter geheiratet haben, weil sie in ihrer Jugend der Callas glich, sie bekamen lange Zeit keine Kinder, ich glaube nicht, dass sie sich gut verstanden haben, sie begegneten sich selten, nur jeden Sonntag gingen sie miteinander zum Essen in ein Lokal, ich kann mir gut vorstellen, wie sie ums Eck saßen und höflich taten. Fast mit Vierzig soll mein Vater eine Affäre gehabt und gedroht haben, Kinder mit einer anderen Frau zu bekommen, sein Kinderwunsch war anscheinend nicht mehr zu verdrängen, und so bekam meine Mutter in rascher Folge zwei Kinder, zuerst mich, dann sofort meinen Bruder, den wir immer den Kleinen und den Jüngeren nennen, obwohl das seine Erscheinung so wenig trifft. Meine Mutter konnte mit uns nichts anfangen, sie war häufig krank, aber mein Vater beschäftigte sich viel mit uns, er verjüngte sich durch unsere Geburt, denn erst nach unserer Geburt soll er so geworden sein, wie mein Bruder und ich ihn dann kennengelernt haben, ein Dr. Dolittle, ein Freund aller Kinder, ein Mann, der keine Sorgen zu haben schien und auf viele Menschen so beruhigend wirkte, dass sie oft nur den Wunsch verspürten, in seiner Nähe etwas Zeit zu verbringen.
Hörst Du zu?, langweile ich Dich? fragte sie und schaute kurz zu mir hinüber, aber nein, sagte ich, Du hast mich noch keine Sekunde gelangweilt, ich sehe alles vor mir, Euren Garten, die vielen Kinder, eine Schaukel und Deinen Vater, ja, antwortete sie, es gab wahrhaftig eine Schaukel, siehst Du, sagte ich und beugte mich zu ihr, ich gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Schläfe, wir fuhren jetzt die alte Via Salaria entlang, es war eine schmale Landstraße im Flusstal des Tronto, zur Rechten wanderten in dichter Folge die Weinberge vorbei, während die ferne Bergkulisse langsam näher rückte. So wie sie sich vor uns abzeichnete mit ihren unvermutet, gleich hinter der Ebene aufragenden Bergen und den hellen, im späten Sonnenlicht auftrumpfenden Gipfeln erinnerte sie mich an die Staffelsee-Landschaft, ich überlegte kurz, ob ich davon erzählen sollte, verschob es dann aber auf später, seltsam, dachte ich, im Grunde kennen wir uns gar nicht, wir wissen voneinander kaum etwas, und doch vertrauen sich unsere Körper vollkommen, sie sind uns voraus, ihre Intimität ist stärker als alles Reden, denn sie bezeugt eine sehr tiefe Vertrautheit.
Hanna und ich, wir haben Wochen damit zugebracht, uns kennenzulernen, wir mussten uns tagelang befragen, um herauszubekommen, was der eine mag und was nicht, es ging bis zu den Farben, den Speisen, der Kleidung, und bei jedem Detail musste ich erst genau überlegen, um mir vorzustellen, was Hanna damit verband. Mit Franca aber ist das alles anders, es ist Unsinn, ich weiß, aber es kommt mir wirklich so vor, als kennten wir uns schon sehr lange, es gibt nichts zu überlegen, es ist, als spielten unsere Sensorien auf unheimliche Weise zusammen, nie hätte ich geglaubt, dass es so etwas bei Menschen gibt, die sich erst in einem gewissen Alter begegnen.
Woran denkst Du? fragte sie, an den Staffelsee, sagte ich, im Frühling und Herbst ist es dort am schönsten, das Birkenweiß muss sich mit einem bestimmten Braun und einem sehr starken Gelb mischen, ich fuhr oft von München aus in solche See-Bilder hinein, und dahinter schlössen sich die Berge zusammen wie eine Phalanx von Brüdern, ganz so wie jetzt hier, Ascoli scheint ja direkt vor den Bergen zu liegen, ja, sagte sie, es liegt davor, aber sie sind die ganze Zeit gegenwärtig, Du wirst schon sehen.
Sie verlangsamte, wir passierten die modernen Ausläufer der Stadt, dann sah man die alte, in ein diffus-gelbes Licht getauchte Stadtmauer, wir fuhren durch ein schmales Tor hinein in das Zentrum, fast wie ein Brautpaar, dachte ich und presste die Lippen zusammen, um es nicht auch noch zu sagen. Wir rollten immer langsamer aus, sie fuhr im Schritt durch einige dunkle und sehr holprige Gassen, dann hielten wir vor einem Hotel. Warte auf mich, sagte sie, ich bringe unsere Sachen hinauf, ich bin gleich wieder bei Dir.
Ich blieb unten, ich wartete in der Nähe des Hotels auf einer Bank, ich schlug ein Bein übers andere und schaute die stille Gasse entlang, ich glaube, dachte ich, es ist auch in ihrem Fall die große Liebe, ich bin sicher, auch sie erlebt es zum ersten Mal, das Wort »Liebe« ist zwischen uns noch nicht gefallen, aber es muss nicht ausgesprochen werden, das ganze Brimborium der Annäherung mit all seinen Umwegen und den oft kindischen Komplikationen haben wir uns einfach erspart. Wenn das aber so ist und sie es auch so empfindet, gibt es im Blick auf die Zukunft im Grunde nichts zu überlegen, die Zukunft ist vorgezeichnet, wir werden zusammenbleiben, wir sind ein Paar, noch nie habe ich mich mit jemandem so verbunden gefühlt, schon das Wort war mir früher immer suspekt gewesen, jetzt aber drückt es etwas sehr Treffendes aus, eine Zweiheit, so würde ich Paar jetzt übersetzen, denn Einheit hat etwas Fades, Gleichmacherisches.
Sie erschien sehr bald wieder, alles erledigt, in Windeseile, stimmt's, sagte sie, ja, sagte ich, ich folge Ihnen auf Ihren Wegen, Dottoressa, nein, sagte sie, so soll es nicht sein, Du folgst mir nicht, ich gehe nur ein wenig voraus.
Wir umarmten uns, eng umschlungen brachen wir auf zu einem abendlichen Spaziergang, wieder spürte ich für einen Moment diese Herzklopfen verursachende Freude, sie entstand dadurch, dass ich mir die nächsten Stunden vorstellte, Stunden, in denen wir umherschweifen würden, als wäre diese Stadt nur dazu da, ein Terrain für unsere Verzauberung abzugeben. In einer so engen Umarmung bist Du nie durch eine Stadt gegangen, dachte ich, als Du jung warst, hast Du Dich geschämt, es erschien Dir auch nicht angebracht, zu aufdringlich oder zu endgültig, und in späteren Jahren war Dir eine Umarmung verdächtig, als sollte Romantik zur Schau gestellt werden. Jetzt aber ist es unmöglich, Franca nicht zu umarmen, wie sollten wir nebeneinander, getrennt, durch eine solche Stadt laufen?
Woran denkst Du? fragte sie, Du denkst doch gerade an etwas, ich will nicht alles verraten, sagte ich, da blieb sie stehen und schaute mich an, doch, sagte sie, wir verraten uns alles, wir werden niemals damit anfangen, dem anderen etwas nicht zu verraten, so etwas wird es nie geben, versprichst Du mir das? Ich begriff sofort, was sie meinte, ich hatte Unsinn geredet, für einen Moment war ich ausgewichen in pures Geplauder, so etwas rächt sich sofort, dachte ich, es ist unmöglich, etwas dahinzusagen, entschuldige, antwortete ich, Du hast Recht, ich habe mir überlegt, warum ich früher so viel Mühe damit hatte, eng umschlungen herumzugehen, ich hatte auch Mühe damit, sagte sie, ich habe keinen einzigen Menschen wirklich so wie Dich jetzt umarmt, obwohl ich oft umarmt wurde, es gab Männer, die nicht einmal spürten, dass sie nur über einen Holzarm verfugten. Gab es so viele Männer, Männer, immer neue Männer? fragte ich, nein, sagte sie, natürlich nicht, das weißt Du doch genau, aber ich will jetzt nicht davon erzählen, es lenkt mich ab.
Die Gassen waren sehr dunkel und schmal, manche verliefen so konzentrisch gewunden, dass man in großen Kreisen zu gehen glaubte, immer wieder hörte man lachende Gruppen, die durch die Stadt zogen, sie schienen sich auf ein Zentrum zuzubewegen, es dunkelte schon, noch aber waren die nahen Berge zu sehen, sie schauten wahrhaftig von drei Seiten herab auf die Stadt, als beäugten sie ihr Plateau, dadurch glaubte man, auf einer Bühne zu stehen, immens verkleinert zu einem gulliverartigen Wesen, das immer wieder erstaunt aufschaute zu den umwölkten Riesen ringsum.
Wir trafen auf breitere Straßen, wir mischten uns unter die voranziehenden Gruppen, pass auf! sagte sie plötzlich, als es vor uns heller und weiter wurde, dann standen wir unversehens am Rand einer großen, rechteckigen Piazza, sie war eingefasst von langen Arkadengängen, einem Palazzo und einer mächtigen Kirche, auf ihrem weiten Feld standen überall kleine, sich aufgeregt unterhaltende Gruppen, ihre Umrisse und Farben spiegelten sich im blanken Travertin-Boden, es war eine irreal schöne Szene, ein Flirren und Ineinander-Übergehen der verschiedenen Flächen, der ganze leuchtende Platz ähnelte einem Windschiff, das gleich zu den Bergen abheben würde. An den Rändern saßen die Zuschauer in den Cafés, als warteten sie auf den eigentlichen Beginn des Spektakels, nach einer Weile setzten sich die stehenden Gruppen auch in Bewegung, begannen zu kreisen, die Passeggiata war eröffnet, die Piazza ein einziger belebter Salon und die allseitige Bewegung ein Tanz.
Mir schwindelte etwas, komm, sagte ich, lass uns etwas trinken, dort drüben, sagte sie, ist das Café Meletti, das wird Dir gefallen. Im Café Meletti tranken wir zwei Gläser Wein und aßen etwas im Stehen, auch hier war der Andrang sehr groß, wir hatten keine Lust, aufwendig zu Abend zu essen, lass uns weiter unterwegs sein, sagte sie, diese erhitzte Wochenend-Freitagabend-Stimmung ist herrlich, findest Du nicht? Wir gingen weiter, wir kehrten auf ein Glas für kaum eine Viertelstunde hier und da ein, wir machten das abendliche Kreisen mit und ließen uns kaum einmal los, so waren wir bis kurz vor Mitternacht unterwegs. Lass uns noch einmal auf die Piazza gehen, sagte sie, die Stadt war noch immer nicht still, noch immer standen kleine Gruppen zusammen wie auf dem Bild eines Rokoko-Meisters, auf der Mitte der Piazza warteten wir auf die mitternächtlichen Glockenschläge, wir küssten uns, nackt müsste man jetzt sein und allein hier, nur zu zweit, flüsterte sie mir ins Ohr, nackt müsste man sein, begann sie von neuem, wie neulich im spogliatoio, spogliatoio, flüsterte sie weiter und mehrmals, es hörte sich an wie der Auftakt einer Verführung, ich schloss die Augen, ich kannte das Wort, aber mir war seine Bedeutung entfallen, spogliatoio war was? ist was? dachte ich, dann verstand ich, sie meinte die graue Umkleidekabine am Meer, den abgeschlossenen, für andere nicht einsehbaren und zugänglichen Ort, all das meinte sie mit spogliatoio, es war eine weitere Vokabel unserer geheimen Sprache, Ascoli gehörte dazu und sarazenisch, Crivelli und Kleinturbellarien.
Komm, sagte sie, ich bin jetzt zu müde, wir gingen langsam und etwas schwerfällig zurück zum Hotel, wir stiegen einige dunkle Stufen hinauf, kein Licht, sagte sie und wiederholte es dann noch einmal im Zimmer, bitte kein Licht, sie entkleidete sich wieder sofort und sehr schnell, sie öffnete das Fenster weit, ich sah ihre nackten Konturen, auch ich beeilte mich, dann legten wir uns nacheinander aufs Bett und rollten zusammen, als erstes berührten sich unsere Lippen, dann spürte ich ihre Arme auf meinem Rücken, ihre Beine umfassten mich, wir bewegten uns langsam, ich glaubte eine Wellenbewegung am Strand zu sehen, als ginge ich dort wie in den ersten Tagen entlang, die Wellen liefen auf dem Sand, immer aufs neue spülte das Meer sich heran, vor und zurück, kleine, ockergelbe Kugeln tanzten in seiner Gischt, wir drehten uns, ohne uns nur einen Moment loszulassen, la tendresse?, nein, la tenerezza, das war die Vokabel, bis ich spürte, wie ihr Körper sich anspannte und fester wurde, wie er beschleunigte und sich aufmachte, sie presste mich stärker, ich spürte ihre Schenkel wie einen plötzlichen Zugriff, ihre Füße klammerten sich an meinen Rücken, sie zog mich in sich hinein, sie schloss den Gürtel, das Schloss schnappte zu, es war ein heftiger Stoß, als näherten wir uns jetzt dem Ziel, in der Dunkelheit hörte ich sie kurz aufschreien, ihr Schrei klang hell, wie ein hoher, sehr ferner Ton, der Kontakt zu unserer Umgebung war endgültig gerissen, langsam und schwer glitten unsere Körper aus diesem Zimmer in Leere und Schwärze, dann spürte ich den durchs Fenster einfallenden Wind auf der Nässe der Schultern ...
Nebeneinander lagen wir auf dem Rücken, ihre Linke noch auf meinem Bauch, wenn ich mit Dir schlafe, sehe ich die seltsamsten Bilder, sagte sie, ich glaube, es hat mit meinen Farbanomalien zu tun, ich erinnere mich an sehr uralte Szenen vor sieben, acht Jahren, ich studierte noch Kunstgeschichte in Rom und machte damals mit einer Gruppe einen Ausflug nach Neapel, wir besuchten das dortige meeresbiologische Institut, es ging um Farben, um die Farblichkeit unter Wasser, natürlich nahmen die Forscher uns
Kunstgeschichtlererinnen nicht ernst, sie zeigten uns ein paar Filme und Bilder und redeten abgedroschene Sachen, die sie selbst nicht interessierten, ich war so empört und auch gekränkt, ich kam mir vor wie ein Kind, das man mit schlechten Bilderbüchern abspeiste, wir sind nicht hierhergekommen, um ein paar Filme zu sehen, sagte ich endlich, Filme sehen können wir auch in Rom, wir wollen uns selbst einen Eindruck verschaffen. Ich war so hartnäckig und stur, bis sie zwei Leuten aus unserer Gruppe, darunter auch mir, wirklich erlaubten, in einer Kapsel mit in große Tiefen zu tauchen, sie redeten ausführlich davon, wie gefährlich es sei und welches Risiko wir eingingen, schon ein winziger, feiner Riss in großer Tiefe könne die Kapsel zum Platzen bringen, bei dem ungeheuren Druck in diesen Schichten bliebe von unseren Körpern nichts als dünne, sich schnell verflüssigende Gelatine übrig. Gelatine war das Wort, mit dem sie uns angst machen wollten, sie hatten die Meerestiefen für sich reserviert und hielten uns für Eindringlinge, die nur störten. Ich gab nicht nach, und dann, nach zwei Tagen, ging es wirklich hinab, ich kann Dir nicht schildern, wie schön es war, ab einer bestimmten Tiefe verschwinden nämlich die warmen Farben des Spektrums, Rot, Gelb und Grün, sie werden nach und nach ausgefiltert, und es bleibt ein unbeschreiblich glasiges Blau übrig, das die Sehnerven sehr stark reizt, eine solche Tiefe wirkt wie ein ewiger und völliger Stillstand, wie der unveränderliche, lautlose Widerpart aller Zeit, sie wirkt kalt und auch tödlich, und doch ist ihre Anziehung so stark, dass Du nicht mehr auftauchen möchtest. Damals, in diesen Stunden, begegnete ich mit dem Lebendigsten, was ich jemals gesehen hatte, ich wollte immer wieder hinab, ich wurde süchtig danach, als wäre die Schönheit dem menschlichen Blick im Grunde entzogen und schlummerte nur dort in der Tiefe, wo der Mensch nichts anrichten kann. Von einem Tag auf den ändern brach ich mein kunsthistorisches Studium ab und studierte Meeresbiologie, ich schrieb eine Arbeit über lichtempfindliche Fische, das war mein Thema, wie Fische in großer Tiefe auf Licht reagieren und ihre Farblichkeit je nach Lichteinfall verändern.
Ich hörte ihr zu, sie flüsterte beinahe, sie war sehr müde und sprach schon an der Grenze zum Schlaf und zum Traum, ihre Stimme entfernte sich allmählich von ihrem Körper und besetzte den dunklen Raum, sie redete jetzt wie von selbst, ich dachte erneut an den Staffelsee, weiß, braun und gelb und die dunkelgrünen Schilfmatten im Sommer, ich öffnete den Mund und flüsterte mit, aber ich hatte keine Kraft mehr, ich bewegte nur noch die Lippen, es war ein Sprechen an der Grenze zur Lautlosigkeit, leiser Gesang und Gegengesang, plötzlich glaubte ich, uns von oben zu sehen, ein nacktes Paar auf dem Rücken, sie drehte sich zu mir, sie legte ein Knie auf meinen Bauch und kroch dicht an mich heran, sie spürte nichts mehr, es war nur noch ein Reflex, dann schliefen wir zusammen ein.

#23 
regrem патриот17.02.16 18:35
NEW 17.02.16 18:35 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:14 (regrem)
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23.1
ALS ICH aufwachte, stand das Fenster noch offen, und der Wind wehte wie in der Nacht schwach herein, ich sah das Rechteck des Himmelsblaus, das einige weiße Schleier umrahmten, ich lag allein im Bett, anscheinend war sie schon längst wieder unterwegs, ich hatte mich bereits daran gewöhnt, dieses frühe Aufstehen und Verschwinden passte zu ihr und zu ihrer Neugier, die hohe Lichtempfindlichkeit ihrer Augen hatte sie auch in anderem Zusammenhang einmal erwähnt, sie war anscheinend der Grund dafür, dass sie mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte.
Ich dagegen blieb noch einen Moment liegen, ich dachte an den gestrigen Abend und die gestrige Nacht, an unseren endlosen Reigen durch die Bars und Cafés, ihre Erzählungen von der Tiefsee gingen mir nicht aus dem Kopf, in kaum vergleichbarer, schwächerer Weise hatte ich etwas Ähnliches bei meinen Tauchversuchen erlebt, die Schönheit der Unterwasserbilder, ihr zeitloser Stolz, hatten auch mich gepackt, aber ich hatte schon das bloße Tauchen in diese farbigen Gärten als ein verbotenes Eindringen empfunden und mich gehütet, irgendetwas dort unten auch nur zu berühren, ich hatte mir eingebildet, schon eine geringfügige Geste, das Zur-Seite-Schieben eines Algenvorhangs, das Aufheben eines Kiesels, die Berührung von Pflanzen, könnte diese ganze Pracht zurückschrecken lassen.
Ich stand endlich auf, ich trödelte durch das Zimmer, ich schaute aus dem kleinen Fenster in einen dunklen und feuchten, anscheinend fast nie von der Sonne gestreiften Innenhof, dann fiel mir auf, wie wenige Spuren sie im Zimmer hinterlassen hatte, Gepäck hatte sie sowieso kaum dabei, ein Auto empfand sie erst recht als lästig, sie wollte sich nicht beschweren, natürlich nicht, sich nicht zu beschweren war die Grundregel jeder Ästhetik, nicht einmal einen Regenschirm konnte ich mir in ihrer Hand vorstellen. Kein Koffer, keine Tasche, nicht einmal ein Kleidungsstück von ihr befand sich noch im Zimmer, sie war verschwunden, alles, was in diesem Zimmer verstreut herumlag, gehörte mir. Ich legte meine Kleidung zusammen, ich packte meinen Rucksack aus und legte einige der technischen Geräte auf den Tisch, ich griff zum Handy und hörte die eingegangenen Telefonate ab, Rudolf hatte sich gleich zweimal gemeldet, wenn Du mich schon nicht anrufst, bekam ich zu hören, so ruf bitte in Deinem Hotel an, es ist sehr dringend!
Ich löschte seine Nachrichten sofort, ich wehrte mich gegen seinen aufdringlichen und bevormundenden Ton, ich dachte nicht daran, seinen Befehlen gleich zu folgen, deshalb ging ich zunächst ins Bad, ich duschte und trank etwas kaltes Wasser, dann überlegte ich, ob ich gehen sollte, einen Kaffee zu trinken, gut, dachte ich, plötzlich nachgiebig, dann soll es eben sein, ich wählte Carlos Nummer und hörte, wie er sich sofort meldete.
Ich schaute durch das offene Fenster hinauf in das Blau, Carlo meldete sich, pronto, es war die Stimme eines Mannes, der mit vielen Menschen gesprochen und vielen zugehört hatte. Ich wünschte ihm einen guten Morgen, ich versuchte es vorsichtig und mit einer gewissen Geduld, aber er tadelte mich sofort, man bekommt Sie nicht mehr zusehen, warum melden Sie sich denn so spät? Ich wollte einen Scherz
machen, aber ich spürte, dass so etwas unangebracht war, irgendetwas war geschehen, ich ahnte es. Carlo sprach leise, einen Moment, ich gehe kurz in mein Zimmer, bleiben Sie dran, ich hörte seine im Hotelflur nachhallenden Schritte, er kam am Speisesaal vorbei, anscheinend war das Frühstück in vollem Gang, das Klappern des Geschirrs war genau zu hören.
Jetzt kann ich reden, hörte ich endlich seine gedämpfte Stimme, passen Sie auf, Dottore Alberti ist heute Morgen hier aufgetaucht, er wollte mit Ihnen sprechen, er war nicht davon abzubringen, hinauf zu Ihrem Zimmer zu gehen, er polterte etwas herum, er schlug gegen die Tür, Carlo, unterbrach ich ihn, Carlo, Sie treiben mit mir doch nicht etwa üble Scherze, aber nein, sagte er schroff, der Dottore hat sich sehr danebenbenommen, das ganze Haus ist erwacht, es ist mir erst allmählich gelungen, ihn wieder hinunterzufuhren, in der Bar unten trank er einen Kaffee und seltsamerweise auch einen Cognac, Sie müssen wissen, er trinkt kaum Alkohol und erst recht keinen Cognac, er erzählte mir, dass er seit zwei Tagen versuche, die Dottoressa telefonisch zu erreichen, sie melde sich nicht mehr bei ihm, in ihrer Wohnung sei sie nicht anzutreffen, dafür habe ihm jemand mitgeteilt, er werde betrogen, von einem anonymen Anrufer habe er sich sagen lassen müssen, dass er betrogen werde, dass die Dottoressa ihn mit dem Mann aus München betrüge. Ich habe ihm versichert, sagte Carlo weiter, dass die Dottoressa dieses Hotel nie betreten habe, so ganz stimmt das ja nicht, in unserem Vorhof war sie zumindest, ich habe es trotzdem ganz entschieden erklärt, denn der Ruf meines Hotels steht auf dem Spiel, Sie müssen verstehen, dass dieser Aspekt für mich sehr wichtig ist. Natürlich, sagte ich, dieser Aspekt ist für Sie sehr wichtig, ich versichere Ihnen, ich habe die Dottoressa in Ihrem Hotel nicht empfangen, nicht in meinem Zimmer und auch sonst nirgendwo, ja, gut, antwortete er, ich glaube Ihnen, aber was sollte ich mit Dottore Alberti anfangen, er konnte sich nicht erklären, dass Sie so früh bereits unterwegs waren, er war misstrauisch, wie sollte man es ihm denn verdenken? Natürlich, sagte ich wieder, wer sollte es?, was haben Sie ihm denn gesagt? Ich habe ihm gesagt, flüsterte Carlo, als wären wir Komplizen, dass Sie jeden morgen früh aufstehen und ein Bad im Meer nehmen, bravo, sagte ich, glänzend, darauf wäre ich selbst nicht gekommen, eh, sagte Carlo, ich brauche jetzt keine Komplimente, ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut. Und weiter? fragte ich, was hat der Dottore weiter getan, hat er Feuer gelegt oder einen weiteren Cognac getrunken, sagen Sie schon! Er hat einen weiteren Cognac getrunken, sagte Carlo, und dann hat er sich ganz förmlich entschuldigt, er ist sogar hinüber in den Speisesaal gegangen und hat die Gäste um Verzeihung gebeten, er erklärte ihnen, er sei überarbeitet und habe die Nerven verloren, es tue ihm leid. Ich habe weiter ruhig auf ihn eingeredet, ich habe ihn nach draußen begleitet, er werde jetzt gehen, Sie am Strand zu suchen, sagte er noch, aber er sah, ehrlich gesagt, ganz so aus, als wüsste er, dass er nicht zu suchen brauchte. Sagen Sie, hakte ich nach, hat er Ascoli erwähnt, oder haben Sie vielleicht sogar davon gesprochen? Wo denken Sie hin? antwortete er, der Dottore wusste von Ascoli nichts, da bin ich sicher, andererseits ist klar, dass er es erfahren wird, er wird es erfahren, sage ich Ihnen, sehr bald wird er es erfahren, es wird, sage ich Ihnen, keine drei Stunden dauern, und er wird in Ascoli sein!
Ich schwieg, ich musste diese Drohung erst einmal verkraften, Carlo räusperte sich, vielleicht waren ihm seine Wiederholungen schon peinlich, geben Sie mir Ihre Nummer, hörte ich ihn flüstern, ich habe Ihre Nummer nirgends finden können, zum Glück rief Ihr Kollege aus München an, er spricht ein entsetzliches Italienisch. Ja, sagte ich, grässlich, er hat sich bei mir gemeldet, sonst hätte ich das alles jetzt noch nicht erfahren.
Ich gab ihm meine Nummer, ich versprach ihm, ihn auf dem Laufenden zu halten, dann beendete ich das Telefonat und legte das Handy rasch auf den Tisch, als wäre es mir während des Gesprächs zu heiß geworden. Carlo hatte eine bestimmte Art, Dramatik zu erzeugen, er hatte es schon vor Tagen am Ende unserer gemeinsamen Mahlzeit versucht, ich hatte ihn sogar im Verdacht, dass er Dramatik nicht nur liebte, sondern regelrecht zum Leben brauchte, vielleicht war ich ihm sympathisch, weil er an mir etwas Derartiges witterte, ein Talent für Dramatikerzeugung, eine geheime Verwandtschaft mit gewissen italienischen Machenschaften und Ritualen. Ich starrte weiter zum Fenster hinaus, das Himmelsblau mit seinen weißen Schleiern hatte so gar nichts mit diesen Anrufen zu tun, es war lächerlich, ich konnte mir nicht vorstellen, wie Dottore Alberti in dieses Zimmer platzen würde, ich konnte es mir nur als Posse denken, bestimmt wäre es eine sehr komische, aber doch platte Szene, als Unbeteiligter hätte ich darüber sogar lachen können, vor allem darüber, dass er in diesem Zimmer nichts entdeckt hätte, schließlich hatte Franca nichts hinterlassen, nicht das Geringste, höchstens vielleicht im Bad, da musste ich nachschauen.
Ich stand auf, als ich Schritte hörte, jemand kam die Treppe hinauf, für einen kurzen, blöden Moment dachte ich, es könne Alberti sein, dann kam sie herein, sie hielt eine weiße Styroportasse mit einem Kaffee in der Hand, sie lachte, sie sagte, guten Morgen, mein Lieber, ich setzte mich wieder. Ich brachte kein Wort hervor, sie schaute mich an, was hast Du? fragte sie, was ist passiert? Ich habe mit Carlo telefoniert, antwortete ich, Gianni Alberti war heute Morgen im Hotel und hat versucht, mein Zimmer zu stürmen, angeblich hast Du ihn seit Tagen nicht angerufen, stimmt das? Sie stellte den Kaffee vor mich auf den Tisch, sie drehte sich um, sie schwieg, sie machte ein paar Schritte zum Fenster und schaute hinaus, dann sagte sie leise, ja, es stimmt, ich habe ihn nicht angerufen, weil ich nicht lügen kann, ich kann ihm nicht erzählen, dass ich allein bin, so etwas kann ich eben nicht. Sie drehte mir weiter den Rücken zu, ich spürte, wie peinlich es ihr war, von Gianni Alberti zu sprechen, ich hätte ihr gern geholfen, aber ich wusste nicht wie. Was ist weiter passiert? fragte sie, er hat sich bei Carlo und den Hotelgästen entschuldigt, er hat einen Cognac getrunken, sagte ich, einen Cognac?, nein, er trinkt keinen Cognac, niemals! sagte sie, doch, sagte ich, Carlo sagt, er habe sogar zwei Gläser Cognac getrunken, dann sei er verschwunden. Weiß er, dass wir in Ascoli sind? fragte sie, ich vermute, noch nicht, antwortete ich, aber er wird es bald wissen und kommen, ja, sagte sie, weiter sehr leise, er wird es bald wissen und kommen, so wird es sein.
Sie stand noch einen langen Moment still und schaute hinaus, dann drehte sie sich wieder zu mir um, sie lächelte und sagte, Dein Kaffee wird kalt, so trink doch Deinen Kaffee! Franca, antwortete ich, es geht so nicht weiter, wir können nicht weiter so tun, als gebe es Gianni Alberti nicht. Sie blickte mich beinahe verständnislos an, oder als hörte sie schlecht, sie presste die Lippen fest aufeinander, dann drehte sie sich wieder um und sagte, ich möchte Dir ein Bild von Crivelli im Dom zeigen, wir wollten es uns anschauen, das hatten wir vor, ihre Stimme klang plötzlich trotzig und rau, ich wusste, dass ich jetzt nicht nachgeben durfte, es fiel mir sehr schwer, aber ich ließ nicht locker und sagte, Franca, weich jetzt bitte nicht aus!
Sie reagierte unruhig, sie fuhr sich erneut durch die Haare, sie blickte angestrengt durch das Fenster hinaus und hob den Kopf seitlich, als sonne sie sich, zum ersten Mal hatte ich sie mit ihrem Vornamen angeredet, Franca, der Klang hallte nach, es klang aufrüttelnd und gewichtig, ich hätte das Wort am liebsten sofort zurückgenommen, denn es hatte etwas von einer Distanz, die es zwischen uns bisher nicht gegeben hatte. Sie war wieder einen langen Moment still, ich hörte sie schlucken, dann sagte sie, diese Sache, sie stockte, als erschrecke sie selbst über das Wort, diese Sache geht nur mich etwas an, ich möchte nicht, dass es Dich auch noch belastet. Franca! sagte ich, lauter als beabsichtigt, warum sprichst Du mit mir nicht darüber, hast Du nicht selbst gesagt, keiner von uns dürfe dem anderen etwas verheimlichen oder bloß für sich behalten?
Sie gab sich einen Ruck, sie löste sich vom Fenster, sie drehte sich wieder um und schaute mich wieder an, ja, sagte sie, das habe ich gesagt, Du hast völlig Recht. Also? machte ich weiter, also bitte, was soll jetzt geschehen? Es ist ganz einfach, antwortete sie, ich werde Gianni anrufen und ihm sagen, dass wir in Ascoli sind, er wird hierherkommen wollen, das soll er, er soll kommen, ich werde hier mit ihm sprechen, ich werde ihn bitten, gegen Mittag hier zu sein, ich spreche allein mit ihm, Du brauchst ihm nicht zu begegnen. Ich hörte ihr zu, alles klang sehr entschlossen und so, als gebe es nur diese Lösung. Was wirst Du ihm sagen? fragte ich weiter, ich wollte es jetzt ganz genau wissen, ich wollte nicht, dass wir das Thema so schnell abtaten, die Wahrheit, was sonst? antwortete sie, die Wahrheit, da war es, das große Wort, es klang altertümlich, wie etwas, das außer Gebrauch war und worüber man nur noch akademisch nachdachte, man konnte es aber auch in anderem Sinne verwenden, als ultimative Formel: Die Wahrheit! ~D\e Wahrheit kannten wir schließlich beide, sie bestand ganz schlicht aus unserer Liebe, genau das war es, es war unmöglich, uns zu trennen, niemand hätte es gegenwärtig vermocht.
Leihst Du mir Dein Handy? fragte sie, ich habe meins in San Benedetto gelassen, ich wollte an diesem Wochenende um keinen Preis telefonieren, ich lass es Dir hier, sagte ich, ich gehe ins Gaffe Meletti, treffen wir uns dort, in, sagen wir, einer Viertelstunde? Sie fuhr sich mit der rechten Hand flüchtig über die Stirn, sie lächelte wieder, gut, sagte sie, treffen wir uns im Café Meletti und anschließend gehen wir in den Dom, um uns Crivellis Bild anzuschauen. Ich ging auf sie zu, ich zog sie eng an mich heran, wir umarmten uns und standen wieder minutenlang still, eng umschlungen, ich küsste sie vorsichtig, als wollte ich sie beruhigen, seit Tagen standen wir immer wieder so still, fassungslos aneinandergeschmiegt, es waren Momente des puren Verstehens. Ich küsste sie noch ein letztes Mal, dann lösten wir uns voneinander, und ich verließ das Zimmer.
Es war ein klarer Morgen mit einem weiten Himmel, so einen Morgen, dachte ich, gibt es nur in italienischen Städten, Du gehst mit klarem Kopf durch die schattigen, noch leicht kühlen Gassenschluchten, alles vibriert, ist in Erwartung, die Schatten ganz scharf und kompakt, das Sonnenlicht stechend, monomanisch, diese Frische des italienischen Morgens, diese Sinnlichkeit des Beginns, geht über alles andere am Tag, langsam füllen sich die Gassen mit den Aromen, mit dem Duft frischen Brotes und dem von Kaffee, durch die weitgeöffneten Türen und die kleinen Fenster quillt es hinaus, Du badest darin, Du schmiegst Dich in das weiche Bett dieser Verheißung ...
Im Café Meletti bestellte ich einen Kaffee und ein Glas Wasser, ich erkannte mich plötzlich in der großen Spiegelfront hinter der Theke, ich sah etwas nachdenklich aus, etwas zu ernst, meine Haut war schon leicht gebräunt, ich versuchte, etwas zu lächeln, ja, so war es besser, in guten Momenten war mein Gesicht offen und klar, es wirkte dann neugierig oder, wie Rudolf einmal gesagt hatte, wie ein »Gesicht in Aktion«, Rudolf, richtig, ich blieb an ihm hängen, vielleicht sollte ich ihn doch anrufen, nein, beschloss ich, nicht jetzt,

23.2

ein Kellner schob mir den Kaffee und das Wasser hin, ich möchte noch einen Cognac dazu, sagte ich, ich empfehle Ihnen einen anisetta, antwortete der Kellner, aus unserer Herstellung, einen Anis-Likör, Sie kennen ihn? Ja, sagte ich, bringen Sie mir einen anisetta, oder nein, bringen Sie zwei, gleich zwei? fragte er, ja, antwortete ich, gleich zwei, für mich und die Signora, die gerade den Platz überquert. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, in das strahlende Licht draußen zu blicken, wir sahen Franca näherkommen, sie ging quer über die große und an diesem Morgen noch freie Fläche, es ist unser Platz, dachte ich, die Sonne brannte bereits auf dem Travertin, Ascoli war längst eine weiße, blendende Stadt mit sich verflüssigenden, zerrinnenden Steinen.
Sie kam herein, sie ging zu mir durch den kühlen und schattigen Jugendstilraum, zwei Ventilatoren kreisten bereits an der Decke, was trinkst Du? war ihre erste Frage, dann begriff sie, Du trinkst einen anisetta, nicht wahr?, bitte, sagte ich, hier ist Deiner, ich habe noch nicht getrunken, ich habe auf Dich gewartet. Es ist so schön hier, sagte sie, der Platz ist noch leer, setzen wir uns doch einen Moment nach draußen und trinken ihn dort. Ich gab dem Kellner ein Zeichen, wir gingen hinaus und nahmen an einem der kleinen Tische im Schatten Platz, sie gab mir das Handy zurück, ich sagte nichts, ich steckte es fort.
Sie stieß mit mir an, sie nahm einen kleinen, winzigen Schluck, dann sagte sie, ich habe mit Gianni gesprochen, ich habe ihm erklärt, dass ich mit Dir hier in Ascoli bin, er hält mich für verrückt, verrückt, das hat er wirklich gesagt, Franca, Du bist verrückt, immer wieder, ich habe ihn sprechen lassen, er ist außer sich, er kann es natürlich nicht begreifen, es trifft ihn völlig unvorbereitet und plötzlich.
Ich leerte mein Glas, ich starrte auf den weiten Platz, auf dem sich im hellen Sonnenlicht kaum jemand bewegte, ich wollte sie jetzt nicht anschauen und mich auch sonst nicht regen, ich wollte völlig zurücktreten und zum reinen Zuhörer werden.
Ich kenne Gianni seit meiner Kindheit, erzählte sie, als Kind wurde natürlich auch er von meinem Vater behandelt, eine Zeitlang war er mit meinem Bruder sogar befreundet, während meines Studiums habe ich ihn dann aber jahrelang nicht gesehen, ich hatte ihn beinahe vergessen, als ich nach San Benedetto zurückkam. Damals, als ich die Stelle der Direktorin erhielt, war ich das Taktieren mit Männern leid, ob Du es glaubst oder nicht, ich hatte, was meine Beziehungen zu Männern betraf, kein großes Glück, schon als junges Mädchen wurde ich laufend angesprochen, häufig mehrmals am Tag, wohin ich auch ging, es war sehr lästig und anstrengend und führte letztlich dazu, dass ich mich immer mehr abkapselte und die Gesellschaften mied. Die einzigen Männer, die ich um mich duldete, waren Vater und Bruder, ich ging, um meine Ruhe zu haben, mit Luigi aus, er wurde mein ständiger, guter Begleiter, denn wenn ich mit ihm zusammen war, wagte es niemand, mich zu belästigen. Später aber, als wir in getrennten Orten studierten, wurde es schlimm, manchmal hastete und lief ich beinahe nur noch durch Rom, weil ich den vielen unerträglichen Blicken und dem ewigen Angegafft werden ausweichen wollte. Es war obszön, viele Männer redeten mich meiner angeblichen Schönheit wegen an, aber niemand von ihnen achtete sie, diejenigen Männer aber, die mir gefielen, achteten sie so sehr, dass sie mich nicht anredeten, sie schreckten richtiggehend vor mir zurück, weil sie dachten, ich sei längst vergeben oder hochmütig und stolz, weiß der Teufel. Ich war froh, nach Abschluss des Studiums so schnell eine Stelle in San Benedetto zu bekommen, hier kannte mich jeder, aber ich war nicht mehr das junge Mädchen, dem man nachstellte, ich war jetzt die Dottoressa, eine anerkannte Frau, der gegenüber man sich zurückhielt. Ich traf alte Freunde, und ich traf auch Gianni, er kam an unser Institut, als ich es erst wenige Wochen leitete, wir gingen manchmal zusammen aus, wir sprachen wie gute Kollegen miteinander, Gianni aber begann, um mich zu werben, es war eine regelrechte Werbung, altmodisch und ein wenig hausbacken, mit Blumen auf meinem Schreibtisch, kleinen Präsenten und unvorhersehbaren Überraschungen, er stellte sich auf mich ein, er konzentrierte seine ganze Energie kurzfristig auf mich, es schmeichelte mir sehr, es war angenehm, in unserer Umgebung begann man, uns zu necken, aber ich wusste nicht einmal genau, ob er mich liebte, eher hätte man vielleicht sagen können, dass er in mir eine Chance sah, von zu Hause fortzukommen, er war damals in diesem Alter, er suchte eine Frau, die ihn und seine Arbeit verstand, ich war für ihn genau die Richtige, ganz pragmatisch gesehen, und auch er war für mich der Richtige, denn ich hatte auch keine Lust, wie eine einsame Diva behandelt zu werden.
Ich hielt weiter ganz still, ich hatte die ganze Geschichte in kleinen Genrebildern vor Augen, die Blumen auf ihrem Tisch, Gianni Albertis triumphierendes Lächeln, ihre gemeinsame Fahrt in einem etwas zu pompösen Wagen die Küste entlang, ich hätte einen Film mit den beiden drehen können, so viele Bilder stellten sich ein. Ich sagte nichts, liebend gern hätte ich einen weiteren anisetta getrunken, aber ich konnte sie jetzt nicht unterbrechen, ich musste weiter im Hintergrund bleiben, ein Schatten, der vorerst noch kein Leben haben durfte.
Gianni ist sehr ehrgeizig, erzählte sie weiter, er ist gewitzt und hochintelligent, es ist ein Vergnügen, mit ihm zu arbeiten, alles geht leicht voran, er hat immer neue Ideen, in wenigen Wochen tritt er die Direktorenstelle in Ancona an, er hat mir einen Platz an seiner Seite verschafft, wir sind ein Team, hieß es plötzlich, natürlich will er, dass ich ihn begleite, er hat es schlau eingefädelt, auf dem Posten hätte ich viele Freiheiten, eigene Arbeiten durchzuführen, das wäre viel besser als meine jetzige Anstellung in San Benedetto, denn das Institut in San Benedetto hat nur einen sehr kleinen Etat, mit dem man nicht viel ausrichten kann. Hätte ich Dich nicht kennengelernt, wäre ich Gianni nach Ancona gefolgt, jetzt geht es nicht mehr. Ich wusste auch vorher nicht genau, ob es richtig gewesen wäre, ihm nach Ancona zu folgen, ich habe nicht Giannis Ehrgeiz, verstehst Du, ich habe nicht unbedingt Lust, mein Leben mit langwierigen Forschungen in einem Institut zu verbringen, die Forschung macht mir zwar Spaß, aber sie ist nicht mein Leben, höchstens ein stimulierender Teil, außerdem bin ich zu gern unterwegs, vielleicht ist mein kunsthistorisches Interesse sogar noch immer größer als mein biologisches, das glasige Blau in der Tiefe und seine Bilder - das ist es, das fasziniert mich wirklich, ich bin noch immer süchtig danach.
Ich hielt die Anspannung nicht mehr aus, ich drehte mich nach dem Kellner um und bestellte noch zwei Gläser anisetta, dann schaute ich wieder auf den leeren Platz, ich empfand ihn plötzlich als eine Art Bühne, die Häuser ringsum waren nur wenige Meter hoch, diese menschenfreundlichen Verhältnisse luden geradezu ein, den Platz als Bühne zu sehen, man führte ein klassisches Stück auf, es ging um die Liebe, die einzige, große, und mit einem Mal erschien unter den Arkaden der böse Dritte im Bunde, langsam ging er auf und ab, er war durch Francas Erzählung entstanden, er trug Schwarz, er hatte glattes, glänzendes Haar, er war mein Feind, ich musste mich wappnen.
Wann kommt er genau? fragte ich, ich treffe ihn gegen Eins, sagte sie, hier im Meletti, ich werde ihm sagen, dass ich nicht mit ihm nach Ancona gehe, er tut mir leid, ich tue ihm jetzt etwas an, ich mag ihn sehr, er kann sehr herzlich und sogar komisch sein, Du würdest ihn nicht wiedererkennen, wenn er andere Menschen parodiert, sogar so etwas kann er. Ich schwieg, ich hatte den Eindruck, als sitze er schon fast neben uns, sein kurzer Auftritt in dem Fischlokal von San Benedetto kam mir in den Sinn, wir hatten dort zusammen gegessen, ich hatte ihn unerträglich gefunden, das Bild, das Franca von ihm entwarf, konnte ich mit der bemühten Forscher-Erscheinung, die ich kennengelernt hatte, nicht in Einklang bringen, ich sagte nichts, ich hielt mich wieder zurück, trinken wir noch den anisetta, sagte ich, dann lass uns das Bild von Crivelli anschauen.
Wir tranken unsere Gläser schweigend aus, ich bezahlte, dann gingen wir hinüber zum Dom, sie führte mich in eine Kapelle des rechten Seitenschiffes, in der sich das Altargemälde von Crivelli befand, einen Moment saßen wir nebeneinander, dann stand sie wieder auf und trat zur Seite hin weg, ich hatte das Gefühl, als suchte sie an der Wand eine Zuflucht, ich drehte mich aber nicht nach ihr um, obwohl ich bemerkte, dass sie sich langsam von mir entfernte. Ich blieb sitzen, ich holte mein Fernglas hervor, ich war jetzt für jede Ablenkung dankbar, ich studierte die zentralen Szenen des Bildes, eine Maria mit Kind, eine Grablegung, dann machte ich mich an die Heiligen und verweilte bei jedem einzeln, bei der bleichen Exaltiertheit der Frauen und der weichen Eleganz mancher Männer, ich hatte zu tun, ich vertiefte mich in die Farben und verweilte bei jedem Detail.
Als ich mich nach ihr umdrehte, war sie nicht mehr in der Kapelle, ich betrachtete das Bild noch eine Weile als Ganzes, als Ganzes machte es eher eine unbeholfene, aus jeder Zeit fallende Figur, als passe es in keine Epoche und als wäre Carlo Crivelli damit einerseits zu spät beschäftigt gewesen und andererseits auch zu früh, ich hatte nicht die Ausdauer, mir es genau klarzumachen, deshalb stand ich auf und ging sie jetzt suchen, ich ging durch das dunkle Seitenschiff und suchte sie vor den Kapellen, ich glaubte sie in der Nähe der Vierung zu sehen und folgte ihr, verlor sie aber bald wieder, ich ging zurück in die Kapelle Crivellis, sie war nirgends zu finden, ich hatte die Idee, in der Krypta nach ihr zu schauen, aber auch dort war sie nicht, ich verstand nicht, was sie mit mir trieb, was hatte dieses Versteckspiel, wenn es denn überhaupt eines war, zu bedeuten?
Ich resignierte schließlich, ich ging ein letztes Mal zurück zu dem Bild von Crivelli, ich setzte mich noch einmal in eine Bank, als sie ganz plötzlich wieder erschien und sich neben mich setzte, wo warst Du? fragte ich, ich war nebenan, im Museum, flüsterte sie und sagte dann, etwas lauter, ich gehe jetzt, ich möchte jetzt gehen. Mit einem Mal begriff ich, wie unruhig sie war, sie hatte es im Dom und vor dem Bild Crivellis nicht ausgehalten, sie brauchte noch etwas Zeit für das Gespräch mit Gianni Alberti, was hast Du jetzt vor? fragte sie mich, und ich sagte, ich habe sehr großen Hunger, ich habe tagelang nicht richtig gegessen, ich werde mich in irgendein Lokal setzen und in Ruhe essen, in Ruhe? fragte sie, so ganz in Ruhe?, ich werde es zumindest versuchen, antwortete ich. Sie stand auf, sie sagte, dass sie mich anrufen werde, wenn Alberti fort sei, ja, sagte ich, gut, ich kam mir hilflos vor, ein bloßer Statist, noch immer wollte ich keineswegs auffallen und am liebsten verschwinden. Ich blieb noch etwas in der Kapelle sitzen, man hätte mich für einen stillen Beter halten können, dann verließ auch ich den Dom.
Draußen schaute ich auf die Uhr, es war kurz nach Zwölf, ich wollte noch etwas Spazierengehen, in aller Ruhe, aber ich war zu nervös, ich bildete mir ja nur ein, auf der Suche nach einem guten Lokal zu sein, schon bald ertappte ich mich dabei, grundlos vor Geschäften stehenzubleiben, ich schaute mir die Auslagen an, so etwas hatte ich früher immer als peinlich oder als lästig empfunden, jetzt aber war ich versunken in der Betrachtung von Schuhen, Andenken und anderem Krimskrams, eigentlich schaute ich gar nicht hin, ich ließ nur die Zeit verstreichen, immer wieder fiel mein Blick auf die Uhr, dann war es endlich kurz vor Eins, und ich bemerkte, dass ich mich der Piazza näherte.
Sie saß bereits draußen, vor dem Café, ich sah sie genau, ich blieb im Dunkel der Arkaden gegenüber verborgen, ich wartete mit ihr, die Minuten vergingen, ich glaubte schon nicht mehr, dass er erscheinen würde, dann war er ganz plötzlich da, einige Sekunden lang war ich unaufmerksam gewesen. Er setzte sich neben sie, er ließ die Speisekarten kommen, sie bestellten sich sogar etwas zu essen, sie machten ganz und gar nicht den Eindruck eines Paares, das dabei war, Abschied voneinander zu nehmen oder sich gar für immer zu trennen. Ich schaute ihnen zu, in aller Rübe, sagte ich mir, ich sah, wie Gläser und Teller gebracht wurden, und wunderte mich über ihre ein verständige Gestik, sie hatten wirklich überhaupt nichts von einem zerstrittenen Paar, nur dass Alberti viel mehr als sie sprach, er wirkte aber nicht aufgeregt oder gereizt, er schien zu dozieren, genauso kannte ich ihn ja.
Sie aß nicht sehr viel, sie brach das Essen bald ab, ihr Niederlegen von Gabel und Messer war die einzige unerwartete Geste in diesem Spiel, sie trank etwas Wasser, lehnte sich dann zurück und bestellte noch etwas anderes, sie schlug ein Bein übers andere, es war die vertraute Bewegung, die ich an ihr so mochte, ich mochte, wie sie mit dieser Bewegung versuchte, zur Sache zu kommen und sich zu konzentrieren, ich sah, wie sie wahrhaftig eine Zeitlang allein sprach, sie schaute ihn dabei nicht an, sie blickte in den Himmel, sie blinzelte hinauf zu den Wolken, als redete sie über das Gespräch mit einer Freundin oder etwas letztlich Belangloses, er aber aß, er schien richtiggehend Appetit zu haben, erst jetzt fiel mir überhaupt auf, wie er gekleidet war, er trug eine dunkelblaue Jacke und eine gelbe Krawatte, er wirkte sehr
festlich, im Grunde war es eine Abendgarderobe, ich fragte mich, warum er sich so herausputzte, er sprach dann ununterbrochen, in immer demselben Gestus, er hob und senkte laufend das Messer, ich konnte es nicht mehr mit ansehen, ich war es leid.
Ich schlich im Dunkel des Arkadengangs fort, ich konnte nicht genau erkennen, was gerade zwischen ihnen ablief, ich hatte mir eine Auseinandersetzung im Stil des klassischen Dramas, mit einem großen Konflikt, mit Händeringen und einem bühnenträchtigen Abgang vorgestellt. Ich entfernte mich, ich wollte weit fort, als ich einige Schritte getan hatte, spürte ich wieder diesen mächtigen Hunger, tagelang, dachte ich, hast Du Dich nur von Kleinigkeiten ernährt, jetzt iss, so iss doch, iss!, ich ging in das nächstbeste Lokal, ich war nicht mehr in der Lage, länger zu suchen und auf Tröstung zu verzichten. Man führte mich in einen kleinen Innenhof, er wirkte etwas beengt und stickig, ein leise plätschernder Brunnen hätte fast dafür gesorgt, dass ich kehrtgemacht hätte, dann aber war mir dieses Dauergeräusch egal, ich war schon damit zufrieden, dass es nur wenige Gäste gab, einen großen, vergoldeten Käfig mit einem fremdartigen Vogel beachtete ich ebenfalls nicht weiter.
Ich nahm Platz, ich studierte die Karte, ich wollte zur Ruhe kommen, indem ich eine Karte studierte, Studium war jetzt das richtige, beruhigende Wort, ich ignorierte die mir bekannten Speisen, ich erhöhte den Schwierigkeitsgrad und suchte nach etwas Rarem, la trippa in bianco, las ich, Kutteln in Weißwein, ich stellte mir lang eingekochte, in einer öligen Weinsauce schwimmende Kutteln vor, schon bestellt, dachte ich, aber wie weiter?, um zuppa diporri,ja, dachte ich, ganz genau, eine gute Lauchsuppe zu Beginn, dann ein kleines Bett tagliatelle mit einer Lage Steinpilzen darauf, endlich la frifpa, dazu eine Flasche Falerio, gleich eine Flasche?, natürlich, eine Flasche, auch so etwas trug jetzt zur Beruhigung bei.
Ich bestellte, die Sonne stand jetzt als gleißendes Licht direkt über dem Innenhof, der Kellner fragte mich, ob ich im Schatten zu sitzen wünsche, nein, sagte ich, in der Sonne, genauso, wie ich jetzt sitze, wahrscheinlich stöhnte er hinter meinem Rücken über die Idiotie dieses Fremden nur auf, ich empfand die Sonne aber als ein wachsames und auch freundliches Auge, das direkt auf mich blickte.
Der Wein wurde als erstes serviert, dazu Wasser und etwas frisches Brot, ich hätte völlig zufrieden in einer ascolanischen Trattoria sitzen können, dem Genuss einer interessanten Folge von Speisen hingegeben, im Grunde wollte ich das auch, ich wollte es und nur genau das, ich war aber abgelenkt, ich hatte die ganze Geschichte mit all ihren Komplikationen wie ein kaum zu entwirrendes Knäuel im Kopf. Ich holte mein schwarzes Notizbuch hervor, das Aufschreiben von innerem Wirrwarr hatte mir schon oft geholfen, ich blickte hinauf zur Sonne, braun würde ich werden, tiefbraun, dieses Licht bündelte sich zu einer sole in bianco, damit ich als Fremder nicht mehr zu erkennen sein würde: leb zuckte zusammen, ah Franca ohne alle Umwege sagte, dass sie nicht nach Ancona gehen werde. Sie sagte es ganz entschieden, als brauche sie keinen Augenblick mehr darüber nachzudenken und ah yebe es sehr selbstverständlich nur diese eine Antwort auf Albertis Drängen. Diese Direktheit und Klarheit der Entscheidung passt zu ihr, sie
ist keine Frau, die laviert, um etwas herumredet, Sachen in der Schwebe lässt, auch sonst geht sie immer direkt auf etwas zu, das dort soll es sein und nicht das, dorthin lass uns gehen und nicht anderswohin. Wie aber steht es um mich? Ich bin, wie der alte Antonio richtig sagte, eingebrochen in festgefügte Verhältnisse, innerhalb
von kaum einer Woche habe ich sie durch mein bloßes Erscheinen erschüttert. Manchmal denke ich, ich könnte an dem Unglück, das ich ja zumindest für Gianni Alberti hervorrufe, so etwas wie schuld sein, andererseits fühle ich mich nicht schuldig, höchstens bin ich verantwortlich ..., verantwortlich, ja, könnte man besser sagen, verantwortlich für das, was jetzt geschieht. An enter Stelle aber geht es um Franca, ich glaube ihr, dass sie nicht nach Ancona geht, sie sagte es vollkommen besonnen, aber auch in ihr wird es rumoren, der Entschluss, nicht nach Ancona zu gehen, ist nur ein erster Schritt, wie m es sich weiter denkt, ahne ich ja nicht einmal. Nehmen wir an, sie bleibt in San Benedetto, sie trennt sich von Gianni Alberti, sie leitet auch in Zukunft das Institut, wie soll es mit uns dann weitergehen? Ich habe darauf keine Antwort, seltsamerweise vermute ich aber, dass sie es sich bereits genau überlegt hat und, wenn ich sie fragen würde, in drei, vier Sätzen einen genauen We? markieren würde. »Ich gehe nur etwas voran«, hat sie einmal
gesagt, als ich sie darauf ansprach, dass meine Rolle in unserer Verbindung vorerst darin besteht, ihr zu folgen, ich folge Ihnen gern, Dottoressa, habe ich so dahin gesagt, ohne zu ahnen, wie treffend dieser Satz ist, ich kann nur den zweiten Schritt tun, zuerst kommt es immer aufm an und darauf, wie sie sich entscheidet...
Der Kellner servierte die Suppe und schenkte etwas Wein nach, ist es Ihnen wirklich nicht zu heiß? fragte er noch einmal, nein, sagte ich, ich vertrage Hitze ganz ausgezeichnet, nach genau diesem Sonnenlicht habe ich mich in Deutschland wochenlang sehr gesehnt. Er lächelte nachsichtig, als habe er einen braven Buben vor sich, der Freundliches über sein Heimatland sagte, er wollte das Gespräch noch etwas verlängern, ich grummelte aber nur noch vor mich hin, kostete die vorzügliche Suppe, überflog noch einmal, was ich geschrieben hatte, und machte, nachdem ich den Teller geleert hatte, schnell weiter: Manchmal gehe ich in Gedanken viele Schritte zurück, ganz an den Anfang, und überlege, wie alles entstanden ist. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als habe sich unsere Liebe aus einem plötzlichen Impuls heraus entwickelt, ich vermute aber, dass ich in Wahrheit, ohne es freilich zu wissen, genau auf ein solches Ereignis wartete, ja sogar darauf vorbereitet war. Wenn ich nämlich an meine letzten Monate denke, so waren sie vollkommen ruhig, ich erledigte alle Arbeiten und Aufträge sehr reduldi?, ich ließ die Trennung von Hanna still ausklingen, manchmal dachte ich noch an sie, von Woche zu Woche wurde es aber weniger. Dabei fühlte ich mich etwas schwach, nicht impulsiv genug jedenfalls, um viel auszugehen, die Freude am abendlichen Herumziehen war nicht wieder zurückgekehrt, Rudolf hatte bei den wenigen Malen, die ich mit ihm in ein paar Kneipen verbrachte, seine liebe Not mit mir, mitten im Sommer saß ich allein unter Scharen von Menschen in einem Biergarten, ich trank Bier und fand doch keinen richtigen Geschmack daran, ich ließ das Bier schal werden und schob das Glas endlich fort, innerlich war ich abwesend und nur ab und zu etwas neidisch auf die penetranten Paare, die sich ganz in meiner Nähe küssten und ah heiteres Liebespaar inszenierten. So ruhte ich, mein Körper ruhte, meine Phantasien auch, ich hatte keine Ansprüche mehr, vielleicht fühlte ich mich durch das Zusammensein mit Hanna erschöpft, wer weiß so etwas genau? Rudolf bekam natürlich mit, wie es um mich stand, immer wieder riet er zu einer Reise, ich hatte aber keine Lust zu verreisen, schon beim bloßen Gedanken an all den Aufwand, der damit verbunden war, wurde mir schlecht. Irgendwann aber war in der Redaktion die Rede von den meeresbiologischen Instituten an der italienischen Adriaküste, ich weiß noch genau, dass ich sehr genau hinhörte, die beiden Wendungen klangen in meinen Ohren verlockend, »meeresbiologische Institute«, »italienische Adriaküste«, ich dachte jedenfalls plötzlich: Das ist es! und begann auch gleich zu recherchieren, und als ich im Zug in den Süden saß, fühlte ich mich wirklich frei, ich hatte die Sache mit Hanna hinter mir und atmete aus, ja ich hatte wieder eine geradezu unbändige Lust auf die Welt. Mit diesem Schwung kam ich nach San Benedetto, ich war hellwach, alle Sinne arbeiteten gleichsam auf Hochtouren, ich erinnere mich noch gut an den ersten Tag hier, beinahe fühlte ich mich ja wie ein fremdländischer König, dem die Einheimischen einen enthusiastischen Empfang bereiteten, ich spürte sogar schon so etwas wie Glück, nur war es natürlich noch nicht so stark und so erfüllend wie das Glück, das dann folgte. Dennoch, das Glück war schon in mir, ich war präpariert, in dieser Glücks-Verfassung begegnete ich Franca, ich erinnere mich bis ins letzte Detail an den singulären Moment, in dem die Glücks-Erwartung dann zündete...
Ich schrieb ununterbrochen, ich war in eine regelrechte Schreibekstase geraten, ich hatte kaum zur Kenntnis genommen, dass mir jemand die tagliatelle con porcini hingestellt hatte, der Teller mit der kleinen, kreisrund auf seiner Mitte drapierten Portion dampfte still vor sich hin, schließlich kam der Kellner mit langsamen Schritten zu mir an den Tisch, mein Schreiben passte ihm nicht, nur sehr verständige, sensible Kellner, wusste ich ja, haben ein Verständnis für jemanden, der bei Tisch schreibt. Ich kam ihm zuvor, ich sagte jaja, schon gut, ich esse die Pasta gleich, er schenkte mir nach und versuchte, einen Blick auf mein Notizbuch zu erhäschen, ich mag so etwas nicht, sie fragen einen dann meist sehr einfallslos, ob man ein Schriftsteller sei, und ich antworte meist sehr gereizt, dass man auch ganz normalen Menschen durchaus zutrauen könne, mit wachem Verstand ein paar aufeinanderfolgende Sätze zu schreiben. Um ihn von meinem Tisch fernzuhalten, sagte ich, also gut, ich zog den Teller zu mir heran und griff zu Gabel und Löffel, dabei hatte ich noch einen Textabsatz im Kopf, die tagliatelk con porcini kamen einfach etwas zu früh, kamen die tagliatelk vielleicht etwas zu früh? fragte er da, und ich sagte, ja, in genau sechs Minuten wären sie richtig. Zu meinem Erstaunen machte er überhaupt kein Theater, er verschwand stillschweigend und diskret mit dem Teller, ich griff noch einmal zu meinem Notizbuch, auch die Postkarten mit dem Bild der heiligen Magdalena bewahrte ich in ihm auf: Die Glücks-Erwartung zündete genau in dem Moment, ah ich die im Museum ausgestellten Fundstücke betrachtete, ich kehrte der Tür den Rücken zu, ich beugte mich über ein Ausstellungsobjekt, da hörte ich ihre Stimme, ich hörte sie, erst dann drehte ich mich zu ihr um, ich sah sie, ich sah eine knappe, sehr rasche Geste, das Zurückwerfen der Haare aus ihrem Gesicht, dazu das monochrome Grün ihres Kleides, dann die Haut, leicht errötet, das leichte Rot übergehend ins Rotblond der Haare. Was ich sah, waren einige Details, ich betrachtete sie aber, als studierte ich Einzelheiten auf den Bildern sehr alter Meister, und genau so erschien mir denn auch diese Frau: wie eine von alten Meutern gemalte Figur, wie eine Personifikation all der glücklichen Lebens-Umstände, die mich genau zu diesem Zeitpunkt umgaben.
Genau sechs Minuten, sagte der Kellner und stellte die warm gehaltenen tagliatelle erneut vor mich hin, schau mal an, dachte ich, er hat sogar Sinn für Humor, inzwischen war mir heiß geworden, ich wollte es aber nicht zugeben, wahrscheinlich glühte mein Gesicht längst, ich bestellte rasch noch etwas Wasser, um meinen Weinkonsum in Grenzen zu halten. Ich drehte die Nudeln auf dem Löffel zu sehr kleinen Nestern, ich kostete, es war wieder sehr gut, ich packte das Notizbuch entschlossen zur Seite, ich hatte wirklich lange genug geschrieben, da hörte ich das Klingeln des Handys.
Ich blickte mich um, ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht gelernt, in der Öffentlichkeit zu telefonieren, noch immer saß ich manchmal mit offenem Mund in Gegenwart eines lauter familiäre Details von sich gebenden Menschen regungslos da und fasste diese obszöne Mitteilungssucht nicht, ich sondierte also vorsichtig das Terrain, saß aber längst allein in diesem überhitzten Innenhof, die anderen Gäste hatten sich in die kühleren, schattigen Räume zurückgezogen. Ich griff rasch nach dem Handy, ich meldete mich, es war Franca, wo bist Du, Lieber? fragte sie, ich begann, es ihr zu beschreiben, ah, unterbrach sie mich schnell, ich weiß, wo Du bist, ich kenne das Lokal gut, es gibt einen plätschernden Brunnen mitten im Hof, habe ich Recht? Ja, sagte ich, es gibt ihn leider, und wo bist Du, willst Du kommen, um mit mir noch ein Dessert zu essen?, Gianni wird kommen, sagte sie, Gianni möchte sich mit Dir unterhalten, es tut mir leid, aber er wird nicht heimfahren, bevor er sich nicht mit Dir unterhalten hat, deshalb musst Du es eben auch hinter Dich bringen. Ich? rief ich, meinst Du mich?, ich war etwas durcheinander, ich hatte überhaupt nicht mit einem solchen Ansinnen gerechnet, ja, sagte sie ruhig, ich meine Dich, jetzt geht es eben um Dich, jetzt bist Du gefordert. Ich bin gefordert, dachte ich, ich, diesmal ich, und dann dachte ich wieder, iss, iss doch, so iss!, meine Koordination geriet völlig durcheinander, ich wusste nicht einmal mehr, was ich als nächstes tun sollte, essen, nachdenken, schreiben oder trinken, statt dessen spürte ich eine beinahe unerträgliche Hitzeaufwallung, auf diesen Auftritt bist Du nicht vorbereitet, dachte ich, er kommt zum falschen Zeitpunkt, bist Du noch dran? hörte ich Franca, ja, sagte ich, entschuldige, wann wird er kommen?, am besten doch gleich, sagte sie, oder passt Dir das nicht? Ich spürte, dass mein Wille nicht stark genug war, um diese Begegnung noch abzuwenden, matt, wie zerdünstet, saß ich in der prallen Sonne, in Ordnung, hörte ich mich aber sagen, soll er kommen, lass ihn ruhig kommen, ich bin bereit!
Sie sagte, dass sie ins Hotel gehen und dort auf mich warten werde, dann beendete sie gleich das Gespräch, ich schob die tagliatelk sofort zur Seite, Du darfst Dich jetzt nicht weiter beschweren, dachte ich, sich zu beschweren ist gegen die Grundregeln jeder guten Ästhetik. Ich stand auf und ging zur Toilette, dort wusch ich mir mit kaltem Wasser durch das Gesicht, ich schaute erneut in einen Spiegel, aber ich erkannte mich gegenüber dem Morgen kaum wieder, ich sah rotbraun oder besser rostbraun aus, ich hatte mich in der Frühe nicht rasiert, ich hatte etwas von einem Haudegen, etwas verwegen Haudegenhaftes, ich mochte nicht länger hinschauen. Ich ging wieder zurück an meinen Tisch, der Kellner fragte mich zum dritten Mal, ob ich mich nicht nach drinnen setzen wolle, nein, entgegnete ich, sehen Sie nicht, wie gut mir das Sitzen hier draußen bekommt?, außerdem erwarte ich noch einen Bekannten. Soll ich ein weiteres Gedeck auflegen? fragte er, vorerst nein, sagte ich, warten wir es doch lieber ab.
Ich schaute vor mich hin, ich versuchte, mich zu sammeln, was wollte Gianni Alberti von mir, warum um Himmels willen legte er es auf ein Gespräch an, warum beließ er es nicht bei dem Gespräch mit Franca und forderte mich so offen heraus? Bringen Sie noch eine Flasche Weißwein, sagte ich zu dem abwartenden Kellner, er verstand nicht, was ich vorhatte, entschuldigen Sie, sagte er, aber Ihre Flasche ist noch halbvoll, bringen Sie trotzdem eine zweite, sagte ich, und stellen Sie sie in den Kübel, sie ist dann wenigstens eiskalt, wenn mein Gast erscheint. Er schlich davon, ich war mit der Bestellung zufrieden, sie war immerhin eine Art Anfang, ich hatte die Initiative ergriffen.
Ich überlegte mir den nächsten Schritt, da erschien der Kellner mit der triff a in bianco, mein Gott nein, sagte ich, nicht? fragte der Kellner, wieder erst in sechs Minuten?, sie sind aber doch ausgezeichnet, Sie können sie nicht zurückgehen lassen. Stellen Sie sie hin, sagte ich und probierte, um es möglichst rasch hinter mich zu bringen, die Kutteln waren dünn, weich und geschmeidig, sie lagen mit wenigen eingekochten grünen Oliven in einer wie vermutet glasigen Sauce, der Kellner wartete ab, er stand dicht neben mir, ich war nach der ersten Gabel sofort entschlossen, jetzt diese Kutteln zu essen, ich würde sie vor Gianni Albertis Augen langsam verzehren, die Kutteln und ihr Genuss waren die richtige Provokation, damit würde ich Gianni Albertis Gerede glatt unterlaufen, durch den zelebrierten Genuss einer Handvoll von Kutteln würde ich die geheime Regie unseres Gesprächs übernehmen!
Ich aß langsam und langsamer, der Kellner tauchte mit der zweiten Flasche auf, in genau diesem Moment erschien auch Gianni Alberti, hier sind Sie! rief er, er wirkte freundlich, er tat, als wären wir wahrhaftig verabredet, ich war jedoch auf der Hut, er sollte mich nicht täuschen können. Macht es Ihnen etwas aus, in der Sonne zu sitzen? fragte ich, und er antwortete, nein, im Gegenteil, extreme Sonne bin ich durch meine Arbeit gewöhnt. Er gab mir die Hand, ich bot ihm den Platz mir gegenüber an, wir setzen uns, nun leg los! dachte ich, nun mach schon, Gianni, nun rück endlich mit der Sprache heraus!
Gianni Alberti blickte aber zunächst auf meinen Teller mit den Kutteln, ah, sagte er anerkennend und etwas lüstern, ah, triff a in bianco, sie sollen hier ja ganz hervorragend sein, sie sind hervorragend, sagte ich, darf ich Sie zu einer Portion einladen? Er überlegte keinen Moment, ja, gern, sagte er, ich bestellte ihm sofort auch eine Portion, ich war überrascht, dass er auf so etwas einging, überhaupt sah er sehr gefasst aus, beherrscht, von einer eventuellen Verstörung war ihm nichts anzumerken. Der Kellner brachte ihm ein leeres Glas, meine erste Flasche wurde geleert, wir hoben zusammen die Gläser, man hätte denken können, ein Freundespaar prostete sich gut gelaunt zu.
Er trank, dann begann er, ich habe mit Franca gesprochen, ich erwähne keine Details, wir sind alle alt genug, um die Situation zu begreifen, Franca behauptet, sie habe sich entschieden, nicht mit mir nach Ancona zu gehen, ich habe sie ganz offen gefragt, ob Sie der Grund für diesen Entschluss sind, sie hat erklärt, dass dies mich nichts angehe, es müsse mir genügen, wenn sie es ablehne, mit mir nach Ancona zu gehen, die Verlobung betrachte sie als gelöst. Franca hat, sagte er weiter, das bleibt jetzt aber unter uns, Franca hat - ich kenne sie besser, nein, ich korrigiere, nicht unbedingt besser, wohl aber länger als Sie -, Franca hat manchmal ihre Grillen, ich habe in meinem bisherigen Leben mit ihr viele erstaunliche Dinge erlebt, das hier geht in meinen Augen aber zu weit, ich kann diese Geschichte nicht nachvollziehen, noch vor kaum einer Woche haben wir Details eines möglichen Umzugs besprochen, wir wollten, Sie werden es wissen, in Ancona eine gemeinsame, repräsentative Wohnung beziehen.
Er war ins Reden gekommen, Du musst ihn jetzt bremsen, dachte ich, sonst redet er ununterbrochen und am Ende bleibt alles offen, Sie haben bisher nicht zusammen gewohnt? fragte ich, etwas boshaft, aber nein, sagte er ungeduldig, nicht doch, sind Sie darüber nicht informiert? Nein, sagte ich, das bin ich nicht, ich habe mit Franca nie darüber gesprochen, offen gestanden, weiß ich, jetzt ebenfalls ganz unter uns, nicht einmal, wo sie wohnt. Das wissen Sie auch nicht? fragte er und schaute mich zweifelnd an, nein, sagte ich, haben Sie etwa angenommen, dass ich es weiß? ja, sagte er, ich hörte sogar, Sie hätten Franca in ihrer Wohnung besucht, nein, sagte ich, ich versichere Ihnen, und ich nehme nicht an, dass Sie mir nicht glauben, ich versichere Ihnen also, ich habe Francas Wohnung noch nie betreten, ich weiß nicht, wo sich diese Wohnung befindet, ja ich habe nicht einmal irgendwelche Anstalten gemacht, es zu erfahren.
Aha, sagte er nur, er stockte und wusste nicht weiter, er versuchte, das Puzzle seiner Vermutungen neu zusammenzulegen, da wurden die Kutteln in blanco serviert, aha, sagte er wieder, als gelte sein aha in Wahrheit den Kutteln, er richtete sich etwas auf, er schien sogar zu lächeln, dann griff er nach seiner Gabel. Wir schwiegen und dachten nach, wir saßen uns eine Weile stumm gegenüber und aßen beide mit großem Genuss Kutteln in bianco, wir aßen dasselbe, wir tranken denselben Wein, wahrscheinlich ergab unser Zusammensitzen aus einiger Entfernung erneut ein Bild der Vertrautheit.
Ich dachte darüber nach, in gewissem Sinn sind wir vielleicht sogar so etwas wie Vertraute, dachte ich, nicht zufällig haben wir ja beide schon diese verräterischen Wendungen gebraucht, ganz unter uns ..., jetzt einmal unter uns, in gewissen Punkten waren wir uns vielleicht sogar einig oder besonders nahe, wir liebten schließlich dieselbe Frau. Wie wäre es, dachte ich plötzlich, wenn ich mich mit gerade diesem Mann besonders gut verstünde, im Grunde ist er der einzige Mensch, der jetzt eine Art kompetenter Gesprächspartner für mich wäre, kompetent klingt übrigens gut, das würde ihm sehr gefallen, vielleicht sollte ich jetzt eine überraschende Wendung riskieren und zu ihm sagen: Ich schätze Sie in dieser Sache als kompetenten Gesprächspartner, reden wir jetzt einmal unverblümt unter Männern, und treffen wir dann ein paar Abmachungen!
Ich musste grinsen, er bemerkte es und sagte, ich sehe, es schmeckt Ihnen auch, Sie haben Recht, die Kutteln sind wirklich fantastisch, ja, sagte ich, nicht wahr?, in diesem Punkt zumindest sind wir uns einig. Wir aßen eine Weile stumm, dann begann er von neuem, Sie sehen, sagte er, Ihre Worte irritieren mich etwas, ich nahm an, es gebe eine gewisse enge Verbindung zwischen Ihnen und Franca, die gibt es, fiel ich ihm ins Wort, aha, sagte er wieder, die gibt es also doch, können Sie mir dann bitte sagen, wie sie sich aus Ihrer Sicht darstellt? Aus Ihrer Sicht, aus meiner Sicht, natürlich war er gekommen, meinen Standpunkt auszuforschen, er wollte genau wissen, woran er mit mir war, er wollte es möglichst exakt erfahren, um daraus seine Schlüsse ziehen zu können.
Sie werden es pathetisch finden, antwortete ich, aber in meinen Augen ist es Die große Liebe, sie ist es übrigens auf beiden Seiten, es ist Die große Liebe ohne Herzschmerz und Eifersucht, ohne Intrigen und Vorbehalte, ohne jeden Kummer und Rücksichten. Er hörte auf zu essen, er schaute mich an, er sah aus, als mutete man ihm zu, an ein Wunder zu glauben. Signore, sagte er dann, ich kenne Ihr Alter nicht, vielleicht sind Sie ein klein wenig älter als ich, jedenfalls sind Sie nicht mehr im pubertierenden Alter und damit aus dem Alter heraus, in dem man so schwärmerische Begriffe wie Die große Liebe gebraucht und auch noch daran glaubt, diese Begriffe sind etwas für Romane und poetische Abhandlungen, den Ernst des Lebens berühren sie nicht.
Wir befinden uns aber in einem Roman, sagte ich, Franca und ich - wir schreiben gleichsam an einem Roman, es ist ein beinahe klassischer Liebesroman, ein Liebesroman in nuce, wenn Sie so wollen. Er aß noch immer nicht weiter, er schüttelte noch einmal den Kopf, ich bitte Sie, sagte er dann, ich verstehe Sie nicht, es ist ganz einfach, sagte ich, es ist ein Roman ohne wirkliche Hindernisse, ohne peinliche Irrtümer und Nebengedanken, es gibt auch keinerlei alberne Umwege und erst recht keine Skepsis, zwei Menschen erkennen, dass sie füreinander geschaffen sind, das ist es, und es ist so gewaltig, dass es alles andere zum Schweigen bringt, es ist Die Liebe pur, deshalb nenne ich diesen Romanja auch Die große Liehe, es gibt nichts Treffenderes, verstehen Sie jetzt?
Interessant, sagte er und aß weiter, er legte den Kopf schräg, als habe er einen Vortrag zu hören bekommen, der aber erst noch einmal durchdacht werden musste, interessant, mit unserem Alltag ist Ihre große Liebe aber anscheinend nur sehr wenig vertaut, werden Sie doch einmal konkret: Wie stellen Sie sich ein gemeinsames Leben mit Franca denn vor, wo und wie soll es stattfinden, wollen Sie etwa jeden Monat einmal aus München anreisen, um mit ihr am Meer spazieren zu gehen? Es ist nicht so leicht, wie Sie vielleicht denken, Sie übernehmen eine große Verantwortung, wenn Sie sich irren, wenn Ihre Gefühle vielleicht schon in einem Monat schwächer werden und sich auf eine andere Stimmungslage, sagen wir zum Beispiel auf eine in München, einstellen, werden Sie Francas Leben zerstören. Ich glaube ihr, ich kenne sie schließlich sehr gut, wenn sie von der großen Liebe sprechen würde, so hätte ich nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln, sie ist keine leichtfertige, ja noch nicht einmal eine schwärmerische Person, sie hat einen ungemein scharfen, analytischen Verstand, eine Frau wie Franca, sage ich Ihnen,
gerät nur einmal im Leben, nur ein einziges, seltenes Mal, in solche Turbulenzen, Sie würden sie furchtbar verletzen, wenn sie sich in Ihnen täuscht...
Er nahm ein Stück Brot und tunkte es in die Sauce auf seinem Teller, er war wieder ins Stocken geraten, ich hatte ihn plötzlich im Verdacht, Tränen in den Augen zu haben, für einen Moment musste ich sogar gegen ein gewisses Mitleid ankämpfen, mit einem Mal war er ein kleiner, in sich zusammengesunkener Mann, der einen Teller mit Brot aufwischte.
Es war ein verfahrener Moment, hilflos hob ich beide Arme, ich sagte, lieber Dottore Alberti, ich verstehe Sie ja, aber was soll ich sagen, versetzen Sie sich doch bitte auch einmal in meine Lage! Er wischte seinen Teller weiter sauber, natürlich verlangte ich von ihm zu viel, warum sollte er sich auch noch in meine Lage versetzen, es war eine Zumutung, so etwas von ihm zu verlangen, ich richtete an ihn auch eher einen Appell, sich jetzt nicht gehenzulassen, Tränen in seinen Augen fand ich jedenfalls unerträglich, auf mich wirkten sie wie eine Erpressung.
Er nahm einen Schluck Wein, dann sagte er, wieder etwas gefasst, ich kenne Franca seit Kindertagen, ich habe sie immer verehrt, wir Jungs haben sie damals alle verehrt, sie war eine Erscheinung, die nicht nur alle Blicke auf sich zog, sondern auch durch ihre Liebenswürdigkeit, ja durch ihr ganzes Wesen bestach. Während unserer Studienzeiten haben wir uns aus den Augen verloren, dann sind wir uns in unserer Heimatstadt wieder begegnet, ohne zu ahnen, dass wir inzwischen dasselbe Fach studiert hatten. Wir fanden zueinander, es war nicht die große Liebe, wie Sie es nennen, nein, das war es nicht, Poesie war nur in sehr geringem Maße im Spiel, aber wir haben uns sehr geachtet, was unsere Arbeit und den Charakter des anderen betraf. Franca war für mich, wie soll ich es sagen, das größte Geschenk, das mir das Leben gewährte, sie war mir sogar wichtiger als meine Arbeit. Wenn es einem Mann gelingt, eine solche Frau für ein gemeinsames Leben zu gewinnen, kann ihm nichts mehr passieren, verstehen Sie?
Die Sonne verschwand über dem offenen Dach des Innenhofs, ich spürte die plötzlichen Schatten, die sich auf mein Gesicht legten und es angenehm kühlten, der Kellner kam an unseren Tisch, möchten die Herren noch ein Dessert?, was gibt es denn? fragte Gianni Alberti, der Kellner begann aufzuzählen, er fing mit dem Üblichen an und steigerte sich langsam, am Ende erwähnte er noch ravioli äolci, gefüllt mit Kastanienmus, aromatixzato mit etwas anisetta, die sind es, sagte ich schnell, und Gianni Alberti nickte zustimmend, die sind es.
Er räusperte sich, dann erkundigte er sich, als wolle er zumindest etwas Interesse auch für mich aufbringen, nach meinem Filmprojekt, ich berichtete, ich sprach über das Konzept, ich gab mir Mühe, genau und informierend zu sprechen, ist die Fischerei eigentlich für Sie überhaupt kein Thema? fragte er schließlich, bisher nicht, sagte ich, das ist schade, sagte er, reden Sie doch einmal mit den Fischern, sie laufen meist in der Frühe, manche aber auch erst gegen Mittag, in den Hafen ein, gehen Sie doch ruhig einmal auf einen Kutter, Sie werden Erstaunliches zu hören bekommen!
Die Desserts wurden serviert, wir schwiegen beide, wir waren erschöpft, aber noch immer nicht am Ende, ich wusste, dass er sich mit dem, was er bisher erfahren hatte, nicht zufriedengeben würde, dann sah ich, wie er sich zu einem letzten Anlauf aufbaute, Sie haben meine eindringliche, eigentliche Frage noch nicht beantwortet, sagte er, wie stellen Sie sich ein gemeinsames Leben mit Franca vor?
Ich ließ einige Sekunden vergehen, dann sagte ich, so ruhig es mir eben gelang, ich möchte und kann Ihnen darauf nicht antworten, es ist eine Sache, die nur Franca und mich betrifft. Sie haben nicht die geringste Ahnung, flüsterte er, nicht die geringste. Ich kenne Franca seit kaum einer Woche, sagte ich, ich kann Ihnen hier noch kein Programm für ein gemeinsames Leben auftischen. Sie sind ein ahnungsloser Mensch, sagte er, und ich spürte gleich, dass er jetzt ausholen würde, er holte aus zu Beleidigungen und Kränkungen, er konnte sie nicht mehr zurückhalten, irgendwann musste so etwas ja kommen, dachte ich, ich habe es die ganze Zeit schon erwartet. Sie befinden sich in Italien, sagte er, Sie gehen nicht nur eine Verbindung mit Franca, sondern eine Verbindung mit einem Kontinent ein, das aber ist Ihnen nicht klar, Sie sind naiv, Sie sind nichts anderes als ein hergelaufener, naiver Tourist...
Er schaute mich an, er wollte sehen, ob seine Worte getroffen hatten, ich sagte nichts, ich schaute ihn auch an, ich brauche dazu nichts zu sagen, dachte ich, er suchte in meinem Gesicht weiter nach den Wirkungen seiner Sätze, dann senkte er den Blick und sagte, entschuldigen Sie, meine letzte Wendung nehme ich ausdrücklich zurück, Franca liebt Sie, ich habe nicht die Absicht, jemanden zu kränken, den Franca liebt, im Grunde sind Sie mir nicht einmal unsympathisch, aber das spielt keine Rolle, ich weiß jetzt, woran ich mit Ihnen bin, Sie haben sich außer ein paar poetischen nicht die geringsten Gedanken gemacht, Sie müssen damit rechnen, dass ich alles in Bewegung setze, um Franca zu halten, ich werde sehr mächtige, starke Verbündete haben, das können Sie glauben!
Er tupfte seine Lippen mit einer Serviette ab, dann stand er auf, Sie waren mein Gast, sagte ich, ich danke, sagte er, leider werde ich keine Gelegenheit haben, mich zu revanchieren, wer weiß, sagte ich, vielleicht doch, vielleicht in einigen Jahren, wenn wir alle etwas Abstand zu diesen Vorgängen haben. Sie sind wirklich naiv, sagte er und wollte gehen, einen Augenblick noch, sagte ich, schauen Sie her, erkennen Sie das Bild wieder? Ich nahm eine der Karten mit Crivellis Bild der heiligen Magdalena aus meinem Notizbuch und hielt sie ihm hin. Was ist das?, was wollen Sie denn jetzt damit! fragte er, Sie kennen das Bild nicht? fragte ich, es sagt Ihnen gar nichts?, nein, sagte er, es sagt mir nichts, und ich habe nicht die geringste Lust, ausgerechnet jetzt etwas über dieses Bild in Erfahrung bringen zu wollen, schade, Dottore, sagte ich, ich hätte mit Ihnen gerade darüber sehr gerne gesprochen.
Er wandte sich ab und verschwand grußlos, ich setzte mich wieder, plötzlich war es sehr still, das Plätschern des Brunnens erschien mir viel leiser als noch zuvor, auch der Vogel saß träumerisch-unbeweglich in seinem Käfig und hüpfte nicht mehr nervös von Sprosse zu Sprosse, die Stille hatte
etwas Unheimliches, ich schaute zum Himmel, ich hätte mich über das Aufziehen schwerer, dunkler Wolken nicht einmal gewundert.
Der Kellner kam und fragte, haben Sie noch einen Wunsch?, ich bin der letzte Gast, sagte ich, ich halte Sie ja doch nur auf, das tun Sie nicht, sagte er, unerwartet milde und freundlich, ich bringen Ihnen einen Averna, auf Kosten des Hauses, danke, sagte ich, das ist freundlich von Ihnen, zumindest er gab sich Mühe, meine Laune zu bessern.
Habe ich etwas mit Gianni Alberti zu tun, habe ich wirklich? dachte ich, alles, was mit Gianni Alberti zu tun hatte, kam mir wie etwas Überflüssiges vor, sicher war es im Falle Francas ganz anders, sie hatte sich mit Gianni Alberti verlobt, nicht ich, ich durfte ihn also wohl ignorieren. Ignorier ihn, ignorieren! meldete sich in mir eine aufdringliche Hass-Stimme, während des Gesprächs mit Alberti konnte ich dieses Gefühl noch zurückdrängen, jetzt aber war der Hass da, am liebsten hätte ich Alberti gepackt mitsamt seiner repräsentativen Wohnung, seinen mächtigen, starken Verbündeten und seiner wichtigtuerischen Scheinheiligkeit, nicht einmal Crivellis Bild der heiligen Magdalena kannte er, so einer war für Franca der Falsche, glücklicherweise hatte ich den großen Schachzug seines Lebens noch rechtzeitig durchkreuzt.
Der Kellner kam mit dem Averna und der Rechnung an den Tisch, ich bedankte mich, entschuldigen Sie, sagte er, es geht mich nichts an, aber waren Sie mit dem Signore, mit dem Sie gegessen haben, einmal befreundet? Befreundet? fragte ich, ich mit ibntf, wie kommen Sie darauf?, ich nahm an, sagte er, Sie seien einmal gute Freunde gewesen und hätten sich nach einem Zerwürfnis jetzt wieder getroffen. Machten wir etwa diesen Eindruck? fragte ich, ja, sagte er, so sah es aus, ganz falsch ist Ihr Eindruck nicht, antwortete ich, das Zerwürfnis ist jetzt leider endgültig. Ja, sagte er, ich habe es mitbekommen, salute, der Averna ist ohne Eis, ich nehme an, das ist so richtig, ja, sagte ich, danke, es ist so richtig, Averna mit Eis ist etwas für hergelaufene, naive Touristen ..

#24 
regrem патриот17.02.16 18:35
NEW 17.02.16 18:35 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:16 (regrem)
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ICH SCHLENDERTE durch die Stadt, es war bereits Nachmittag, ich war unruhig und immer noch angespannt, die Aufregung des Mittags wirkte unangenehm nach, es war, als steckte eine Art Kobold in mir oder als fuchtelte eine verkleinerte Gestalt des Dottore Alberti weiter vor mir herum. Ich wollte zurück ins Hotel, verlangsamte aber, ich hätte gern mit jemand Fremdem über das Treffen mit Alberti gesprochen, meine Wut und mein Hass mussten heraus, bevor ich Franca wieder begegnete, ich wollte meine Bitterkeit loswerden, ich wollte wieder bereit sein für die Stunden mit ihr.
Ich ging zur großen Piazza zurück und setzte mich irgendwo auf einen Stuhl, ich nahm mein Handy heraus und wählte Rudolfs Nummer, ich wartete, ich zählte die Freizeichen, nach dem sechsten Mal hörte ich seine Stimme, sie klang müde und abwesend, ich sah ihn plötzlich in seiner Münchener Wohnung, er war dem Großstadtnachmittag ausgewichen, er langweilte sich, oder er döste, hier meldet sich ein herumstreunender Tourist, sagte ich, endlich rufst Du an, sagte er, ich wusste, dass Du erst anrufen würdest, wenn es Dir schlechtgeht, geht es Dir schlecht? Ja, sagte ich, es geht mir schlecht, ich habe mich eben duelliert, mit wem? fragte Rudolf, mit meinem Rivalen natürlich, sagte ich, er lebt aber noch, und Du bist verletzt? fragte er, ja, sagte ich, es handelt sich um eine schmerzhafte Streifwunde. Hör jetzt auf damit, rief er, ist wirklich etwas passiert, ist es schlimm?, ja, sagte ich, ich glaube, ich werde mich jetzt betrinken, schade, hörte ich ihn lachen, schade, dass ich nicht bei Dir bin, ich hätte eben doch kommen sollen.
Ich hatte keine Lust mehr, mit ihm zu telefonieren, ich hielt das Handy nur noch ungeduldig in meiner Hand, wann fährst Du zurück? wollte er wissen, Dienstagmittag, sagte ich, so spät? fragte er, ja, sagte ich, ich bleibe eben bis zur letzten Sekunde. Bringst Du sie mit? hörte ich ihn fragen, ich gebe keine weiteren Auskünfte mehr, sagte ich.
Ich ärgerte mich, dass ich ihn angerufen hatte, für Gespräche, die einem aus einer Not halfen, war er noch nie der richtige Gesprächspartner gewesen, im Grunde war er plump und fahrig, aber als ich bemerkte, dass ich anfing, auch ihn zu beschimpfen, sagte ich mir, hör auf, es hilft alles nichts, es gibt niemanden, der Dir helfen kann, und sich zu betrinken, ist auch kein guter Gedanke, höchstens zu zweit wäre das vielleicht etwas.
Ich stand auf, ich machte mich auf den Weg, ich ging langsam zurück zum Hotel, ich stieg leise die Treppe hinauf und öffnete oben vorsichtig die Tür. Sie lag angekleidet auf dem Bett, sie schlief fest, das Fenster stand noch immer offen, ich betrat ruhig den Raum und näherte mich, dann kauerte ich mich vor dem Bett auf den Boden.
Ich betrachtete sie genau, es war so einfach, ich brauchte doch nur in ihrer Nähe zu sein, dann war die Unruhe fort und die hässlichen Nebengedanken waren verflogen, sie lag lang ausgestreckt auf der Decke, sie atmete regelmäßig und tief, die Erschöpfung hatte sie niedergestreckt. Am liebsten hätte ich mich neben sie gelegt, ich wollte sie aber nicht wecken, sie hatte, wie ich genau wusste, am Mittag kaum etwas gegessen und vielleicht auch nur wenig getrunken -plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte, ich wollte ihr etwas zu essen und zu trinken besorgen, ich wollte einkaufen für uns beide, ich dachte an einen stillen Abend in diesem Hotelzimmer, vollkommen zurückgezogen, nur zu zweit. Ich wusste nicht, warum dieser Gedanke mir kam, er wirkte jedenfalls plötzlich sehr überzeugend auf mich, ich war völlig sicher, dass sie keine Lust haben würde, noch einmal nach draußen zu gehen und sich unter die Leute zu mischen, auch ich verspürte dazu nicht die geringste Lust, ich suchte die Abgeschiedenheit, ich war mir gewiss, dass sie genauso empfand.
Als ich kurze Zeit später mit den Einkäufen wieder zurückkam, war sie wach, sie hatte sich umgezogen, sie stand am Fenster und blätterte in einem Buch. Sie schaute zu, wie ich durchs Zimmer ging und die Sachen auf den kleinen Tisch stellte, sie lächelte, als beobachtete sie etwas amüsiert die Tätigkeiten eines fleißigen Kindes, dann sagte sie leise, Du hast meine Gedanken erraten, ich habe eine ganze Weile geschlafen, jetzt habe ich großen Hunger. Ich weiß, sagte ich und packte die Einkäufe aus, ich hatte Brot, Käse, Oliven und Wein besorgt, ich nahm alles aus seiner Verpackung und drapierte es auf dem Verpackungspapier. Sie blieb weiter am Fenster stehen, sie hörte nicht auf zu lächeln, sie wartete, bis ich fertig war, ecco!, sagte ich und trat einen Schritt zurück, der Tisch sah jetzt aus wie ein naives Gemälde, der Geruch von Käse und frischem Brot erfüllte den ganzen Raum. Ich öffnete die Flasche, ich goss etwas Wein in zwei Gläser, dann ging ich zu ihr und hielt ihr eins hin, salute, sagte ich, ich bin nahe daran, mich zu betrinken.
Sie nahm das Glas, wir stießen an, dann sagte sie, war es so schlimm? Ja, sagte ich, es war unangenehm, ich hätte mir das lieber erspart, stell Dir vor, sagte sie, er hat Dich einen cretino genannt, mehrere Male, cretino, cretino, es hörte sich scharf an und klirrend, als werfe er Steine gegen ein Fenster, von wem spricht er nur? dachte ich laufend, er benutzte lauter Worte und Wendungen, die er sonst nie gebraucht. Ich habe mit ihm triff a in bianco und kleine gesüßte Ravioli gegessen, sagte ich, was? sagte sie, ihr habt wirklich zusammen gegessen?, ja, sagte ich, es hatte etwas ungemein Tröstliches, ich dachte, er ist gar nicht »der Rivale«, er ist ein Freund, unglücklicherweise liebt ihr eben nur dieselbe Frau, anfangs saßen wir einander gegenüber wie Geheimbündler, als tauschten wir über Dich Geheimnisse aus, so war es jedenfalls zu Beginn des Gesprächs, da war ich noch in dem guten Glauben, es könnte so vernünftig weitergehen, im Grunde hatten wir uns doch etwas zu erzählen, ja wir hätten in diesem Lokal sitzen können wie zwei Experten, die sich über eine einzigartige, nur ihnen bekannte Materie klug unterhalten. Materie gefällt mir, sagte sie, als Materie fühle ich mich wohl, ich bin sogar ausgesprochen gerne Materie ..., Gianni würde sich aber nie so mit Dir unterhalten, und zwar nicht aus Scheu, sondern weil ihm kaum etwas einfallen würde, was wollte er denn überhaupt von Dir, was wollte er wissen? Er behauptete, er wolle sich einen Eindruck verschaffen, sagte ich, und was meinst Du, fragte sie, welchen Eindruck hat er gewonnen?
Ich habe ihm gesagt, antwortete ich, dass es in meinen Augen die große Liebe ist, es war plötzlich ganz still im Raum, sie regte sich nicht mehr, es sah aus, als erstarre sie oder horche dem nach, was ich gesagt hatte, dann ging sie wieder zum Fenster und schaute hinaus, das hast Du wirklich gesagt? hörte ich sie leise fragen, ja, sagte ich, ich weiß, es klingt hilflos, aber ich habe es trotzdem gesagt, keine andere Wendung bezeichnet es eben derart genau. Und? fragte sie weiter, noch immer in diesem leisen und vorsichtigen Ton, wie hat er reagiert? Er hielt es für Poesie, sagte ich, er war an pragmatischen Themen interessiert, an welchen? fragte sie, er wollte ganz detailliert wissen, wie es mit uns weitergeht, sagte ich. Und wie geht es mit uns weiter? fragte sie und drehte sich zu mir um, ich vermute, Du hast es Dir längst überlegt, sagte ich, ja, sagte sie, ich habe mir etwas überlegt.
Ich stellte mein Glas auf den Boden und legte mich auf das Bett, sie schaute mir zu und tat dann dasselbe, wir lagen nebeneinander auf dem Rücken und blickten zum offenen Fenster hinaus, es war wieder still, ab und zu trank einer von uns einen kleinen Schluck Wein und setzte das Glas vorsichtig wieder zurück auf den Boden, ich hätte gerne gewusst, was ihr jetzt durch den Kopf ging, aber ich wollte abwarten, bis sie es mir von sich aus sagte.
Am Ende hat Dottore Alberti mir sogar gedroht, sagte ich, er sprach von starken Verbündeten, die sich auf seiner Seite befänden, und davon, dass er das alles nicht hinnehmen werde, er hatte vor, mit meinem Vater zu telefonieren, sagte sie, das macht mir die größten Sorgen, ich habe ihn gebeten, meinem Vater nichts von uns zu sagen, er weiß aber, dass mein Vater der wunde Punkt ist, ich musste Gianni also zuvorkommen, es ist unmöglich, dass er Vater unterrichtet, Vater würde das nicht verstehen und mir nie verzeihen, ich musste ihn also selbst informieren, das war nicht leicht, ich habe es am Nachmittag von diesem Zimmer aus aber getan. Was hat Dein Vater gesagt? fragte ich, er war vollkommen ruhig, antwortete sie, er hat mir zugehört und mich gebeten, morgen früh noch einmal anzurufen, er werde sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, so ist er nun einmal, er ist sehr zurückhaltend, er hat sich noch nie in meine Angelegenheiten gemischt, er wird es auch diesmal nicht tun, aber er will genau wissen, was in mir vorgeht, er will es bis in die letzten Nuancen begreifen.
Es dunkelte, wir schauten weiter beinahe regungslos zum Fenster hinaus, manchmal hörte man ein helles Sirren von Vogelschwärmen, die in tiefem Flug ums Haus schwirrten, langsam wurde draußen auch das Menschen Geraune lauter, vereinzeltes Lachen, hingemurmelte, gedämpfte Gespräche, es klang oft ganz nah, dann verebbte es wieder, es kam mir so vor, als befänden wir uns auf einer Insel, ringsum regte sich eine bedrohliche Welt, vielleicht waren wir nicht nur erschöpft, vielleicht hatten wir uns aus einer dunklen Furcht heraus so zurückgezogen, vielleicht duckten und kauerten wir uns in der Nacht an diesen geheimen Ort.
Die große Liebe ..., sagte sie plötzlich, wieder sehr leise, ich hätte so etwas nicht sagen können, ich hätte es nicht über die Lippen gebracht, ich habe noch zu keinem Menschen von Liebe gesprochen, nur in der Kindheit, da hatte ich einmal einen Freund, der von mir verlangte, ich solle Ich liebe Dich sagen, er hatte es bei seinen älteren Geschwistern gehört und hielt die Wendung für einen Schlüssel zur Erwachsenenwelt, weil ich meine Ruhe haben wollte, sagte ich schließlich Ich liebe Dich, aber er beschimpfte mich und nörgelte nur, Du hast es nicht richtig gesagt. Ich hebe Dich, sagte ich, ist etwas anderes als Die große Liebe, ich habe Ich liebe Dich auch nie gesagt, ich war aber auch nie richtig verliebt, es hätte nirgends gepasst, meine Eltern haben sich früh getrennt, ich war das einzige Kind, ich war früh auf mich selbst angewiesen und sehr skeptisch gegenüber sogenannten großen Gefühlen, vor allem aber gegenüber der Liebe, das alles, glaube ich fest, hat mich von Liebe nicht reden lassen, ich war sogar richtiggehend immun gegen Koseworte und jedweden Liebeszauber.
Ich habe Hunger, flüsterte sie, wir sprachen sehr leise, als wollten wir nicht auf uns aufmerksam machen, ich stand auf, sammelte die Gläser ein und stellte sie auf den Tisch, sie setzte sich und nahm sich etwas zu essen, ich schaute ihr zu, sie aß sehr langsam, als müsse sie sich an den Geschmack der Speisen erst wieder gewöhnen.
Glaubst Du eigentlich, dass Gianni mich liebt? fragte sie, ich weiß es nicht, antwortete ich, er spricht so offiziell und gekränkt, er redet von repräsentativen Wohnungen in Ancona und davon, dass ich von Italien eben rein gar nichts verstehe, vielleicht mangelt es ihm auch einfach an einer bestimmten Form von Phantasie, deshalb zweifle ich daran, dass er Dich liebt. Ich nahm mein Glas und ging ans Fenster, ich wollte sehen, wie weit das Leben draußen so war, es war noch lauter geworden, aber kaum noch etwas zu erkennen, ein milchiger Sternenhimmel krümmte sich über der Stadt, ich war froh, nicht mehr ausgehen zu müssen, ich hatte gar keinen Sinn mehr für das Treiben, und ich spürte, es ging ihr genauso.
Ich füllte uns Wein nach und leerte die Flasche, ich stand lange am Fenster und wartete, bis sie gegessen hatte, ich hatte einfach keinen Appetit mehr, sie aber aß weiter langsam und ruhig, ich hörte sie in regelmäßigen Abständen trinken, das Aufsetzen des Glases auf die Tischplatte ergab jedes Mal einen trockenen, dumpfen Ton. Ich versuchte, zusammenzubekommen, was heute geschehen war, ich hatte das Gefühl, als habe sich beinahe ohne mein Zutun sehr viel getan, die Gedanken entglitten mir aber, ich bekam keine Ordnung hinein, keine Folge, nicht einmal einen Anfang, ich trieb durch eine Melange von unerledigten oder stehen gebliebenen Sätzen, bis ich sie aufstehen hörte, noch einmal klopfte das Glas, etwas heftiger als zuvor, gegen die Platte, dann stand sie hinter mir, sie schmiegte sich an mich, sie legte ihre Arme um meinen Hals und drehte mich behutsam zu sich herum, geht es Dir gut? fragte sie, ja, sagte ich, komm, ziehen wir uns aus, sagte sie, wir ziehen uns aus und lassen das Fenster geöffnet, wir hören die Stimmen von draußen, den Wirbel, all diese Musik, und wir lieben uns, wir lieben uns diese Nacht, wir werden nicht mehr aufhören, uns zu lieben, noch wenn die Stimmen fort sind, werden wir es tun.
Sie löste sich von mir, sie begann, sich zu entkleiden, ich wartete noch einen Moment, ich horchte, all diese Musik, ja, all dieser Wirbel, das Gemurmel von draußen hatte jetzt einen gleichmäßigen Pegel erreicht, die Vogelschwärme waren längst fort, manchmal nur schien man noch ein vereinzeltes Girren zu hören, ich zog mich aus, ich hörte sie leise flüstern, verstand aber nicht, was sie sagte, sie flüsterte mich anscheinend ins Bett, sie lockte mich, ich legte mich zu ihr, sie fasste nach meinen Händen und hielt sie eine Zeitlang, dann ließ sie mich los und legte den Kopf weit zurück, ihre vollen Haare fielen nach hinten, sie schloss die Augen, ein Flüstern, etwas wie Summen, sie lag weit ausgestreckt auf dem Rücken, als treibe sie auf dem Wasser, sie wartete darauf, dass ihr Körper leicht wurde, ich lag dicht neben ihr, ich fuhr mit der Hand langsam über ihren Bauch, meine Fingerkuppen berührten kaum ihre Haut, ich berührte sie wie ein schwimmendes, leicht verletzliches Wesen, dann beugte ich mich über sie und begann, sie einzuhüllen mit meinen Küssen, es war, als wolle ich sie zudecken, ich berührte sie nur mit den Lippen, langsam ließ ich ihren Körper verschwimmen, sie lag totenstill, ich hörte sie atmen, es klang regelmäßig und leise wie das Atmen eines sehr kleinen Tieres in einem Versteck, dann hörte ich, wie ihr Atem einen Sprung tat, eine Tonart höher hinauf, noch eine weitere, höher, einen Moment setzte er ganz aus, dann, nach dem erneuten Einsetzen, wurde er kräftiger, rascher.

#25 
regrem патриот17.02.16 18:35
NEW 17.02.16 18:35 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:17 (regrem)
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DAS SONNENLICHT weckte uns, es drang durch das geöffnete Fenster in unser Zimmer wie ein trockener Niesei, der sich sofort nach allen Seiten verteilte, es zerstob an der Wand und fiel als ein scharfer Schnitt in den Raum, es war noch recht früh und draußen sehr still, man konnte die sonntägliche, entspannte Stille spüren, etwas Müdes und Benommenes war noch darin, ein paar Tauben gurrten sehr nah, dann hörte man zwei, drei einzelne Glocken. Wir standen bald auf, wir duschten und kleideten uns an, dann packten wir unsere Sachen zusammen, bezahlten und verließen gleich das Hotel, wir setzten uns als die ersten Gäste in ein Café auf der großen Piazza, nur wenige, gut gekleidete Spaziergänger waren unter den schattigen Arkaden zu sehen, die Stadt lag wie betäubt da, nur das Sonnenlicht schien unaufhörlich zu strömen und sich in den schmalen Gassen niederzulassen, als wäre es auf der Suche nach den abhanden gekommenen Menschen.
Wir frühstückten, wir tranken Kaffee und etwas Wasser und aßen dazu frisches Gebäck, ich hatte das Gefühl, als werde an diesem Sonntag etwas Unangenehmes passieren, so unheimlich und drohend empfand ich die Stille, ich dachte an Gianni Albertis Ankündigungen, ich hatte nicht die geringste Idee, was er vorhatte, und ich wagte nicht, Franca zu fragen, weil ich nicht unruhig oder gar hysterisch erscheinen wollte. Anders als ich frühstückte sie langsam und lange, sie genoss die morgendliche Wärme und die klare Luft, und als ich mich zu ihr beugte, um ihr einen Kuss zu geben, sprach sie von einer Fahrt ins hohe Gebirge, weit hinauf zu den sibillinischen Bergdörfern, sie schwärmte mir davon vor, es hörte sich aber an wie eine Flucht, als sollten wir so schnell wie möglich aus Ascoli verschwinden und uns in Gegenden begeben, in denen uns niemand vermutete.
Ich tat einverstanden und erkundigte mich nach den Details, sie sprach von über zweitausend Meter hohen Bergen, zu denen auch der Monte Sibilla, der Berg einer mythischen Sibylle, gehörte, angeblich gab es irgendwo auf einem Hochplateau des Gebirgsmassivs einen geheimnisvollen, entrückten Ort, mit dem sie sehr starke Erinnerungen verband, sie war aber lange nicht dort gewesen, sie träumte nur manchmal von ihm, in der Nacht, sagte sie, habe sie oft gerade an diesen Ort denken müssen, sie wünsche sich so sehr, ihn wieder einmal zu sehen. Wie lange fahren wir? fragte ich, ach, antwortete sie, nicht mehr als eine Stunde, bist Du einverstanden, habe ich Dich überzeugt?, ja, sagte ich, ich bin gespannt, sie hatte wieder dieses Stürmische, Drängende und diese große Begeisterung, die ich schon an ihr kannte.
Sie ging, den Wagen zu holen, ich blieb sitzen und wartete auf sie, die ganze Zeit ging mir die eine, entscheidende Frage nicht aus dem Kopf, Franca, wie soll es weitergehen?, angeblich hatte sie sich ja etwas dazu überlegt, ich hätte so gerne gewusst, was sie sich dazu gedacht hatte, vielleicht hätte es mich ruhiger und entschiedener gemacht, der frühe Morgen eignete sich allerdings nicht für solche Themen, im Laufe des Tages würde sich vielleicht eher ein Moment ergeben, diese Frage zu stellen.
Dann sah ich sie plötzlich im Wagen, sie war mit ihm nahe an die Piazza herangefahren, ich ging zu ihr und setzte mich neben sie auf den Beifahrersitz, sie sagte nichts, sie lächelte nur, als hätten wir etwas Verbotenes, Gefährliches vor und machten uns trotzdem, wider besseres Wissen, auf den Weg. Ich habe mit meinem Vater telefoniert, sagte sie nach einem Stück Fahrt, er wird heute Abend nach San Benedetto kommen, das hat mich sehr überrascht. Kommt er Dich selten besuchen? fragte ich, nein, das nicht, sagte sie, er kommt etwa einmal im Monat, aber nach langer, vorheriger Ankündigung, er will, dass meine Wohnung ordentlich ist, wenn er kommt, ein kleines Gästezimmer ist extra für ihn eingerichtet. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass er kommt, sagte ich, schließlich hat er gestern eine nicht ganz unwichtige Nachricht erhalten, vielleicht will er mehr und Genaueres von Dir wissen. Solche raschen Entschlüsse sind aber gar nicht seine Art, sagte sie, er mag Menschen nicht, die in Eile sind oder durchs Leben hasten, selbst in der Oper kann er es nicht ausstehen, Massenauftritte und große Aktionen findet er eine Qual, er hat die Pescatori di perle schon mehrmals kurz vor dem Ende verlassen, weil er den melodramatischen, hektischen Schluss nicht erträgt. Von den Pescatori di perle hat mir vor kurzem schon einmal jemand erzählt, sagte ich, immer wieder begegne ich dieser Oper, ich habe sie auch einmal gesehen, ich kann mich aber nicht mehr genau daran erinnern. Me poila seule, sagte sie, diese Arie hat die Callas oft gesungen, mein Vater hört sie beinahe jeden Sonntagmorgen, er sitzt in seinem Musikzimmer, liest eine Zeitung, trinkt einen Aperitif und hört me poila seule, als ich eben anrief, war er kurz davor, ich habe ihn sogar darauf angesprochen, gleich kommt me voila seule habe ich zu ihm gesagt, und er sagte, schade, dass wir es nicht zusammen hören können. Bis zum Mittag trinkt er zwei oder sogar drei Martini, dann geht er ins Zimmer meiner Mutter hinüber und fragt sie, ob sie mit ihm essen gehen wolle, er fragt sie ganz ernsthaft, es hört sich an, als wäre er gerade auf diesen Gedanken gekommen, Liebes, sagt er, was hältst Du davon, wollen wir heute nicht essen gehen, sie blickt von ihrer Lektüre auf und sagt, das ist ein sehr guter Gedanke, sie kleiden sich an und gehen los, dabei hat Vater schon seit Tagen einen Tisch reserviert, sie essen jeden Sonntag woanders. Du denkst jetzt vielleicht, endlich einmal ein älteres Paar, das sich gut versteht, sagte sie weiter, das ist aber nicht so, sie verstehen sich nicht gut, gerade deshalb halten sie sich oft ja an ganz starre Regeln, wegen des Sonntagmorgens habe ich sie immer beneidet, dieses Sitzen für sich, dieses ruhige Lesen und dann dieser gemeinsame Aufbruch - das hielt ich als junges Mädchen für die Ehe, die Ehe stellte ich mir nämlich sehr schön vor, immer eine Zeitlang für sich und dann wieder eine Zeitlang zusammen, genau in einem solchen Rhythmus stellte ich mir die Ehe vor, wie ein fein abgestimmtes Duett, ruhig, harmonisch. Gehen sie auch heute Mittag zusammen essen? fragte ich, nein, sagte sie, meine Mutter geht heute mit einer Freundin, mein Vater aber will am Abend mit mir essen gehen, ich habe kurz darüber nachgedacht, ob Du mitkommen sollst, nein, sagte ich, bitte nicht, erst gestern habe ich mich einer anstrengenden Prüfung unterzogen, Vater ist nicht anstrengend, sagte sie, überhaupt nicht, er hat übrigens selbst vorgeschlagen, dass Du mit zum Essen kommst, wenn Du ihn mitbringen willst, bringst Du ihn mit, hat er gesagt, wenn nicht, dann eben nicht, diese Art von Rhetorik macht ihm manchmal Vergnügen, er nennt sie Opern-Rhetorik und bringt meine Mutter damit oft zur Verzweiflung.
Wir hatten Ascoli längst verlassen und fuhren den Tronto entlang, die Straße, die angeblich direkt nach Rom führte, war nicht sehr breit und an diesem Sonntagmorgen auch kaum befahren, sie wand sich durch eine nur leicht gebirgige Landschaft, wir zweigten schließlich von ihr ab und fuhren in Serpentinen langsam bergauf, die Landschaft verwandelte sich allmählich, die sanft geschwungenen grünen Hügel der Marken verschwanden, auch Felder und Weinberge gab es nicht mehr, dafür wurde das Land weit, es öffnete sich nach allen Seiten hin zu der kaum noch überschaubaren Hochebene des Piano Grande, heißt sie so? fragte ich Franca, hat sie wirklich diesen feierlich-dunklen Namen, ja, antwortete sie, Piano Grande, sie war beinahe vollständig kahl, eine große, kaum noch geschwungene, nur an den entfernten Rändern hoch ansteigende einsame Fläche, die so wirkte, als habe sie niemals ein Mensch betreten.
Ich war so überrascht, dass ich Franca zu halten bat, wir stiegen aus und gingen etwas die nicht mehr markierte Straße entlang, die Sonne hatte die Ebene ausgebleicht, nur wenige Farben waren noch übriggeblieben, ein pastoses Braun und ein schwaches Violett über den Feldern mit Silberdisteln, ganz selten nur brach das Tiefbraun eines Ackers hervor, ein exakt gezogenes Trapez oder ein Parallelogramm, wie eine ästhetische Andeutung in die fast monochrome Umgebung gesetzt, ein ferner Bergrücken, durch-zogen von der weißen Spur einer waagrecht verlaufenden, einzelnen Straße, sah aus wie in einen dichten blassen Pelz eingeschlagen, es war die Gegenwelt zu den Tiefenfarben des Meeres, und ihr Reiz bestand in der Leere, zu der die plötzliche Stille gehörte, nur der Wind fuhr wie ein nie aufhörender, alles Störende wegfegender Atem über das Land.
Ich blieb schließlich stehen, mein Herz klopfte, ich sah Franca weitergehen, sie schien schon bald so weit entfernt, als kämen wir so schnell nicht mehr zusammen, natürlich war es nur eine Täuschung, die Weite der Landschaft zog alles auseinander, verkleinerte es und versteckte es dann in der Blässe der Farben. Ganz in der Ferne aber war auf einem grau-weißen Kegel so etwas wie eine Ortschaft zu erkennen, zumindest einige Häuser konnten das sein, was ich dort sah, mein Auge heftete sich richtiggehend an diesen fernen Anblick, weil er als einziges in diesem weiten Bild noch an Menschen erinnerte.
Von diesem Ort, sagte Franca, als sie wieder zurück war und ebenfalls hinaufschaute, habe ich in dieser Nacht geträumt, ich sagte, los, fahren wir hin, ich muss es unbedingt sehen, siehst Du, sagte sie, es ist wie eine Droge, es verändert die Wahrnehmung, wenn man hier ein paar Tage bleibt, fährt man für Wochen nicht fort, man igelt sich ein, man möchte in dieser Leere verschwinden, viele Drachenflieger fahren übrigens hinauf und gleiten von dort hinunter ins Tal, es ist ein fast irre machender Reiz, denn das Überfliegen dieses Plateaus verschafft Dir wirklich die Illusion, über einen anderen Planeten zu gleiten.
Wir fuhren weiter und erreichten nach kaum zehn Minuten den kleinen Ort, es handelte sich aber eher um eine bloße Ansammlung von einigen Wänden, ins Nichts verlaufenden Treppen und wenigen Häusern, manche hatten kein Dach mehr und standen offen wie zerborstene Gerippe, in einem kleinen Laden wurden lauter Winter-Postkarten verkauft, die hohen Wälle von Schnee überragten die Mauern oder bedeckten sie mit bizarren Mänteln und Kragen, zum Teil war alles unter den Massen versunken, kaum ein Mensch schien sich im Winter hier oben aufzuhalten.
Das Sonderbarste aber waren die frei stehenden, von der Witterung längst gebleichten, kurz vor dem Zerfall stehenden Mauern, die mit weißen, prunkenden Schriftzeichen bedeckt waren, sie begannen wie auf rarem Pergament ganz oben links und schmückten in engen Zeilen die Mauern dann lückenlos, es waren Gedichte oder eine Art hymnischer Prosa, es gab Sonnengesänge und Schneegedichte, ein Gedicht auf den Käse und solche mit dem Lob wohlschmeckender Linsen, die meisten aber waren Liebesgedichte, ein Schriftgestöber über die Liebe, Liebesregeln und Liebeszauber, Schriftlese, dachte ich, Linsenlest.
Manchmal öffnete sich hier oder da eine Tür, und jemand trat kurz heraus, sonst aber war es menschenleer, wir waren die einzigen Fremden, in einer winzigen, holzgetäfelten Stube, die wie eine Skihütte wirkte, aßen wir gegen Mittag ein Linsengericht mit etwas Brot, dann ließen wir uns eine Decke geben und gingen mit ihr den Höhenkamm des Ortes hinauf, auf seiner Spitze waren die Häuser längst in sich zusammengebrochen, die Schneelast und die Unwetter hatten sie Stück für Stück auseinandergenommen, wir gingen stumm durch die grauen Kulissen, auch hier waren die meisten Wände mit den Buchstaben und anderen Schriftzeichen bedeckt, die Liebesgesänge wirkten in der Abgeschiedenheit besonders festlich und hatten einen geradezu hymnischen Ton, es sah aus, als hätten schwere Himmelshände ungelenk diese Texte geschrieben und als wären die Bewohner vor dem Anspruch dieser Gesänge in die Täler geflüchtet.
Mitten in einem zum Himmel hin offenen Raum mit solch engbeschriebenen Wänden breiteten wir die Decke aus, wir legten uns in die mittägliche, stark scheinende Sonne, deren Wärme man wegen des immerzu wehenden leichten Windes auf der Haut anfangs kaum spürte, in sehr großer Höhe kreisten einige schwarze Vogel, weiße Streifen durchzogen das Blau, ich hatte das Empfinden, von der übrigen Welt völlig entrückt zu sein. Wir schmiegten uns dicht aneinander, Franca rollte sich gegen meine rechte Seite und legte ihren Kopf auf meine Brust, ich hielt sie ganz eng, wir lagen wie festgeschnürt oder zusammengewachsen, aus Vorzeiten übriggebliebene Menschengebilde in diesem sonst kahlen Raum, wir schlössen die Augen, Franca flüsterte noch eine Weile und erzählte von ihren früheren Aufenthalten hier
oben, ich bekam die Gesänge und anderen Texte nicht aus dem Kopf, noch mit geschlossenen Augen sah ich die weißen Großbuchstaben leuchten und wie flatternde Schriftbanner vor dem Himmelsblau tanzen, Piano Grande, dachte ich, Piano Grande war eine weitere Liebes-Vokabel, sie ließ sich gut mit sarazenisch und den anderen Vokabeln verbinden, ich dachte an einen eigenen, aus solchen Vokabeln zusammengefügten Gesang oder an einen Hymnus nach dem Vorbild der Mauerlieder, sie waren einfach wie Volkspoesie und hatten etwas Stolzes, Schweres, hol mich zu Dir, wir wollen jubeln und um aneinander freuen ..., so hatte eines begonnen, schön bist Du, meine Freundin, so schön, meine Linke liegt unter Deinem Haupt, meine Rechte umfängt Dieb, weckt nicht auf und stört nicht die Liebe, bis es ihr selber gefällt ..., ich wusste nicht mehr, hatte ich das nun gelesen, oder sang es in mir, die Verse schienen aus einem einzigen Wortquell zu sprudeln, sie vermehrten sich unaufhörlich, ich hörte dem Gesang zu, ich sah die Worte verschwimmen und als fernes Weiß im Blau des Himmels vergehen, ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir, dann schliefen wir ein.

#26 
regrem патриот17.02.16 18:35
NEW 17.02.16 18:35 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:19 (regrem)
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AM FRÜHEN Nachmittag fuhren wir zurück, wir waren sehr schweigsam, in der Nähe von Ascoli bogen wir auf ein kurzes Autobahnstück zur Küste hinein, wir wollten jetzt nicht mehr langsam fahren, sondern rasch wieder ans Meer gelangen. Wir werden uns heute Abend nicht sehen, sagte sie, nein, erwiderte ich, ich werde den Abend allein verbringen, es ist der vorletzte. Ich weiß, sagte sie, jetzt läuft uns die Zeit davon, in zwei Tagen werde ich allein mit dem Fahrrad ins Institut fahren, und Du wirst auf dem Weg nach München sein. Ich habe es den ganzen Tag vermieden, darauf zu sprechen zu kommen, sagte ich, ich werde Dir morgen Abend sagen, was ich mir überlegt habe, antwortete sie, morgen Abend, nicht heute, ich möchte erst mit meinem Vater darüber sprechen. Brauchst Du seinen Rat? fragte ich, nein, sagte sie, ich will ihm nur erzählen, was ich vorhabe, ihm als erstem, ich muss es ihm erzählt haben, um ganz sicher zu sein. Und wenn er Dir widerspricht? fragte ich, er wird mir nicht widersprechen, sagte sie, ich erzähle ihm die Zukunft wie eine Geschichte, die längst begonnen hat. Wo werdet ihr zum Essen hingehen? fragte ich, vielleicht ist es besser, wenn ich es weiß, damit ich Euch nicht über den Weg laufe. Neben meiner Wohnung ist ein kleines Lokal, sagte sie, dort essen wir oft, es ist eine ganz einfache Trattoria, wir wollen uns in Ruhe unterhalten, das Essen ist nicht von großer Bedeutung. Ich weiß nicht, wo Du wohnst, sagte ich, ich weiß es wirklich nicht, Gianni Alberti wollte nicht glauben, dass ich es nicht weiß, er sagte, er habe zu hören bekommen, ich sei schon in Deiner Wohnung gewesen. Morgen Abend bist Du aber wirklich dort, ja? fragte sie, den letzten Abend übernachtest Du bei mir, ja, Dottoressa, sagte ich, den letzten Abend verbringen wir zusammen in Ihrer Wohnung.
Wir verabredeten, am nächsten Morgen zu einer bestimmten Zeit miteinander zu telefonieren, sie gab mir eine Visitenkarte mit der Adresse ihrer Wohnung, dann setzte sie mich in der Nähe meines Hotels ab. Ich überlegte, ob ich an den Strand gehen sollte, ich hatte plötzlich mit einer penetranten Melancholie zu kämpfen, dann ging ich aber nur zu der kleinen Strandbar und bestellte mir dort einen Kaffee. Das sonntägliche Strandleben war im Gang, ich wollte es mir nicht anschauen, ich trank den Kaffee rasch aus, als ich Antonio, den Museumswärter, erkannte, der sich in gar nicht weiter Entfernung anscheinend mit einem Bekannten unterhielt. Ich schaute noch etwas länger hin, es war ein unverfängliches, harmloses Bild, und doch kam es mir so vor, als stehe er hier, um auf mich zu warten und meine Ankunft zu melden. Ich bestellte noch ein Glas Wasser, ich tat so, als wäre ich vollkommen gelassen und genieße ein paar harmlose Freuden, dann schlenderte ich über den Boulevard hinüber zu meinem Hotel.
Als ich mich umdrehte, war Antonio nicht mehr zu sehen, einen Moment spürte ich so etwas wie Panik, vielleicht bildete ich mir alles nur ein, vielleicht hatte es aber auch etwas zu bedeuten, ich eilte durch das Foyer, ich hatte keine Lust, Carlo zu begegnen und ihn mit Geschichten zu unterhalten, daher war ich erleichtert, als ich bemerkte, dass die Hotelrezeption nicht besetzt war. Ich ging hinauf zu meinem Zimmer, als ich die Tür aufschloss, quoll mir der Fäulnisgeruch der immer noch auf dem Teller liegenden Feigen entgegen, sie hatten schon zu gären begonnen, ihre Haut war geplatzt, der dicke Saft sickerte wie Sirup heraus und bildete eine glänzende Lache. Ich ging ins Bad und schaute kurz in den Spiegel, ich erkannte mich beinahe nicht wieder, so braun war ich geworden, es war eine dunkle, kräftige Bräune, ich beschloss, mich sofort zu rasieren, ich trank noch mehr Wasser, langsam wurde ich wieder ruhiger, auch der Anfall von Melancholie war vorüber. Ich legte mich auf das Bett und starrte an die Decke, unter ihr war ein kleiner Fernseher angebracht, er erinnerte mich an die Arbeit, ich wollte zumindest den morgigen Vormittag noch für Recherchen im Hafengebiet nutzen, dann rief ich die Rezeption an und fragte, ob ich im Hotel zu Abend essen könne. Sind Sie es? hörte ich Carlo fragen, sind Sie es wirklich?, ja, sagte ich, ich erzähle Ihnen alles Nähere später, gehen Sie heute Abend nicht aus, ohne mit mir gesprochen zu haben, sagte er, ich habe mir schon überlegt, ob ich Ihnen ein anderes Hotelzimmer geben soll, was soll denn der Unsinn? sagte ich, Sie sind in Gefahr, sagte er, Sie ahnen nicht, wie sehr Sie in Gefahr sind. Ich möchte bei Ihnen zu Abend essen, sagte ich, ist das nun möglich, oder ist es das nicht? Wir erwarten Sie in genau einer Stunde, es ist uns eine Ehre, sagte er, gut, antwortete ich, ich bin pünktlich.
Ich rasierte und duschte mich, ich packte meinen Rucksack aus und legte die Geräte auf einen Tisch, dann holte ich mein schwarzes Notizbuch hervor, setzte mich auf den Balkon, betrachtete noch eine Weile die frühabendlichen Farben des Meeres und schrieb: Ich habe alle Lust an den theatralischen, geselligen Orten verloren, am liebsten wäre ich nur mit ihr allein, so wie am gestrigen Abend, ah uns alles zu viel war, das Geschwätz auf den Straßen, die Musik, das unaufhörliche Ziehen von einem Ort der Unterhaltung zum anderen. Das Alleinsein, das Flüstern, das Bett, die Liebe - und die anderen weit draußen, in ihrem albernen jenseits von weitschweifigen Gesprächen ... Leider aber ist sie heute Abend für mich unerreichbar, ich kann ihr keinen Vorwurf machen, sie trifft sich mit ihrem Vater und. beherbergt ihn
für eine Nacht, trotzdem bin ich enttäuscht, denn die Zeit ist sehr kostbar geworden. Ich habe keine Ahnung, wie ich diesen Abend allein verbringen könnte, ohne sie bin ich vollkommen lustlos und leer, jetzt, wo ich sie nicht in meiner Nähe spüre, fühle ich mich abgetrennt, reglos, eine herumzappelnde, amorphe Gestalt wie die Kleinturbellarien und Sand Hüpfer, die ich unter dem Mikroskop sah. Soll ich ausgehen? Ich wüsste nicht, wohin, soll ich mich noch einmal unter die abendlichen Flaneure mischen oder mich mittreiben lassen in der passeggiata? Ich will versuchen, diesen Abend zu überstehen, vielleicht werde ich mich in den Schlaf flüchten, um die Unwirklichkeit der Verhältnisse ringsum nicht laufend spüren und ertragen zu müssen. Am liebsten schriebe ich ihr einen Brief, Liebe, ich denke an Dich, ich würde ihr vom Alleinsein erzählen und der darin aufkeimenden Sehnsucht, mit jedem Satz aber würde ich nur die Litanei der Beschwörung fortsetzen, wie ich sie auf den grauen Mauern des entrückten Ortes gesehen habe: Liebe, ich denke an Dich ..., Liebe, ich denke an Dich ..., sarazenischer Hymnus, piano grande.

#27 
regrem патриот17.02.16 18:36
NEW 17.02.16 18:36 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:21 (regrem)
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27.1

ICH HATTE etwas lustlos zu Abend gegessen, das ältere Paar am Nebentisch war längst abgereist, ich hatte in einer Zeitung geblättert und mich weiter in meinen Grübeleien verloren. Carlo setzte sich zu mir an den Tisch, haben Sie heute Abend schon etwas vor? fragte er, ich denke noch darüber nach, sagte ich, ich rate Ihnen dringend, sagte er, diesen Abend im Hotel zu verbringen, das Hotel wird bereits seit heute Morgen beobachtet. Beobachtet? Von wem? fragte ich, es handelt sich um Leute, die mit dem Museum zu tun haben, sagte er, die meisten sind Bekannte, einige sogar entfernte Verwandte von Dottore Alberti, sie halten sich schon den ganzen Tag in der Strandbar auf. Und was wollen sie? fragte ich, sie werden herauszubringen versuchen, wann Sie im Hotel sind und wohin Sie -gehen, sie sammeln Beweise. Beweise wofür? fragte ich, Beweise, sagte er, ganz einfach Beweise, die man dann für irgendeinen Zweck verwenden kann. Und deshalb soll ich mich vorsehen, deshalb soll ich mich in meinem Hotelzimmer verstecken? fragte ich, mein Gott, antwortete er, unter diesen Menschen könnte es auch einen geben, dem das nicht genügt, irgendeiner von ihnen, vielleicht ein junger Bursche, der sich an einem Sonntag etwas langweilt, könnte auf andere Gedanken kommen, er könnte Ihnen zum Beispiel zu nahe treten, er könnte Streit suchen, eine Auseinandersetzung provozieren, es gibt da sehr viele Möglichkeiten.

27.2

Carlo, sagte ich, Sie übertreiben ja noch mehr, als es in den Pescatori dt perle erlaubt ist, ich denke nicht daran, mich auf Grund solcher phantastischer Warnungen zurückzuhalten. Bitte, sagte er, wie Sie wollen, ich habe Sie ausdrücklich gewarnt, ich werde einen Spaziergang machen, sagte ich, den süßen Abend genießen, tun Sie es nicht! sagte er noch einmal und diesmal beschwörend, ich trinke gerne etwas mit Ihnen zusammen, wenn Sie hier im Hotel Gesellschaft brauchen. Haben Sie noch einmal einen kleinen Stadtplan für mich? fragte ich, was wollen Sie wissen? sagte er, ich will herausbekommen, wo die Signora wohnt, antwortete ich, hier, sagte er, hier ist der Stadtplan, Sie laufen geradewegs in Ihr Verderben! Ich steckte den kleinen Plan ein und ging los, Carlo begleitete mich noch bis zum Eingangstor, ich hatte plötzlich sogar wirklich Lust, den breiten Boulevard am Strand wieder entlangzugehen, er war viel voller als sonst, es herrschte der übliche laute Sonntagabendbetrieb, die Vorgärten der Hotels waren erleuchtet, überall standen Menschen in reger Unterhaltung, auf den Tennisplätzen wurde im schwachen Flutlicht gespielt, selbst die Bocciabahnen waren noch in Betrieb. Ich durchstreifte diese Terrains, ich blieb nirgends lange, ich schaute mir ruhig all diese Betriebsamkeit an, sogar auf den Spielplätzen wurde es immer lauter, ein Karussell kreiste zum schnarrenden Gesang eines bunten Harlekins, kleine Pferdekutschen zogen, schwer mit Kindertrauben beladen, durch ein Pinienwäldchen, die Kinder schrien jedes Mal auf und jubelten, wenn sie an ihren Eltern vorbeifuhren.
Ich setzte mich auf eine Bank oder stellte mich für ein kühles Bier an die Theke einer Bar, ich registrierte beinahe übergenau, was ich sah, ich begann, um nicht dauernd an Franca zu denken, Notizen zu machen, ich spielte mir die Rolle eines Mannes vor, der eifrig recherchierte. Ich hätte es bei Stichworten bewenden lassen können, Stichworte aber genügten mir nicht, ich wollte so etwas wie Präzision, Klarheit, ja sogar Schönheit, eine exakte, anschauliche Schrift, die das Gesehene nicht nur streifte, sondern vor dem inneren Auge noch einmal entstehen ließ. Ich schrieb, ich korrigierte, ich feilte an einzelnen Wendungen und baute Satzteile um, die leeren, weißen Plastik-Stuhlreihen vor der Großleinwand im Freien, wie starre Pinguine, die die Flügelstummel zu Boden strecken ..., der abendliche 'Lichteinfall auf den Kiesflächen der Spielplätze, der die sf irrigen Paare der Piniennadeln zu braunen Wellen hau ter denen die weißen Kiesel wie ferne Muscheln aufschimmern ..., die Bückbewegungen der Bocciasfpieler, die eine herumliegende Boccia-Kugel mit einer Hand auffischen und sie dann in der leicht geöffneten Hand ruhen lassen, während die Boccia-Spielerinnen die Kugel mit der Hand umschließen, sie abtasten und drehen, als arbeiteten sie an einem Teig ..., es machte mir immer mehr Vergnügen, solche Beobachtungen festzuhalten, am liebsten hätte ich noch weiter ausgeholt, die eine Beobachtung mit der nächsten zu verbinden, das würde dann, dachte ich plötzlich, eine Erzählung der letzten Tage ergeben, und auf diese Weise entstünde am Ende vielleicht sogar ein Roman. Eher in metaphorischem Überschwang hatte ich Gianni Alberti gegenüber erklärt, dass Franca und ich an einem Roman schrieben, was aber wäre, wenn ich eine solche Wendung wörtlich nehmen und mit dem wirklichen Schreiben beginnen würde?
Plötzlich das Meer, ganz nah, dachte ich, so müsste dieser Roman anfangen, mit der ersten, mir in Erinnerung gebliebenen Beobachtung, plötzlich das Meer, ganz nah, das wäre mein erster Satz, ich murmelte ihn vor mich hin, er elektrisierte mich, so ein Einstieg war etwas anderes als die spröden Ein-stiege meines bisherigen Textern. Beim Texten hatte ich Kommentare zu Bildern geschrieben, am besten funktionierte so etwas als beiläufiges Sprechen, als nur schwach wahrgenommene Bildfolie oder als Bilduntergrund, der sich nicht aufdrängen und nicht von den Bildern ablenken durfte, das Texten war jedenfalls nie Erzählung geworden, die Poesie war immer den Bildern vorbehalten geblieben und hatte im Text nichts zu suchen gehabt. Während des Studiums hatte ich noch zu meinem Vergnügen Texte über Bilder geschrieben, ich hatte mich in einem Museum mit dem Fernglas vor ein Bild gesetzt und es Detail für Detail studiert, ich war vom Bildganzen, einem Stoff, einem Motiv, einem Thema, zu den Einzelheiten übergegangen, das war meine Methode gewesen, ein Bild zu kopieren. Ich hatte solche Schriftkopien aus Mangel an Zeichentalent angefertigt, ich hatte sie niemandem gezeigt und zu Hunderten in einer Zeichen-mappe gesammelt, erst während meines Praktikums beim Sender hatte ich mich wieder an sie erinnert. Kameramänner wie Rudolf hatten sich damals über meinen Bild-Blick gewundert, ist das ein Bild? hatte Rudolf zum Spaß und zur Übung immer wieder gefragt, ich hatte verstanden, dass es darauf ankam, einen sicheren Blick für ein gutes Film-Bild zu entwickeln, genau darin hatte ich die Verbindung zwischen meinem Studium und meinem späteren Beruf dann gesehen, aus einem hilflosen Bilder-Süchtigen, der nicht zeichnen, wohl aber mit Worten umgehen konnte, war schließlich ein Sammler von Bildern geworden, der gute Bilder entdeckte, sich aber mit spröden und sachlichen Kommentaren zurückhielt. Plötzlich das Meer, ganz nah ..., dachte ich, so ein Einstieg wäre für Dich etwas Neues, vielleicht wäre es sogar ein Einstieg in einen Roman ganz aus Bildern.
Als es dunkelte, näherte ich mich immer mehr der Gegend, in der Franca wohnen musste, es war ein höher gelegenes, älteres Terrain der Stadt, eine sehr kleine und unscheinbare Altstadt mit einem Befestigungsturm und den Resten einer mittelalterlichen Stadtmauer, die Gassen waren dunkel und schmal und eigneten sich nicht für den Verkehr, es roch kühl, feucht, wie in sehr tief liegenden Kellern. Ich erreichte einen ovalen, ringsum von Häusern umschlossenen Platz, eine Trattoria hatte dort einige Tische und Bänke gruppiert, am Rande des Platzes, noch im Dunkel einer Gasse, hielt ich ein, als ich Franca mit ihrem Vater erkannte. Vater und Tochter beim Abendessen, in angeregtem Gespräch ..., dachte ich beinahe zwanghaft, ihr Vater sprach, er wirkte viel jünger, als ich es mir vorgestellt hatte, er war ein schlanker, mittelgroßer Mann mit sehr schönen feingliedrigen Händen, er machte einen angenehm konzentrierten Eindruck, er schaute Franca immerzu an, während er sprach, er gestikulierte kaum, aus der Entfernung hörte sich sein Reden ruhig an, wegen der Vertrautheit, die die beiden ausstrahlten, hätte man sogar denken können, sie seien ein Paar. Franca trug das grüne Kleid, das sie bei unserer ersten Begegnung getragen hatte, ich hatte dieses Kleid sofort im Blick, es erschien mir wie ein geheimes Zeichen, das nur wir beide verstanden, als verbinde dieses Kleid mich mit ihr oder als säße sie eigentlich jetzt mit mir zusammen.
Ich wartete noch einen Moment, ich fand, es gehörte sich nicht, dass ich die beiden beobachtete, ich wartete nur, bis ich mir das Bild genau eingeprägt hatte, das Grün ihres Kleides, das das Rotblond der Haare aufscheinen lässt wie einen Flammenstreifen ..., ihre Finger, schmaler und noch feiner als die ihres Vaters, in deren Nähe sie etwas Marionettenhaftes bekommen, als würden sie von denen des Vaters unmerklich geführt und gelenkt..., die flachen Schuhe, die beide tragen und die, aufeinander verweisend, wie Schuhe für ein späteres gemeinsames Tanzen erscheinen ..., der goldene Ring ihres Vaters am kleinen Finger der Rechten, als habe er ihn eigens für dieses Gespräch aus einem Schatzkästlein gefischt ..., als ich genug gesehen hatte, schlich ich davon. Ich war froh, die beiden gesehen zu haben, ich konnte mir die Szene jetzt genau vorstellen, ich fühlte mich sogar etwas mit einbezogen, der schweigende Dritte im Gespräch, vielleicht sprachen sie ja sogar von mir.
Plötzlich war ich ganz ruhig, ich ging, ohne noch irgendwo einen Halt einzulegen, zurück zum Hotel, ich hatte gesehen, was ich hatte sehen wollen. Der Vorhof des Hotels war noch hell erleuchtet, von der Strandbar drang Musik herüber, Carlo saß mit einigen Gästen in der Nähe der Tür, er gab mir ein Zeichen, einen Moment auf ihn zu warten, führte seine Unterhaltung zu Ende und kam dann zu mir. Trinken wir etwas zusammen? fragte er, haben Sie Lust?, ich nickte, ja, jetzt hatte ich wieder Lust, ich hatte das Bild von Vater und Tochter noch immer im Kopf, ich war damit verbunden, selbst das lästige, aufdringliche Leben ringsum war jetzt wieder genießbar. Carlo verschwand und kam mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern zurück, setzen wir uns, sagte er, ich habe eine Nachricht für Sie, er erweckte wieder den Eindruck, als handle es sich um dramatische Neuigkeiten, dann sagte er aber nur, der Vater der Dottoressa hat sich bei mir gemeldet, er lässt anfragen, ob Sie ihm morgen gegen fünfzehn Uhr für eine halbe Stunde zur Verfügung stehen würden. Ich schaute ihn an, ich musste grinsen, was ist? fragte Carlo, wollen Sie der Sache lieber aus dem Weg gehen?, im Gegenteil, antwortete ich, ich stehe ihm, wann immer er es wünscht, zur Verfügung, übrigens habe ich die beiden gesehen, sie essen zusammen zu Abend, auf dem kleinen Altstadtplatz in der Nähe des mittelalterlichen Turms.
Carlo schenkte den Wein ein, wir stießen mit unseren Gläsern an, ich fühlte mich müde, aber gelassen und sicher, ich hörte Carlo gern zu, der plötzlich wieder zu erzählen begann, Vater und Tochter ..., man sah sie früher sehr häufig zusammen, sie gingen zusammen aus, man sah sie in den Cafés und bei Veranstaltungen, man hatte sich an diesen Anblick gewöhnt, sie kamen zu zweit, sie mischten sich unter die Leute, manchmal bekam man sogar mit, wie sie sich unterhielten, sie sprachen überhaupt nicht wie Vater und Tochter, auch nicht wie Mann und Frau, sondern ..., wie?, ja wie soll ich es nennen? ..., wie ein eingespieltes Paar, das sich die Bälle zupasst..., sagte ich, ja, sagte er, genauso, manchmal sah man sie davonziehen, er sprach, sie unterbrach ihn, er sprach wieder, sie unterbrach, sie unterhielten sich ununterbrochen, es machte ihnen anscheinend großen Spaß, immer neue Ideen und Vermutungen auszutauschen, können Sie sich das vorstellen? fragte Carlo und schaute mich so neugierig an, als habe er gerade eine interessante Partie Schach eröffnet, ja, sagte ich, ganz genau, ich kann es mir ganz genau vorstellen..

#28 
regrem патриот17.02.16 18:36
NEW 17.02.16 18:36 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:22 (regrem)
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Es IST KURZ nach Eins, jetzt ist keine Musik mehr zu hören, am Strand ist es still geworden, langsam gehen die Lichter aus. Es ist der letzte Abend, den ich allein hier verbringe, morgen Abend werde ich mit Franca Zusammensein, vor einer halben Stunde bin ich noch einmal hinunter ans Meer gegangen, ich hatte es gar nicht vor, dann aber lockte mich die tiefe Schwärze und das gedämpfte Murmeln der Wellen, das wieder gut zu hören war, ah die Musik allmählich verebbte. Ich stand eine Weile am Meer und schaute hin-aus in die Ferne, nichts war mehr zu erkennen, nichts regte sich, ich sah ein einfaches, abstraktes Bild, eine schimmernde Gerade durchschnitt den Horizont, ich war beinahe enttäuscht, als hätte ich wirklich eine Art Zeichen erwartet. Ich sagte mir, dass ich Lust hätte, etwas ganz Kormales zu tun, ich möchte am Meer stehen und aufs Meer schauen, ich möchte am Meer entlanggehen und einige Fundstücke aufheben, immer wieder kommt es mir aber so vor, ah fände ich nicht mehr zurück zur Normalität, ah stünde ich unter einem Beobachtungszwang und ah drehte sich alles nur um die Liebe, um diese herrisch-starke Empfindung, die sich einem auf die Brust legt und einen zwingt, anders zu fühlen. In der zurückliegenden Woche habe ich ein weites Terrain erkundet, ich bin viele Kilometer gelaufen und auch gefahren, und doch scheint es mir so, ah sei die Welt draußen immer mehr zu einem Teil meines Inneren geworden, ich nehme überall nur die Spuren einer Verwandlung wahr, in kaum einer Woche bin ich ein anderer geworden, die Bilder der Welt haben mich heimgesucht ah Bilder der Liebe, sie haben sich in mir ausgedehnt, jetzt bin ich infiziert und kann sie nur bändigen, indem ich sie beschreibe, indem ich sie Stück für Stück präpariere, erstarren lasse und langsam abtöte, dann erst wird die innere Unruhe vielleicht verschwinden, und ich werde ganz frei sein für die Liebe. Der schillernde Küstenstreifen, ich sehe ihn jetzt zum letzten Mal, die Farben sind blass geworden, das milchige Grün der letzten Lampen mischt sich mit einem zerfließenden Rot, nur die goldgelben Lichter bleiben ah klare Signale zurück, winzige Nervenketten der Nacht.

#29 
regrem патриот17.02.16 18:36
NEW 17.02.16 18:36 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:23 (regrem)
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AM NÄCHSTEN Morgen machte ich mich nach dem Frühstück auf den Weg in den Hafen, ich hatte meine Arbeit ein wenig vernachlässigt, ich hielt mich an, die verbleibende Zeit noch zu nutzen, ich wollte mich im Hafen umsehen und dort auch einige Aufnahmen machen. Das Wetter war nicht so gut wie an den vergangenen Tagen, die Wolken lagen graublau und sehr niedrig über dem ruhigen Meer, in der Hafengegend schwebten einige als weiße, zerzupfte Ballen am Horizont. Ich begann gleich zu filmen, ich betrat die Großmarkthalle der Fischer mit ihren nach den Seiten hin ansteigenden Sitzreihen für die Fischauktionen, ich streifte zwischen den Lagerhallen umher, wo die mit glänzenden Fischleibern gefüllten Holzkisten vor sich hin tropften, und ich schaute mir die kleinen Läden an, in denen die schweren Netze, zu großen Türmen gestapelt, lagerten.
Während ich mich umsah, wusste ich mich aber in Francas Nähe, ihr Büro und ihr Institut waren nur wenige Meter entfernt, ich dachte an sie, das abendliche Bild von Vater und Tochter tauchte wieder auf, schließlich wählte ich ihre Nummer, sie meldete sich auch sofort, wir unterhielten uns sachlich und kurz, ich bemerkte, dass sie nicht sprechen konnte, wie sie wollte, das Treffen mit ihrem Vater erwähnte sie nicht, auch ich sprach nicht davon, wir verabredeten uns für den frühen Abend in ihrer Wohnung, trotz des spröden Gesprächs freute ich mich und fühlte mich hinterher so belebt, als habe mir die Unterhaltung frischen Schwung für die eigene Arbeit verschafft.
Ich streunte weiter durch das Hafengelände, ich hatte noch kein Wort mit einem der Fischer gewechselt, die meisten Boote waren auf dem Meer, nur aus zwei kleineren wurde der frische Fang ausgeladen, die mit Fischen gefüllten Kisten wurden mit zerstoßenem Eis eingedeckt und auf große, aber wendige Laster geschoben. Ich postierte mich nahe der Kaimauer, ich filmte das rasche, unermüdliche Ausladen, bei dem gleich drei Männer die Kisten von Hand zu Hand gehen ließen, ich ging näher heran und filmte sie aus ganz geringer Distanz, sie lachten und begannen, der Arbeit etwas Spielerisches, Leichtes zu verleihen, schließlich flogen und hüpften die Kisten von einem zum ändern. Sie hatten zu viel zu tun, für eine Unterhaltung hatten sie gewiss keine Zeit, deshalb wollte ich weitergehen, als mich ein älterer Fischer, der sich von einem anderen Schiff her näherte, ansprach. Er fragte mich, warum ich das Ausladen filme, und ich sagte, ich filme privat, es handle sich um einen Urlaubsfilm zur Erinnerung an die Ferien, auf diese Weise kamen wir schnell ins Gespräch, wir schlenderten hinüber zu seinem Boot, es war bereits ausgeladen, am Morgen war er von einem großen Fang in den Hafen zurückgekehrt.
Ich war froh, einen so gesprächigen und freundlichen Menschen gefunden zu haben, ich fragte ihn, ob er mir von seiner Arbeit erzählen könne, wir schlenderten langsam hinüber zu seinem Schiff, es schien ihm Spaß zu machen, mir dies und das zu erklären, aber als ich ihn fragte, ob ich ihn filmen dürfe und er in die Kamera sprechen wolle, sagte er mehrmals, nein, nicht filmen, nein, keine Aufnahmen. Ich verstand diese Scheu, ich hatte solche Abwehr immer wieder erlebt, ich packte meine Kamera demonstrativ fort, weil
ich nicht wollte, dass er durch ihren Anblick in seinem Mitteilungsdrang gehemmt wurde. Als wir vor seinem Schiff standen, wies er mir den Weg, bitte, sagte er, kommen Sie doch an Deck, sehen Sie sich alles genau an, wenn es Sie interessiert. Wir gingen über zwei hölzerne Planken an Deck, er zeigte mir die großen Winden und das Treibnetz, er erzählte angeregt und beinahe schwärmerisch von den nächtlichen Ausfahrten, wir fahren meist zu zehnt hinaus, sagte er, die ganze Nacht schlafen wir vielleicht zwei Stunden, weit draußen, in den dafür zugewiesenen Zonen, warten wir auf einen Fang, das Warten ist schlimm, man schaut auf das Meer und sieht nichts als die glimmenden Lichter, die die Fische anlocken sollen, man kann Pech haben, dann regt sich eine ganze Nacht nichts, oder es steigen plötzlich Luftblasen auf, das ist das Zeichen, dass die Fische aus den Tiefen heraufkommen, wir setzen Boote aus und treiben sie auf den Kutter zu, dann legt sich das Netz um den Schwärm, manchmal sind auch schwerere Tiere darunter, Delphine und Thunfische, wir versuchen oft, sie bereits vorher zu vertreiben, aber es gelingt nicht immer.
Ich hörte ihm genau zu, später wollte ich mir notieren, was er erzählt hatte, ich tat neugierig und interessiert, ich stellte ihm viele Fragen, er ging mit mir einige Stufen hinab in den kleinen Raum, in dem die Mannschaft die Zeit mit Warten verbrachte, dann zeigte er mir die Küche, setzen Sie sich, sagte er, leider habe ich nichts Gutes zu trinken, nichts Gutes, keinen einzigen Schluck, lassen Sie doch, antwortete ich, ich lade Sie später in die kleine Hafenbar ein, nein, sagte er, das kommt nicht in Frage, Sie sind mein Gast, warten Sie einen Moment, ich gehe rasch etwas holen.
Ich wollte ihn aufhalten, aber er verschwand nach draußen, ich saß allein in der kleinen Küche, das Schiff lag ganz still, ich hörte nur das ruhige, regelmäßige Klatschen des Wassers an seine Wände, die Stille hatte etwas Schläfriges, Faules, ich lehnte mich zurück und schloss einen Moment die Augen. Ich wartete eine Weile, ich fragte mich, wo er geblieben war, ich wollte schon wieder aufstehen und hinausgehen, als ich Stimmen hörte, zwei Männer unterhielten sich ganz in meiner Nähe, ihre Schritte waren zu hören, sie stapften anscheinend über die Planken an Deck, dann kamen sie die Treppe herunter, geradewegs zu mir, in die Küche. Sie stießen die Tür auf, sie kamen laut und als erwarteten sie nicht, jemandem zu begegnen, herein, sie stutzten und taten erstaunt, was machen Sie hier? fragte der eine, wie kommen Sie hierher? setzte er nach, ich erklärte, dass ich auf ihren älteren Kollegen, der mich hierher geführt habe, warte, es gibt keinen älteren Kollegen, sagte er, es gibt hier niemanden außer uns, ich begann wieder von vorne, ich versuchte, ruhig und langsam zu sprechen, aber ich verhaspelte mich vor lauter Aufregung, denn ich spürte, dass sich irgendetwas Undurchschaubares ereignete, etwas Schlimmes bahnte sich an, ich schwitzte bereits.
Was tust Du hier? fragte plötzlich der andere leise, er lächelte und trat auf mich zu, was ist mit Dir, was hast Du vor? fragte er in gespielt-naivem Ton, ich überlegte, ob ich ihn zur Seite stoßen und schnell davonstürzen sollte, vielleicht hätte ich es geschafft, ihn beiseite zu drängen, hinter ihm aber stand sein Gefährte, zwei Hindernisse waren für mich einfach zu viel. Du bist nicht von hier, sagte der Größere und stieß mir kurz gegen die Schulter, Du bist doch nicht von hier, woher kommst Du überhaupt, vielleicht bist Du ein Schnüffler, in letzter Zeit schnüffeln hier dauernd solche Typen wie Du herum. Sie bauten sich jetzt beide wie eine Front vor mir auf, ich war aufgestanden und stützte mich mit einer Hand auf den Tisch, ich spürte, dass ich zu zittern begann, auf einmal kam mir die Vermutung, sie hätten mit Gianni Alberti zu tun, es war ein plötzlicher Einfall, ein Schreckensgedanke, ich krümmte mich kurz zusammen, so stark durchfuhr es mich, dann sagte ich, ich möchte jetzt gehen, ich habe Ihnen alles erzählt, nichts hast Du, sagte der Größere gleich, während sich der andere abwandte und die Küche verließ, hier im Hafen treiben sich zu viele Gestalten herum, weißt Du, es wird sogar gestohlen, man muss aufpassen, am Ende stiehlt man uns noch unsere Frauen. Er kniff die Augen zusammen, er blinzelte etwas, es wirkte gefährlich und wie die Vorankündigung eines Schlages, jetzt war es klar, dass er mit Gianni Alberti zu tun hatte, mir fiel ein, dass Alberti im Gespräch mit mir die Fischer sogar erwähnt und mir empfohlen hatte, mit ihnen zu sprechen. Ich möchte jetzt gehen, sagte ich ein zweites Mal, da hörte ich den Motor anspringen, es war ein polterndes, überlautes Geräusch, manche Schnüffler verschwinden aber auch einfach, sagte der Mann, ich geriet in Panik, meine sich aufstützende Hand hinterließ auf dem Tisch bereits nasse Flecken, da legte das Schiff langsam ab, es drehte sich mit dem Bug von der Kaimauer fort, tu etwas! dachte ich nur noch, gleich ist es zu spät, sie werden mit Dir auf das Meer hinausfahren und Dich irgendwo über Bord werfen, ich wollte fliehen, ich griff nach meinem Rucksack, setzte mich aber plötzlich, als hätte ich keine Kraft mehr und als nähme ich das Ablegen des Schiffes geduldig hin. Na so was, sagte der Typ, Du gehst mit uns auf Spazierfahrt?, ich blickte auf den Tisch, ich sah den feuchten, schimmernden Abdruck meiner Hand, ich hielt den Rucksack fest in der Rechten, dann schnellte ich hoch, stieß den Typ zur Seite, hastete die Treppe hinauf an Deck und sprang mit einem großen Satz an Land.
Ich konnte vor Aufregung nicht stehenbleiben, ich begann zu laufen, ich hörte, wie sich das Schiff wieder gegen die Kaimauer schob, der Motor ging aus, es drehte anscheinend bei, ich lief weiter, ich wagte es nicht, zurückzuschauen, vor lauter Angst, noch andere Männer könnten hinter mir her sein. Als ich die kleine Hafenbar beinahe erreicht hatte, kam der alte Fischer gerade aus ihrer Tür, er ging mir direkt entgegen, ich verlangsamte meine Schritte, mein Atem ging rasch. Wer sind die Männer auf Ihrem Schiff? fragte ich, es ist nicht mein Schiff, antwortete er, es gehört nicht mir, Sie haben mich da vielleicht falsch verstanden, wer sind die beiden Männer auf Ihrem Schiff? fragte ich nochmals, wovon sprechen Sie? antwortete er, wer sind die beiden Männer? wiederholte ich, ich habe auf Sie in der Küche gewartet, zwei Männer sind aufgetaucht und haben mich bedroht, es gibt keine Männer auf diesem Schiff, sagte er, schauen Sie, es liegt ruhig da, niemand ist zu sehen, kommen Sie nur, kommen Sie, gehen wir hin, gehen wir in die Küche, zeigen Sie mir, was Sie gesehen haben, er lächelte mich an, um keinen Preis wäre ich mit ihm noch einmal auf das Schiff gegangen. Kommen Sie, winkte er einladend, kommen Sie, machen wir eine Hafenfahrt, oder fahren wir etwas hinaus aufs Meer, ich zeige Ihnen die Geheimnisse der Fischerei, es interessiert Sie doch so, ich erlaube Ihnen sogar, unter Wasser zu filmen.
Er lachte, er ruderte mit beiden Armen, als spiele er einen Ertrinkenden, er lachte so laut, dass man in der Bar auf uns aufmerksam wurde, einige Männer kamen nach draußen und musterten uns, ich wollte fort und wandte mich ab, bleiben Sie doch, sagte er, bleiben Sie nur, wir sollten etwas zusammen trinken, ich beachtete ihn nicht mehr, ich ging schnell und schneller, dann begann ich wieder zu laufen, ich lief, bis ich das Hafengelände hinter mir gelassen hatte.
In der Nähe des Leuchtturms erreichte ich das kleine Pinienwäldchen mit den Kinderspielplätzen, ich zitterte immer noch, mir war übel, ich setzte mich auf eine Bank und schaute zu den spielenden Kindern hinüber, ich kam mir vor wie einer, den man empfindlich getroffen oder verletzt hatte. Ich wartete, bis ich wieder ruhiger atmete, dann ging ich zu der kleinen Bar, die sich inmitten des Wäldchens befand, ich bestellte ein großes Glas Wasser, die Frau hinter der Theke sah meine unruhige, noch immer leicht zitternde Hand, die nach dem Glas griff. Ich trank, ich bestellte ein weiteres Glas, ich hatte eine trockene, pelzige Zunge, ich fragte mich, ob ich jemanden benachrichtigen sollte, doch ich resignierte schnell, schon der Versuch, die Männer zu stellen, war lächerlich, sie hätten sich einen Spaß daraus gemacht, mich als Phantasten hinzustellen.
Ich hielt es an der Theke nicht lange aus, ich bezahlte und setzte mich wieder auf eine Bank, ich fühlte mich so schwach, als könnte ich nicht längere Zeit stehen. Ich holte mein Handy hervor und versuchte, Rudolf zu erreichen, er meldete sich auch, ich habe eben etwas sehr Unangenehmes erlebt, sagte ich, was ist passiert? fragte er, Du hörst Dich ganz merkwürdig an, ja, sagte ich, es war sehr unangenehm, was denn? fragte er, Du sprichst so seltsam, ja, sagte ich, sehr unangenehm. Ich würgte, ich schmeckte so etwas wie bitteren Schleim auf der Zunge, Du bist nicht in Ordnung, hörte ich Rudolf sagen, ist jemand in der Nähe, der Dir helfen kann?, ja, sagte ich, ich bin allein, Du bist völlig durcheinander, rief Rudolf, ja, sagte ich, ich bin durcheinander, mein Gott, sagte Rudolf, Du hättest längst abreisen sollen, eigentlich wolltest Du heute in München sein, ja, sagte ich, ich bleibe bis zur letzten Sekunde, tu es nicht, sagte Rudolf, bleib nicht länger, setz Dich in den nächstbesten Zug und fahr los, ja, sagte ich, ich bleibe, ich fahre nicht ab.
Ich wusste nicht weiter, ich beendete das Gespräch, Rudolfs Stimme zu hören, hatte mich ein wenig beruhigt. Ich blieb auf der Parkbank sitzen, ich schaute den Kindern weiter beim Spielen zu, seit langer Zeit hatte ich nichts Tröstlicheres mehr gesehen, erst nach geraumer Zeit stand ich auf und machte mich auf den Rückweg zu meinem Hotel. Ich ging schnell, ich achtete nicht auf die Umgebung, ich blickte starr geradeaus, als dürfte ich das Ziel nicht aus dem Auge verlieren. Als ich das Foyer des Hotels betrat, kam mir Carlo gleich entgegen. Ihr Kollege aus München hat angerufen, er macht sich große Sorgen um Sie, er behauptet, Ihnen sei etwas zugestoßen, ach, Carlo, sagte ich, Sie haben mit meinem Kollegen doch schon einmal gesprochen, es ist der, der so schlecht Italienisch spricht, grausam, nicht wahr?, grässlich, manchmal ist er einfach völlig verdreht, es ist nichts passiert, gar nichts, er phantasiert. Gott sei Dank, sagte Carlo, ich hatte schon gewisse Befürchtungen, Sie können es sich vielleicht vorstellen, nein, Carlo, sagte ich, ich stelle mir nichts mehr vor, und Ihre Befürchtungen habe ich, wie Sie wissen, noch nie geteilt, sagen Sie mir also lieber, was es heute Mittag zu essen gibt, es gibt spaghettini, mit schwarzen Oliven und kleinen Tomaten, mit Anchovis und einer Spur Knoblauch, sagte er, ich lächelte, auch er begann plötzlich zu lächeln, das Aufsagen des Mittagsgerichts hatte ihn augenblicklich auf andere Gedanken gebracht.

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regrem патриот17.02.16 18:36
NEW 17.02.16 18:36 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:24 (regrem)
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NACH DEM Essen legte ich mich ein letztes Mal auf das breite Hotelbett, ich versuchte, mich abzulenken und nicht mehr an den morgendlichen Vorfall zu denken, die einzelnen Szenen gingen mir jedoch nicht aus dem Kopf, vor allem den Moment, in dem die beiden Männer die Küche betreten und mich entdeckt hatten, konnte ich nicht vergessen. Alles war geschickt inszeniert, dachte ich, ich würde gern wissen, wie weit sie am Ende wirklich gegangen wären, wollten sie mir etwa nur drohen, oder meinten sie es doch ernst? Ich sagte mir, dass solche Fragen nicht zu beantworten waren, die Sache blieb undurchschaubar, es war ja nicht einmal klar, ob Gianni Alberti wirklich dahintersteckte, vielleicht waren es ja auch nur ein paar einfache Hafenarbeiter gewesen, denen ich mit meinem Filmen auf die Nerven gegangen war. Das Filmen, richtig, dachte ich weiter, das Filmen könnte sie verärgert haben, auf das Filmen reagieren, wie ich ja aus Erfahrung weiß, viele Menschen gereizt. So redete ich mir ein, eine plausible Erklärung für den Vorfall gefunden zu haben, das Filmen musste die Ursache gewesen sein, etwas anderes wollte ich mir nicht vorstellen.
Trotz all dieser Beschwichtigungen blieb ich unruhig, ich hielt es auf dem Bett nicht mehr aus, ich erhob mich und begann, das Zimmer aufzuräumen, als erstes schaffte ich die faulenden Feigen hinaus, längst schon hätte ich sie beseitigen müssen, warum hatte ich es eigentlich noch nicht getan? Dann begann ich zu packen, ich räumte den Schrank aus und legte meine Kleidung aufs Bett, ich lief, um ein paar Utensilien zu verstauen, mehrmals vom Schlafzimmer ins Bad und wieder zurück, noch einmal ging ich auf den Balkon, sagte mir dort aber sofort, dass ich nicht auf den Balkon gehen sollte, ich setzte mein Aufräumen fort und versuchte, gleichzeitig bereits etwas zu packen, immer wieder schaute ich auf die Uhr, schaltete den Fernseher an, schaute dann aber kaum hin, stellte ihn wieder ab, ich kam nicht richtig voran, die Hauptsache war vielleicht auch eher, dass ich in Bewegung blieb.
Dann hörte ich das Telefon klingeln, ich vermutete, dass Rudolf mich anrief, ich fahre nicht ab, Du bist ein Phantast, sagte ich, ohne abzuwarten, bis sich jemand gemeldet hatte, ich bin es, Signore, hörte ich Carlo sagen, ich bin es, nicht der Kollege aus München, Sie sind es, Carlo, fragte ich, etwas erschreckt, was gibt es? Ich wollte Sie nur an Ihren Termin um Fünfzehn Uhr erinnern, sagte Carlo, der Dottore wird sicher pünktlich erscheinen. Welcher Dottore? wollte ich fragen, da begriff ich, ich hatte den Termin komplett vergessen, komplett, vollkommen, komplett, wiederholte ich in Gedanken, dann sagte ich, danke, Carlo, ich habe den Termin nicht vergessen.
Ich schaute erneut auf die Uhr, mir blieb noch eine halbe Stunde, ich ließ alles stehen und liegen und legte mich wieder aufs Bett, ich überlegte mir einige Themen, über die man vielleicht sprechen konnte, die Arbeit beim Fernsehen war so ein Thema, Italien war eines, die italienische Küche war eins für den Notfall, die Unterschiede zwischen Deutschen und Italienern war keines, Franca und ich war eines, über das ich am liebsten nicht sprechen wollte, den Vorfall im Hafen hatte ich nicht einmal vor zu erwähnen.
Kurz vor Fünfzehn Uhr meldete Carlo, dass der Dottore an der Rezeption auf mich warte, ich ging rasch hinunter, wir begrüßten uns freundlich, ich vergaß beinahe, dass ich es mit Francas Vater zu tun hatte, denn er trat auf wie ein Mann, der sich darauf freute, eine Bekanntschaft zu machen. Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit mir zu sprechen, sagte er, ich habe gar kein besonderes Anliegen, ich möchte Sie einfach nur kennenlernen und einige Worte mit Ihnen wechseln, sonst nichts. Er sprach rasch, erwirkte sehr offen und interessiert, aber gleichzeitig so neutral, als gelte sein Interesse einem fremden, Studierens werten Objekt.
Haben Sie Lust, mit mir am Strand spazieren zu gehen? fragte er, ich gehe so gern dort spazieren, richte mich aber ganz nach Ihnen, gehen wir an den Strand, sagte ich, das ist ein guter Gedanke. Wir überquerten den Boulevard und erreichten das Meer, wir zogen unsere Schuhe aus und machten uns auf den Weg, er ging zügig voran und setzte die Unterhaltung fort, als wolle er einen vor Tagen liegengelassenen Faden entschlossen wiederaufnehmen.
Er sprach von der Beziehung der Küstenbewohner zum Meer, ich sehe es, sagte er, natürlich vor allem aus medizinischer Sicht, die Menschen hier haben, statistisch gesehen, eine höhere Lebenserwartung, der Grund dafür ist wahrhaftig ihre starke Bindung ans Meer, diese Bindung führt dazu, dass sie nicht gern verreisen, sie bleiben, wenn es irgend geht, an einem Ort, und sie verbringen ihre Tage in immer demselben Rhythmus, Ruhe und Stetigkeit sind seit alters her die besten Bedingungen dafür, alt zu werden, so ist es auch hier, hinzu kommt, dass sie das Gefühl haben, immer im Urlaub zu sein, die Anwesenheit der Fremden trägt zu diesem Gefühl bei, sie fühlen sich also beinahe ganzjährig, obwohl sie zu Hause sind, doch wie im Urlaub und sehen daher keinen Anlass, noch eigens in den Urlaub zu fahren. Die Berge mögen sie nicht, das bäuerliche Land ist ihnen zuwider, in Wahrheit sind sie etwas überheblich und stur, sie bleiben am Meer, sie fühlen sich mit ihm oft stärker verbunden als mit ihrer Wohnung und ihrem eigentlichen Zuhause, sie stehen spät auf, gehen dann aber sofort an den Strand, sie wohnen am Strand, könnte man beinahe sagen.
Ich hörte ihm gerne zu, er sprach ein helles und sehr wohlklingendes Italienisch, und er redete nicht so, als wolle er mich belehren, sondern als mache er sich gerade erst all diese Gedanken. Sein Sprechen erhielt dadurch etwas Frisches und Lebendiges, er versetzte es mit Wendungen des Erstaunens und Aufmerkens, als wolle er seinen Worten einen besonderen Glanz verleihen.
Seltsam und beinahe unerklärlich ist nur, sagte er weiter, warum kaum jemand von unseren Küstenbewohnern ins Meer geht, immer wieder frage ich mich, was dahintersteckt, in ganz Europa stürzen sich die Menschen mit Wollust in die Fluten, hier aber nicht, haben Sie es bemerkt und haben Sie vielleicht dafür eine Erklärung? Ich zuckte zusammen, ich hatte nicht erwartet, dass er mich so direkt ansprechen würde, jetzt aber begriff ich, dass er nicht weiter allein sprechen, sondern mich einbeziehen wollte, er stellte mir die Frage aber ganz ernsthaft und nicht so, als wollte er lediglich höflich erscheinen. Er wartete, ich überlegte kurz, dann sagte ich, dass ich mir die Abneigung gegenüber dem Schwimmen mit der jahrhundertealten Furcht oder Scheu vor dem Meer erkläre, die älteren Generationen erinnerten sich bestimmt noch daran, niemand habe früher im Meer gebadet, das Meer sei ein beunruhigendes und fremdes Terrain gewesen, eine Zone der Gefahr und des Diffusen. Ja, antwortete er, diese traditionelle Abwehr oder Scheu, wie Sie es nennen, spielt gewiss eine wichtige Rolle, sie hat sich in Italien, wo die Verhaltensformen sowieso stärker vererbt werden als anderswo, von den Großeltern auf die Eltern und Kinder übertragen, seit einiger Zeit wird übrigens gegen Elf Uhr am Morgen hier und dort eine Morgengymnastik veranstaltet, da sind nun wiederum viele dabei, sie gehen dann sogar für eine halbe Stunde ins Wasser, auch das ist seltsam und bedarf einer Erklärung, haben Sie etwa eine? Vielleicht, sagte ich, hat diese Ausnahme und Überwindung der sonst starken Vorbehalte mit der Musik zu tun, die Musik zur Morgengymnastik ist nämlich sehr laut, sie zerstört den ruhigen und eher beschaulichen Raum, den der Strand ja sonst darstellt, und macht aus ihm eine beliebige, sportive Zone, in der man eben, weil es heiß ist und man sich dazu noch bewegen muss, bis zu den Knien im kühlenden Wasser steht.
Fabelhaft, sagte er, und sehr einleuchtend, an die Musik hatte ich bisher noch gar nicht gedacht, dabei liegt es doch nahe, ihre Funktion zu bedenken, ich dagegen habe mir alles viel umständlicher erklärt, auf dem Umweg über eine Theorie des Schwimmens, auf die ich - als übrigens leidenschaftlicher Schwimmer - ganz durch Zufall gekommen bin. Sie machen mich neugierig, antwortete ich, über das Schwimmen habe ich in der letzten Woche auch häufiger nachgedacht. Und? fragte er, was denken Sie über das Schwimmen? Es handelt sich, antwortete ich, um nichts Anspruchsvolles oder etwas, was den Begriff Theorie rechtfertigen würde, es hat eher mit den Beobachtungen zu tun, die ich in den letzten Tagen beim Schwimmen machte. Spannen Sie mich nicht auf die Folter, sagte er, lassen Sie hören! Mir fiel beim Schwimmen und vor allem beim Tauchen auf, sagte ich, wie stark der Kontakt mit dem Wasser alles andere verdrängt, nach einer Weile konzentriert man sich nur noch auf diesen Kontakt, man sucht die möglichst perfekte Anpassung an das Element, man ignoriert die Umgebung, das Schwimmen, denke ich daher, isoliert, es wirft einen zurück auf das eigene Erleben, als Schwimmer ist man allein und nur auf sich gestellt, die Sportschwimmer ziehen typischerweise immer nur ihre Bahnen, sie berühren und beobachten ja nicht einmal ihre Gegner, im Grunde ist ihr Gegner einzig die Zeit.
Das ist es! antwortete er, Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund, ich denke über das Schwimmen ganz ähnlich. Dann erläutern Sie mir aber noch, sagte ich, wie Sie mit Hilfe solcher Überlegungen die Bereitschaft unserer Strandbewohner zur Morgengymnastik begründen. Das ist ganz einfach, antwortete er, das Schwimmen isoliert, wie Sie richtig sagten, als leidenschaftlicher Schwimmer ist man im Wasser allein, die belebende und sinnliche Wirkung des Wassers ist vor allem dann spürbar, wenn man allein ist, das Alleinsein wird im Wasser zu einem körperlichen Genuss, genau davor aber schrecken unsere Strandbewohner zurück, sie verabscheuen das Alleinsein und die Isolation, sie suchen nichts mehr als die Gruppe und das Gespräch, noch wenn sie ein paar Meter hinausschwimmen, unterhalten sie sich, den Kopf über Wasser, wie Enten, die nicht aufhören können, zu schnattern. Die Morgengymnastik kommt ihnen daher auf ideale Weise entgegen, sie erlaubt es, das Meer in der Gruppe aufzusuchen, sie entbindet vom Schwimmen und ermöglicht die Andeutung eines Wasser-Kontaktes, so habe ich es mir zurechtgelegt, wie finden Sie es?
Er sprach noch etwas rascher als vorher, er war richtiggehend in Fahrt geraten, ich musste über unseren Eifer, theoretische Erklärungen für die einfachsten Vorgänge zu suchen, lächeln, er bemerkte es und lächelte ebenfalls, wir geben uns große Mühe, nicht wahr? sagte er, ja, sagte ich, wir stellen die mit ihren Füßen Gymnastik treibende Welt auf den Kopf, wir rechtfertigen ihr Tun, wir geben ihr erst eine Grundlage oder so etwas wie eine Basis. Richtig, sagte er, wir arbeiten an einer Grundlegung zu einer Metaphysik der Morgengymnastik im Meer unter besonderer Berücksichtigung einer Metaphysik des Schwimmern, habe ich es exakt formuliert? Vollkommen exakt, sagte ich, wenn ich Sie dort drüben, in der kleinen Strandbar, zu einem Café einladen darf, könnten wir unseren ersten theoretischen Bausteinen weitere hinzufügen.
Er blieb stehen und schaute mich an, es macht Spaß, sich mit Ihnen zu unterhalten, sagte er, es macht richtig Spaß, ich antwortete nichts, ich dachte plötzlich an Franca, auch sie hatte mehrmals betont, wie gern sie sich mit mir unterhielt, es ist schön mit Ihnen, hatte sie gleich zu Beginn unseres Kennenlernens einmal gesagt, jetzt, im Gespräch mit ihrem Vater, verstand ich erst genauer, was sie gemeint hatte, vielleicht hatte sie das Gefühl gehabt, in den Gesprächen mit mir die Gespräche mit ihrem Vater fortzusetzen, all die vielen Gespräche mit ihrem Vater, dachte ich, haben sie stark geprägt, daher erwartet sie von einem Gespräch ein dauerndes Hin und Her zwischen prägnanten Beobachtungen und Theorien, ihre Abneigung gegen bloße Meinungen oder simple Geschmacksurteile ist mir von Anfang an aufgefallen, jetzt habe ich dafür vielleicht eine Erklärung.
Ich habe eine gute Erklärung dafür, warum Franca sich mit mir so gern unterhält..., dieser Satz lag mir auf der Zunge, ich sagte aber nur, ich gebe Ihr Kompliment gerne zurück, trinken wir nun den Café oder lassen wir es? Natürlich trinken wir ihn, sagte er, leider müssen wir mit der kleinen Strandbar vorliebnehmen, die Beziehung der Strandbewohner zu ihrem Strand ist von keinerlei Romantik, sondern ausschließlich von pragmatischen Gesichtspunkten geprägt. Auf die Gefahr hin, dass ich Sie jetzt langweile, antwortete ich, ich muss Ihnen sagen ..., Sie müssen mir sagen, dass Sie auch darüber bereits nachgedacht haben, habe ich Recht? sagte er lachend, Sie haben Recht, sagte ich, ich habe darüber nachgedacht, warum dieser ganze Küstenstrich, den ich in den letzten Tagen kennengelernt habe, trotz all seiner Strandschönheit doch etwas Sprödes und eher Pragmatisches hat, durch diese Frage bin ich zu der Vermutung gekommen, dass es so etwas wie Meeresromantik oder eine romantische Beziehung zum Meer in der Malerei oder den anderen Künsten dieser Region vielleicht gar nicht gibt, exakt! rief er, Sie sagen es, so etwas gibt es nicht, eine romantische Beziehung zum Meer ist eine englische, niederländische, nord-französische und deutsche Erfindung, hier jedenfalls kennt man so etwas nicht.
Wir erreichten die kleine Bar, sie hatte diesen Namen wahrhaftig nicht verdient, man hätte sie eher einen kleinen Verhau nennen können, da sie aus nicht mehr als ein paar zusammengenagelten Brettern bestand. Ich bestellte zwei Café, er wartete nicht darauf, dass sie serviert wurden, sondern redete weiter, die erhabene Schönheit der Felsen am Meer, der Blick des Einsamen auf seine ruhige Fläche, die dramatischen Bilder des Sturms und der aufschäumenden Wogen, für all diese großen Szenen einer jahrhundertealten Ästhetik hat man hier keinen Sinn, nicht zufällig sind sie ja auch in Ländern entstanden, in denen das Meer ein ganz anderes ist, wild bewegt, stürmisch, häufig ein Grollen, die Ruhe trügerisch und der Blick aufs Meer eben deshalb ein banger Genuss. Hier dagegen sieht man das Meer nicht in der Beziehung zu Wind, Wetter und Wolken, sondern in der einen zur Sonne, man könnte sogar beinahe sagen, das Meer verstärkt oder verdoppelt die Sonne, es ist ihr Widerpart, ein im idealen Fall leuchtendes, die Sonnenreflexe durch-scheinend zum Schimmern bringendes Element, die Menschen hier lieben dieses ruhige, stille Meer, sie stehen am Strand nicht so sehr, um in die Weite, sondern um ins Wasser zu schauen. Unbewegt, ja beinahe apathisch verlieren sie sich in der Betrachtung der minimalsten Bewegungen des Sandes, so stehen sie am Morgen aufrecht und still im Wasser und legen sich später starr und ebenso unbeweglich hin, sie ahmen die einfachsten Verhältnisse nach, die hier zu beobachten sind, die Ur- oder Grund-Verhältnisse, aus denen sich alles Weitere ableitet.
Der Gaffe wurde endlich serviert, ich trank meine Tasse, um mich nicht ablenken zu lassen, sofort leer, ich war gespannt auf das, was er so kunstvoll vorbereitet und angesprochen hatte, er aber zögerte, nippte mehrmals an seiner Tasse, lächelte und fragte, jetzt bin ich Ihnen voraus, darüber haben Sie noch nicht nachgedacht, stimmt's? Machen Sie weiter, antwortete ich, ich werde Ihnen erst antworten, wenn Sie mit Ihrem Ur-Verhältnis herausgerückt sind. Es ist sehr einfach, sagte er, man begreift es sofort, und doch fällt es den Wenigsten auf: Das Ur-Verhältnis ist das Aufeinandertreffen von Vertikale und Horizontale, die Vertikale ist das Strahlen der Sonne, die Horizontale die Fläche des Meeres, durch ihr Stehen und Liegen übersetzen die Strandbewohner dieses einfache Raum-Verhältnis in wiederum einfache Bewegung, und durch aufeinanderstoßende Geraden und ein System von rechten Winkeln übersetzt diese Stadt dieses Raum-Verhältnis in die Struktur ihrer Straßen, was sagen Sie nun?, wären Sie darauf gekommen? Ja, sagte ich, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, wäre ich darauf gekommen, ich war sogar schon ganz nahe dran, über das Verhältnis von Sonne und Meer hatte ich schon erste Beobachtungen angestellt. Ich glaube auch, dass Sie es herausbekommen hätten, sagte er, nach alldem, was Sie mir bereits erzählt haben, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, was meinen Sie, machen wir nun kehrt und gehen zurück, nach Auflösung aller Welträtsel bietet es sich beinahe zwangsläufig an.
Ich stimmte zu, ich bezahlte, wir gingen wieder zum Wasser und machten uns auf den Rückweg, ich erzählte ihm, dass ich genau diesen Weg bis zu dieser abgelegenen Strandbar am Rande der Stadt an meinem ersten Tag in San Benedetto zurückgelegt hatte, er ging eine Weile still neben mir her, er hörte ruhig zu, ich erzählte weiter von meinem Aufenthalt, mit keinem Wort kam ich auf Franca zu sprechen. Ich verstehe mich gut mit ihm, dachte ich, noch selten habe ich mich mit einem fremden Menschen in derart kurzer Zeit so gut verstanden, ich vermute, wir verstehen uns sogar so gut, dass wir über Franca nicht sprechen werden.
Als wir uns bereits wieder dem Hotel näherten, sagte er, ich muss Ihnen noch etwas erzählen, ich darf es nicht vergessen, obwohl es meine so einleuchtende Idee vom Ur-Verhältnis zwischen Vertikale und Horizontale untergräbt, ich muss Ihnen, bevor wir uns verabschieden, noch von einer Ausnahme erzählen, diesmal frage ich aber nicht, ob Sie bereits ahnen, wovon ich spreche, Sie können diese Ausnahme nicht kennen, Sie sind, soviel ich weiß, zum ersten Mal in den Marken. Etwas nördlich von hier, aber noch südlich von Ancona, befindet sich in der Nähe des Monte Cönero die schönste Küstenpartie dieser Region, der Strand dort ähnelt in nichts der geraden und beinahe ausdruckslosen Sandfläche, die Sie hier vorfinden, er ist vielmehr sehr abwechslungsreich, mal Felsenküste, mal Steppe, vor allem besteht er aber aus vielen kleineren Buchten von außerordentlicher Schönheit, die sich manchmal in der Felsenküste verbergen oder durch Grotten mit ihr verbunden sind. In diesen Buchten aber werden Sie unsere Strandbewohner baden und sogar schwimmen sehen, hier machen sie eine Ausnahme, und zwar deshalb, weil es sich eben um Buchten handelt, um intime, kleine, abgeschlossene Paradiese, die nur ihnen bekannt sind und durch ihre Form an den mütterlichen Schoß erinnern. Ich liebe diese Buchten über alles, im Grunde bin ich mit meiner Frau wieder nach Ancona gezogen, um ihnen nahe zu sein, ich liebe aber auch die spröde Klarheit des geraden kilometerlangen Strandes hier und die ganze Geometrie, die sich daraus ergibt, sie verleiht Küstenstädten wie San Benedetto etwas von Leere und Melancholie, auch die Geometrie gehört zum Meer, obwohl sie das Gegenteil des Pittoresken ist, sie gehört zum Meer und verleiht den Städten etwas Provisorisches, Windiges, als wäre von vornherein klar, dass ihre Häuser irgendwann weggespült werden.
Als wir auf der Höhe des Hotels waren, blieben wir stehen, ich danke Ihnen, sagte er, ich danke Ihnen, dass Sie mich begleitet haben, es war ein Vergnügen. Er griff in seine Jackentasche und holte eine Visitenkarte hervor, er überreichte sie mir und bat mich, bald nach Ancona zu kommen, damit man sich die Schönheiten der Gegend um den Monte Conero gemeinsam ansehen könne. Ich warf einen kurzen Blick auf die Karte, für einen Moment glaubte ich wirklich diesen Küstenstreifen zu sehen, das Schönste dort, sagte er noch, ist eine romanische Kirche, sie steht auf einem Felsen direkt über dem Meer, wenn wir im Herbst dorthin gehen würden, befände sich dort kein einziger Mensch, wir lassen uns den Schlüssel geben und gehen hinein, wir schließen die Kirche und setzen uns in eine Bank, wir warten ..., wir warten so lange, bis wir es in seiner Ur-Schönheit hören können. Was? fragte ich, was um Himmels willen könnten wir hören? // rumore del märe, flüsterte er und beugte sich zu mir vor, il rumore del märe, eingefangen und gesammelter Klang geworden, das Tönen des Meeres ..., in nuce, flüsterte ich, das Tönen des Meeres in nuce, bestätigte er. Ich stockte einen Moment, ich starrte ihn an, ich hatte das seltsame Gefühl, mich auf einer Zeitreise zurück in die vergangene Woche zu befinden, darüber konnte ich aber nicht sprechen, ich hätte zu weit ausholen müssen. Ich sagte nichts, ich holte, um seine Visitenkarte hineinzustecken, mein Notizbuch hervor, als ich das Buch öffnete, rutschten die Karten mit Crivellis Bild heraus, ah, sagte er, Crivellis heilige Magdalena, darüber haben Sie also auch nachgedacht, haben Sie bemerkt, wie er den Schleier gemalt hat? Nein, sagte ich, dazu ist mir nichts eingefallen, der Schleier, sagte er, ist dort, wo er sich an den Kopf anschmiegt, glatt und transparent, dahinter aber, wo er sich ins Freie bewegt, wird er amorph und zu einem rötlichen Strudel, ganz wie das Haar, diese Ambivalenz erstreckt sich, wie ich finde, auf die ganze Gestalt, Crivelli war Venezianer, er hatte aber eine unglaubliche Fähigkeit, sich in die Mentalität dieser Region zu versetzen, keiner hat ihre Menschen besser getroffen, selbst die heilige Magdalena hat ja trotz ihrer großen Schönheit etwas Zurückhaltendes und Sprödes.
Darf ich Ihnen eine von den Karten mitgeben? fragte ich, gern, sagte er, und erlauben Sie noch eine letzte Frage?, bitte, sagte ich, fragen Sie nur. Er schaute mich an, er berührte mich mit der Rechten am Oberarm, als wollte er mich festhalten, bis ich geantwortet hatte. Was lieben denn Sie an diesem Bild? fragte er, das Sarazenische, antwortete ich, ach, sagte er, das haben Sie also bemerkt, ja, sagte ich, Sie meinen den Vogel, der die Strahlen der Sonne trinkt, Sie meinen das Licht und das Meer, Vertikale und Horizontale, wunderbar, sagte er und beugte sich wieder nach vorn, nur wir beide wissen es, flüsterte er, San Benedetto ist eine sarazenische Stadt, bei unserer nächsten Begegnung hören wir zusammen die alten Lieder der sarazenischen Schiffer ..., und die Pescatori di perle, sagte ich, ja, sagte er, auch die, dann werden Sie die geheime Verwandtschaft bemerken, eine Verwandtschaft, über die wir Theorien aufstellen werden, sagte ich, mit dem größten Vergnügen, sagte er, dann ließ er mich los, verbeugte sich und ging allein weiter, den Strand entlang.
Ich ging zurück in mein Hotelzimmer, ich wunderte mich darüber, wie unordentlich ich alles zurückgelassen hatte, mein Gepäck stand im ganzen Zimmer herum und machte den Eindruck von Konfusion, ich begann sofort, richtig aufzuräumen und zu packen, die Begegnung mit Francas Vater hatte mich derart abgelenkt und beruhigt, dass ich dem Vorfall am Morgen kaum noch Bedeutung beimaß.
Als ich eine wenigstens vorläufige Ordnung hergestellt hatte, setzte ich mich, ich trank ein Glas Wasser, holte mein Notizbuch hervor und notierte: Ehrlich gesagt, hatte ich von der Begegnung mit Francas Vater nicht viel Gutes erwartet, ihr Vater, ihre Familie ..., dachte ich, sind eine andere Welt, sie sind die Fremde, aus der sie kommt und über die ich nichts weiß. Einer solchen Fremde zu begegnen, hätte schmerzlich verlaufen können, daher hatte ich mich schon darauf eingestellt, •zurückzuzucken und jene feinen Risse in dem Ideal-Bild von Franca zu bemerken, dass meine Liebe entworfen hat. Ich hatte erwartet, etwas Befremdliches, anderes an ihr zu entdecken, so wie früher, als das erste Betreten des Elternhauses einer Freundin etwas Verstörendes hatte: Diese fremden Gerüche, diese unpassenden Farben, diese abstoßende Ästhetik von Möbeln, Teppichen und Gardinen - in diesen Räumen, fragte man sich, ist sie wirklich aufgewachsen, wie konnte sie es nur so lange aufhalten hier? Natürlich gingen wiche Fragen im Leere, zum großen Teil entstanden sie aus Eifersucht, man neidete den Möbeln, Teppichen und Gardinen nur die Nähe zur Freundin, man empfand diese Dinge als hässlich, weil sie einem fremd waren, in Wahrheit hatten sie vielleicht ihren eigenen Reiz, man war nur nicht imstande, ihn wahrzunehmen. So hätte auch die Beregnung mit Francas Vater ernüchternd enden können, es kam aber ganz anders, denn ich entdeckte, dass wir ganz ähnlich beobachteten, dachten, ja sogar sprachen, die Übereinstimmung war so verblüffend, dass wir uns am Ende anstaunten, keiner von uns hatte damit gerechnet, leicht überwältigt gaben wir uns die Hand, lächelten hilflos und tauschten kleine Gaben wie Visiten- oder Post-Karten aus, die unser Einverständnis gar nicht angemessen genug symbolisierten. Dann winkten wir uns zu
und riefen addio!, bis bald, bis sehr bald, wir trennten uns wirklich beinahe wie Freunde, die jetzt leicht betrübt darüber waren, dass bis zu ihrem nächsten Wiedersehe

#31 
regrem патриот17.02.16 18:37
NEW 17.02.16 18:37 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:25 (regrem)
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AM FRÜHEN Abend machte ich mich zu ihr auf den Weg, ich dachte daran, dass es der letzte Abend und die letzte Nacht sein würden, ich ging schnell, ich hatte keine Augen mehr für die Umgebung, ich wollte sie sehen, sonst nichts. Während des Gangs spürte ich eine leichte Verzweiflung, das Schwierigste, die Trennung, stand jetzt bevor, ich wusste nicht, wie wir es hinter uns bringen sollten, für so etwas wie einen Abschied hatte ich gar kein Gespür, nicht einmal das Wort konnte ich in Ruhe denken. Durch diese Hilflosigkeit verstärkte sich aber auf dem Weg auch die Trauer, nicht, bitte nicht, sagte ich mir, ich hasste nichts mehr als Trauer oder Melancholie, so ging ich immer schneller, als könnte ich vor den Abschiedsgedanken davonlaufen. Endlich erreichte ich den Platz, wo sie am Abend zuvor mit ihrem Vater gegessen hatte, direkt nebenan musste sie wohnen, ich suchte das Haus und den Eingang, ja, es stimmte, ich läutete, es ist das erste und letzte Mal, dass ich hier läute, dachte ich. Die Tür sprang auf, ich hörte sofort ihre Stimme, komm herauf, ganz nach oben, im Treppenhaus brannte kein Licht, ich tastete mich am Geländer hinauf, sie stand in der Wohnungstür und umarmte mich ohne ein weiteres Wort, mein Gott, dachte ich nur, sie empfindet genauso wie Du.
Sie zog mich in die Räume, hier wohne ich also, sagte sie, geh nur, schau es Dir an, ich tat ihr den Gefallen, es waren drei große, karg möblierte, sehr schöne Räume unter dem Dach, man schaute auf die alte Befestigungsmauer der Stadt und auf die neuen Stadtviertel am Meer, ganz in der Ferne leuchtete das einsame Blau. Sie sagte nichts, sie ging in die Küche, ich hörte, dass sie eine Flasche Wein öffnete, sie rief, hattest Du einen schönen Tag?, einen Moment lang kam es mir so vor, als wäre ich von der Arbeit nach Hause gekommen, als wäre jetzt Feierabend oder als kämen unsere beiden Kinder gleich vom Spielen zurück. Ich antwortete nicht, ich horchte ihrer Frage noch nach, dann kam sie mit der Flasche in der einen und zwei Gläsern in der anderen Hand aus der Küche. Was ist? fragte sie, hattest Du keinen schönen Tag?, ich war am Morgen im Hafen, antwortete ich, ich habe noch etwas gefilmt, am Nachmittag bin ich mit Deinem Vater am Strand spazieren gegangen. Er hat mich danach angerufen, sagte sie, er hat mir erzählt, dass er Dich für den Herbst eingeladen hat. Für den Herbst, ja, sagte ich, im Herbst..., plötzlich wurde ich leiser, meine Stimme war nahe daran, ganz zu ersterben, im Herbst..., nahm ich noch einmal Anlauf, aber es klang rau und schwach, was hast Du? fragte sie, ich räusperte mich und sagte, es ist noch weithin, bis zum Herbst.
Ich möchte Dir einen Vorschlag machen, sagte sie, während ich auf die Stadt schaute, ich will Dir sagen, wie ich es mir bis zum Herbst vorstelle, komm, setz Dich. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch, sie stellte die Flasche und die beiden Gläser ab, sie schenkte nicht ein, sie zögerte, dann sagte sie, ich nehme mir Ende kommender Woche Urlaub für einen Monat, ich komme zu Dir nach München. Es war vollkommen still, auf diesen Satz hatte ich Tage gewartet, ich wiederholte ihn langsam im stillen, ich nehme mir Urlaub, für einen Monat, schon kommende Woche, wie einer, der nicht verstanden hatte, ging ich ihn durch, ich schluckte, ich schaute sie an, ich konnte nichts sagen, es war, als hätte dieser Satz eine lähmende Wirkung. Ich sah, wie sie meine Hand nahm, sie nahm meine rechte Hand und legte sie auf ihre Rechte, es erinnerte an den frühen Morgen im Café neben meinem Hotel, ist das Dein Ernst? fragte ich, Du wirst in zehn Tagen in München sein? Ich habe mich informiert, sagte sie, der Zug kommt Freitagabend an, Du meinst den Freitagabend kommender Woche? fragte ich, ja, sagte sie und lachte plötzlich, ich meine den Freitagabend kommender Woche.
Ich schaute noch einmal aus dem Fenster, der Freitagabend kommender Woche in München, dachte ich, ich werde den ganzen Nachmittag unterwegs sein und einkaufen, ich werde alles nach Hause schleppen, ich werde ausgehen und ungeduldig ein großes Bier irgendwo trinken, gegen Zwanzig Uhr werde ich die Osteria italiana betreten und dort, genau dort, auf sie warten, ich werde Kalbsnieren bestellen, Kalbmieren oder andere Innereien, ich werde die Zeitung lesen und das erste Glas Wein trinken, auf die Uhr werde ich schauen und mit den Fingern das Glas sauberstreichen, ich werde auf den Moment warten, bis die Tür sich öffnet, mit dem Rücken zur Tür werde ich sitzen ..., ich griff nach der bereitstehenden Flasche, ich nahm sie ganz selbstverständlich, ich darf doch einschenken? fragte ich, ich habe sie dorthin gestellt, damit Du einschenkst, sagte sie. Ich habe mir unseren Abschied schon ganz finster vorgestellt, sagte ich, jetzt bin ich erleichtert, ja, antwortete sie, mir geht es auch so, dieser kleine Abschied ist jetzt leicht zu verschmerzen, lass uns an nächste Woche denken, das wird uns helfen, lass uns diesen Abend genießen und morgen sehr früh auseinandergehen, als wäre diese Trennung nicht von großer Bedeutung, bitte versteh, wenn ich Dich nicht zum Bahnhof begleite, ich möchte den Zug nicht abfahren sehen, ich möchte nicht winken und mich nicht allein auf den Heimweg machen, das alles möchte ich nicht, ich möchte an den kommenden Tagen auch nicht mit Dir telefonieren, telefonieren ist grausam und peinlich, telefonieren ist nicht das Richtige für die Liebe, ich habe noch nie gerne telefoniert, ich hasse es, sag mir lieber, wo wir uns treffen am Freitag kommender Woche in München, lass uns Ort und Zeit genau bestimmen, bis dahin aber lass uns abwarten und schweigen.
Ich schenkte ein, dann sagte ich, wir treffen uns am Freitag kommender Woche gegen Einundzwanzig Uhr in der Osteria italiana in München, Osteria italiana? fragte sie, als machte ich einen Scherz, ja, sagte ich, so heißt es wirklich, es passt, nicht wahr, es passt doch genau, gut, sagte sie, so machen wir es, so wird es gehen, so ist dieser Abschied doch zu ertragen. Wir stießen an, wir nahmen einen Schluck, es gibt, sagte ich, aber noch ein letztes, kleines Problem, das ist diese Wohnung und dieses Sitzen zu zweit, wenn wir nämlich hier den Abend verbringen, werden wir früher oder später doch melancholisch, ich spüre schon die Melancholie, wie sie einen in diesen Räumen befällt, wie sie sich anschleicht und die Räume auskühlt, ja, sagte sie, Du hast Recht, ich habe es auch schon befürchtet, wir sollten nicht den ganzen Abend hier bleiben, sondern ausgehen, lass uns essen gehen, lass uns dorthin gehen, wo es Dir am besten gefallen hat, sag schnell, wo das war, überlege nicht lange, es war dort, wo wir mit Gianni Alberti zu Mittag gegessen haben, sagte ich, wo er frühzeitig verschwand und wir dann eine Fischsuppe bestellten, diese Fischsuppe würde ich gerne noch einmal essen, dann tun wir es doch, sagte sie, dann gehen wir dorthin, essen Fischsuppe und denken insgeheim fest an den Freitag kommender Woche in München.
Wir warteten noch, bis wir das Glas Wein leer getrunken hatten, ich erzählte ihr solange vom Spaziergang mit ihrem Vater am Strand und von den Theorien, die wir entworfen hatten, ja, sagte sie, so kenne ich ihn seit der Kindheit, schon damals fragte er immer, wie erklärst Du Dir das?, es kam nicht darauf an, etwas genau zu wissen, die Erklärung musste nur verblüffend und in sich stimmig erscheinen, dann lachte er und hatte daran sein Vergnügen, später nannten wir es die Diagnose, als junges Mädchen ging ich oft mit ihm spazieren, er blieb stehen, schaute sich etwas an und fragte dann, welche Diagnose ist hier denn zu stellen?, natürlich war das alles ein Spiel, mein Vater hasst eben die Langeweile und vor allem den Alltag, er hasst platte Gespräche und alle Formen der üblichen Unterhaltung, lieber schweigt er und sagt überhaupt nichts, im Grunde hat er mit mir immer in derselben humorvollen Weise gesprochen, als wäre er der Impresario eines Theaters.
Es dunkelte, als wir uns auf den Weg machten, wir liefen sehr schnell einige Treppen hinab in die Stadt, ich spürte die Erleichterung physisch, ich fühlte mich befreit, es schien nichts Störendes oder Irritierendes mehr zu geben, mit einem einzigen Satz hatte sie mich von all meinen Grübeleien erlöst. Wir gingen nicht durch das Zentrum, sondern durch ruhige, beinahe ausgestorbene Straßen, aus den geöffneten Fenstern drangen die Stimmen der Nachrichtensprecher, kaum ein Mensch war unterwegs, wir gingen hintereinander auf den schmalen Bürgersteigen dicht an den Häuserwänden entlang, die meisten Bars waren bereits geschlossen, eine stickige Schwüle hielt sich noch in den Straßen.
Wir erreichten den Hafen, dann sah ich plötzlich das blaue Schild des Lokals in einer dunklen, schmalen Gasse aufleuchten, da ist es, sagte sie, allein hätte ich es niemals gefunden, so versteckt liegt es, antwortete ich. Wir gingen hinein, das Lokal hatte nur wenige Gäste, sie saßen in großer Entfernung zu zweit oder zu dritt an den kleinen, weiß gedeckten Tischen, der Kellner kam auf uns zu, er lächelte, er schien sich zu erinnern, guten Abend, Dottoressa, sagte er, heute Abend zu zweit?, ja, antwortete sie, heute Abend zu zweit, wir erwarten niemanden mehr. Er ging uns voraus, ganz selbstverständlich führte er uns an den Ecktisch, an dem wir vor einigen Tagen bereits gesessen hatten, darf ich die übliche Flasche Wein gleich servieren? fragte er, ja, antwortete sie, servieren Sie uns gleich eine sehr gute Flasche, wir haben etwas zu feiern.
Wir setzten uns, einen Moment erinnerte ich mich an Gianni Alberti und seinen Auftritt in diesem Lokal, was ist wohl in dieser Woche mit ihm passiert?, dachte ich, welche Geschichte hat er in dieser Woche erlebt? Ich schaute mich um, ich hätte mich nicht gewundert, ihn an einem der anderen Tische zu entdecken, dann aber sagte ich mir, nein, er ist nirgends, nirgends droht noch Gefahr, damit hat es ein Ende, Gianni Alberti ist endgültig aus dem Spiel, es lohnt nicht einmal mehr, Franca nach ihm zu fragen, es wäre ein Sprung zurück, in eine Geschichte von gestern.
Hast Du Dich damals eigentlich nicht gewundert, wie forsch ich bestellte? fragte sie, doch, sagte ich, es war mir nicht ganz geheuer, ich schaute Dir zu, ich dachte, lass sie nur machen, ich bewunderte Dein Tempo und die Bestimmtheit, mit der Du über einen verfügtest. Ja, sagte sie, ich war auf Deine Reaktionen gespannt, ich mache es meist so, wenn ich eingeladen werde, ich stelle die Regeln einfach auf den Kopf, ich nehme den Männern das Heft aus der Hand und warte, was dann geschieht. Und was geschieht? fragte ich, sie entziehen sich meist, antwortete sie, sie trinken nicht richtig, sie tun so, als schmeckte es ihnen nicht, sie zeigen einem diskret, dass sie es besser oder anders gemacht hätten. Und ich? fragte ich, wie war es in meinem Fall? Ich glaube, Du hast Dich gefreut, sagte sie, so etwas, dachte ich jedenfalls, habe ich noch nie erlebt, ein Mann, der sich freut, war mir absolut neu. Aber es stimmt, sagte ich, ich habe mich wirklich gefreut, durch Dein rasches Bestellen gerieten wir so gut in Schwung und in Fahrt, nur Gianni Alberti ..., bitte, sagte sie, sprich jetzt weiter, bitte lass uns auch mit diesem Namen ganz normal umgehen, nur Gianni Albertis Erscheinen, fuhr ich fort, lahmte uns dann, erst als er verschwunden war, ja, erst als er verschwunden war, fällt mir jetzt auf ..., was ist passiert, als er verschwunden war? fragte sie, erst als er verschwunden war, kam plötzlich der Moment, in dem ich dachte, ich habe mich gerade verliebt. Gab es das? fragte sie, gab es das wirklich, einen ganz bestimmten Moment? Ja, sagte ich, ich weiß es noch genau, Du sagtest Es ist schön hier mit Ihnen, genau das war der Moment, es ist schön hier mit Ihnen hörte ich und hatte das Gefühl, als öffnete sich irgendwo eine kleine, winzige Tür, sie sprang plötzlich auf, und ich stand auch schon auf der anderen Seite, es war ein Sprung, Zauberei, ich konnte nicht mehr zurück. Seltsam, antwortete sie, auch bei mir begann es genau in diesem Moment, es ist schön hier, nicht wahr? wollte ich fragen, dann rutschte mir der Satz aber aus, und ich sagte, es ist schön hier mit Ihnen, einen Moment war ich sehr irritiert, ich saß da, als hätte ich einen furchtbaren, peinlichen Fehler begangen, doch dann dachte ich, was schämst Du Dich jetzt, es stimmt doch, es ist schön, hier mit ihm zu sitzen.
Nehmen Sie wieder die Fischsuppe? fragte der Kellner, ja, sagte sie, zweimal die Fischsuppe, nichts vorher, nichts nachher, Fischsuppe und Wein, das genügt, er lächelte, er schien das Spiel gut zu kennen, ohne noch ein Wort zu sagen, räumte er das Besteck ab und ließ nur einen Löffel und für jeden von uns zwei Gläser zurück. Als er verschwunden war, sagte sie, wir sitzen zu weit voneinander entfernt, können wir nicht enger beisammensitzen, geht es nicht ganz eng nebeneinander, an einer Seite des Tisches anstatt so wie jetzt übers Eck? Bitte sehr, sagte ich und stand auf, ich nahm meinen Stuhl und setzte mich dicht neben sie, jetzt sitzen wir dicht nebeneinander und schauen wie ein altes Paar zusammen aufs Meer, sagte ich, noch dichter, sagte sie, noch viel dichter, kümmern wir uns nicht um die anderen Gäste, es geht sie nichts an.
Der Kellner servierte den Wein, ist Ihnen kühl, Dottoressa? fragte er, ja, antwortete sie, mich fröstelt ein wenig, vom Meer her weht eine leichte Brise, er lächelte wieder, dann schenkte er ein, es ist nicht der gute, es ist der sehr gute Wein, Dottoressa, sagte er nur, was geht da vor? fragte ich, was ist mit dem guten und dem sehr guten Wein? Gino und ich, wir benutzen manchmal eine Geheimsprache, sagte sie, wenn ich im Namen des Instituts Gäste zum Essen einlade, verständigen wir uns mit ihren fünf, sechs Begriffen, ich sage zum Beispiel, Gino, trinken wir noch eine Flasche, dann weiß er genau, welche ich will, oder ich sage, trinken wir noch eine gute Flasche, dann bringt er eine bessere. Ich hoffe, der sehr gute stellt das Maximum dar? fragte ich, der sehr gute wurde bisher nur ein einziges Mal getrunken, antwortete sie, mein Vater hat ihn bestellt, als er hier einmal mit mir seinen Geburtstag feierte.
Wir tranken, wir hielten uns an den Händen und schauten aufs Meer, jetzt, dachte ich, ist das Zeitgefühl da, jetzt spürst Du die Zeit, die letzte Woche, sie ist Dir in allen Momenten wie eine Geschichte sehr deutlich präsent, Du könntest sie jetzt auch erzählen, erst jetzt, wo die Hindernisse aus dem Weg geräumt scheinen, liegt sie vor Dir, und Du bist ihr gegenüber frei. Was ist? fragte sie, woran denkst Du?, ich lehnte mich zurück und begann zu erzählen, ich spürte die belebende Wirkung des Weins, es war wie am ersten Mittag kurz nach meiner Ankunft, ich erzählte von Carlo und seiner Begrüßung, sie lehnte sich an mich, ich legte meinen rechten Arm um ihre Schulter, wir saßen in einem großen, gewaltigen Kino, das Meer war die Leinwand, wir schauten uns die Rohfassung eines gerade fertiggestellten Films an, die Bilder der letzten Tage reihten sich aneinander, wir hielten sie an, wir spulten vor und zurück ..., bis Gino, der Kellner, die Fischsuppe brachte. Ich konnte mich nicht beherrschen, ich kostete sie gleich, es ist alles darin, dachte ich, es ist der Sud all dieser Tage, es ist, als hätten wir die ganze Zeit mit der Herstellung einer solchen Suppe verbracht. Hör nicht auf zu erzählen, sagte sie, bitte hör jetzt nicht auf, nein, sagte ich, ich höre nicht auf, ich erzähle weiter, es ist die Freiheit, dachte ich, die gerade gewonnene Freiheit ist der Grund für diese Erzähl-Lust, jetzt kommt die ganze Geschichte erst an in unseren Köpfen, langsam erwachen wir aus dem Taumel, die Angst stiehlt sich fort, Gianm Alberti ist nur noch ein Name, jetzt feiert die Liebe sich selbst, jetzt ist sie reine Verausgabung und schönste Verschwendung, sie hat nichts mehr zu tun mit Anderem, Fremdem, sie erfüllt sich, ja, in diesen Stunden erfüllt sich wahrhaftig das Glück.
Kurz nach Mitternacht verließen wir das Lokal, komm, sagte sie, gehen wir noch einmal ans Meer, wir gingen die schmale Gasse entlang und bogen in einen dunklen Korridor ein, der zwischen den Hafenwerkstätten zum Meer führte. Es roch stark nach Benzin und nach Öl, wir gelangten an die Kaimauer, sie drehte sich zu mir, ich zog sie eng an mich heran, dann spürte ich, wie ihre Hände unter mein Hemd glitten, es war eine blitzartige, direkte Bewegung, wie die eines Fisches, der aus dem Hellen ins Dunkel schnellt, ich hielt still, ich spürte ihre Hände auf meiner Haut, dann ertastete auch ich ihre Haut mit meinen Händen, ich ging auf die Jagd nach dem Fisch, ich begann, ihn zu suchen, er leuchtete, tauchte unter, tauchte auf in der Schwärze des Meeres, in der Tiefe der Nacht.

#32 
regrem патриот17.02.16 18:37
NEW 17.02.16 18:37 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:26 (regrem)
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ALS ICH am Morgen erwachte, war ich allein, ich stand auf, ging ins Bad und dann in die Küche, ich suchte nach einer Nachricht, dann fand ich den kleinen Zettel auf dem Tisch, gute Fahrt, bis Freitag kommender Woche, in Liebe Deine Franca. Ich nahm ihn in die Hand, ich las ihn langsam, zwei-, dreimal, ich musste lächeln, so einfach war also jetzt alles. Ich ging zum Fenster und schaute hinab auf die Stadt, der Aufbrach heute würde mir leichtfallen, ich war ganz ruhig und seltsam entspannt, wie schön, dachte ich, waren dieser letzte Abend und diese Nacht, ein einziges Fest, ein langes Ausklingen der vielen Geschichten. Ich zog mich an, ich packte meine wenigen Sachen in den Rucksack, in der Wohnung wollte ich mich allein nicht gern länger aufhalten, ich notierte auf den Zettel noch die Adresse der Osteria in München, dann verließ ich das Haus.
Ich ging langsam die vielen Treppen und das leicht abschüssige Gelände hinab in die Stadt, der große Markt war wieder in vollem Gang, ich schlängelte mich zwischen den Ständen hindurch und trank in einer Eckbar einen Café, vier bis fünf Stunden hatte ich bis zur Abfahrt des Zuges noch Zeit, ich brauchte mich nicht zu beeilen. Ich überlegte, ob ich in der Stadt noch etwas zu erledigen hatte, mir fiel aber nichts ein, ich fühlte mich leicht und angenehm unbelastet, ich schaute mir die Marktstände nicht mit dem Blick eines Käufers, sondern mit dem eines Spaziergängers an, dann bog ich auf den breiten Boulevard am Meer ein und ging langsam zurück zu meinem Hotel. Ich suchte mein Zimmer auf, ich rasierte mich, von meinem Balkon schaute ich noch einmal aufs Meer, heute, am letzten Tag, dachte ich, verwandelst Du Dich in einen Touristen, Du gehst hinunter zum Strand, Du legst Dich auf genau den Liegestuhl, der schon seit Tagen für Dich reserviert ist, Du gehst ganz in der Rolle des sorglos vor sich hindämmernden Fremden auf, der weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denkt.
Der Gedanke gefiel mir, plötzlich empfand ich diese Rolle als Verlockung und das Dämmern und Liegen wie einen Luxus. Ich steckte die Badesachen in meinen Rucksack, dann ging ich hinunter zum Strand, eine Aufsichtsperson kam gleich angelaufen, um mir beim Aufklappen des Sonnenschirmes zu helfen, ich bedankte mich, schickte den Mann aber zurück zur Bar, ich wollte den Sonnenschirm selbst aufklappen, unbedingt. Vor ein paar Tagen, dachte ich, wärest Du nicht in der Lage gewesen, diesen Sonnenschirm aufzuklappen, Du hättest weder die Ruhe noch irgendeinen Sinn dafür gehabt, jetzt aber ist es etwas anderes, jetzt ist es ein Zeichen dafür, dass sich alles so glücklich gefügt hat. Ich drehte den Schirm so, dass der Schatten auf den Liegestuhl fiel, ich nahm mein meeresbiologisches Fachbuch aus dem Rucksack und schlug es noch einmal auf, diesmal überblätterte ich die langen, erläuternden Textteile und widmete mich ausschließlich den bunten Abbildungen. Es ist mir ein Rätsel, dachte ich, wie man als bildender Künstler weiterarbeiten kann, wenn man einen orangenen Strahlenschwamm oder einen Kalkröhrenwurm einmal aus der Nähe gesehen hat, der Kalkröhrenwurm hatte eine weiß-rote Tentakelkrone, die wie ein Schleier mit sehr feinen, dünn zulaufenden Fransen auf die Bewegungen des Wassers reagierte, ein derart ästhetisches Naturgebilde, dachte ich, überbietet jede künstlerische Hervorbringung und degradiert sie zu einer Marotte, als Künstler würde ich nichts anderes tun, als die Natur auszustellen, ich würde minimale Partien der Unterwasserlandschaften geschickt isolieren, sie vergrößern und wie fremde Ländereien in großen Galerieräumen aufbauen. Ich ließ das Buch sinken, ich schaute hinaus aufs Meer, in gewissem Sinn hatte ich in den letzten Tagen das Meer so betrachtet, ich hatte mir Details vorgenommen und sie gleichsam wie mit der Lupe studiert. Ich stand auf und ging ein wenig am Strand auf und ab, ich erinnerte mich an die Idee von Vertikale und Horizontale, von der Francas Vater gestern gesprochen hatte, wieso, fragte ich mich und verfolgte die Wellen, wieso bewegen sie sich immer im rechten Winkel auf den Strand zu, gleichgültig von wo der Wind kommt und wie stark er bläst, im Grunde müssten sie doch von allen Seiten her auf den Strand zurollen?
Ich nahm mir vor, Franca in München gleich einmal danach zu fragen, sie konnte mir in ihrem Urlaub bei der Arbeit am Konzept des Films gut helfen, es wird ein Vergnügen sein, dachte ich, diesen Film weiter zu planen und zu verwirklichen, noch nie habe ich an einem Projekt mit einem solchen Enthusiasmus gearbeitet. Ich ging einige Schritte ins Wasser, wie wäre es, dachte ich weiter, jetzt noch einmal hinauszuschwimmen, sehr weit hinaus, so weit, wie Du bisher noch nie geschwommen bist? Ich schirmte meine Augen gegen das Sonnenlicht ab, die Horizontlinie des Meeres zitterte wie eine gleißende Ziellinie in der unendlichen Ferne, schwimm, dachte ich, schwimm! Ich ging langsam weiter ins Meer und ließ mich hineingleiten, ich schwamm mit regelmäßigen, ruhigen Stößen los, ich tauchte und schwamm unter Wasser, solange die Luft reichte, ich kam hoch und tauchte wieder ab, die Stimmen hinter mir wurden leiser, bald hörte ich nichts mehr außer dem gleichmäßigen Schwappen und Klatschen des Wassers, für Sekunden schwebte ich durch eine hellgrüne Lautlosigkeit, ich sah die feinen Netze, die die Sonne durchs Wasser zog, ich sah die goldtrunkene Tiefe, in die die Fische abtauchten, ich erreichte das Riff und schwamm an einer niedrigen Stelle hinüber, ich schwamm ins offene, aufleuchtende Meer, nichts war noch zu erkennen, nichts, was an den Strand und das Ufer erinnerte, ich schloss die Augen und schwamm. Als ich genug hatte, drehte ich mich zur Küste hin um, sie lag da wie ein buntes Panoramabildchen, ich hatte sie hinter mir gelassen, ich gehörte den Wellen, der Sonne und den wenigen Möven, die so weit draußen noch kreisten, um mich auszuruhen, legte ich mich auf den Rücken, ich breitete die Arme aus und ließ mich treiben, langsam, unmerklich rollten die steten Wellenbewegungen mich wieder zurück, dem Riff und der Küste entgegen, ich machte den Körper so leicht wie möglich, ich wollte ein Hohlkörper sein, mit dem die Wellen leichtes Spiel haben würden.
Als ich wieder an Land ging, hatte ich das Gefühl, sehr weit fort gewesen zu sein, ich duschte das Salzwasser ab und ging in die dunkle, kleine Umkleidekabine, ich starrte durch ihre kleine Öffnung hinaus in den Himmel, dann zog ich mich um und ging noch einmal zur Strandbar, um mitzuteilen, dass ich Liegestuhl und Sonnenschirm nicht mehr brauchte. War's das für dieses Jahr? fragte der Mann an der
Kasse, nein, sagte ich, ich komme bald wieder, ich werde versuchen, dachte ich, die Dreharbeiten auf den August oder den September zu legen, fünf, sechs Wochen werden wir hier mindestens drehen, die Dreharbeiten könnten direkt an Francas Urlaub in München anschließen, dann wären wir ab Freitag kommender Woche für lange Zeit ununterbrochen zusammen. Ich atmete durch, die Geschichte trägt, dachte ich, sie gehört jetzt zu Dir, dann ging ich zurück ins Hotel und bat Carlo, mir ein Taxi zu rufen. Ich holte das Gepäck aus meinem Zimmer und trug es hinab ins Foyer, werden Sie noch einmal bei uns übernachten? fragte Carlo, ich wohl nicht, antwortete ich, sicher aber die Filmcrew, Sie werden meinen nervösen Kollegen kennenlernen, der ein so wunderbares Italienisch spricht, ich werde mich wegen der genauen Termine bald bei Ihnen melden. Und die Dottoressa? fragte Carlo, werden Sie die Dottoressa wiedersehen? Das, Carlo, antwortete ich, darf ich Ihnen nicht verraten, denn es ist ein Geheimnis zwischen der Dottoressa und mir, spätestens im August werden wir aber darüber sprechen.
Ich bezahlte die Rechnung, ich umarmte Carlo und bedankte mich für seine Hilfe, dann kam das Taxi, ich setzte mich in dem Wagen nach hinten und ließ mich zum Bahnhof fahren. Die lange Palmenallee des Boulevards ..., das Pinienwäldchen mit den Kinderspielplätzen ..., die Boccia-Bahnen neben den Tennisplätzen ..., der kleine Leuchtturm ..., die Mole ... - jetzt war all das schon Teil einer schönen Erinnerung. Was wird es für eine Freude sein, wieder hierher zu fahren, dachte ich, und wie wirst Du dieses Gelände nach Deiner Rückkehr wieder in Augenschein nehmen, selbst die unscheinbarsten Einzelheiten werden Dich an etwas erinnern!
Ich schaute auf die Uhr, es war noch fast eine Stunde bis zur Abfahrt des Zuges. Das Taxi hielt vor dem Bahnhof, ich nahm das Gepäck heraus und trug es hinüber auf die andere Straßenseite, zu den alten Voyeuren in den weißen Plastiksesseln. Ich grüßte sie, ich testete, ob sie mich wiedererkannten, sie erkannten mich aber nicht. Ich setzte mich und bestellte einen Campari, das ist kein Abschied, dachte ich, sondern nur eine vorübergehende Abwesenheit, spätestens in sechs Wochen werde ich wieder hier sein. Ich schaute zu, wie die blauen Überlandbusse vor dem Bahnhofhielten und die Menschen, die in die Bergdörfer fahren wollten, einstiegen, la terra marchigiana, dachte ich, dieses schöne, in sich versunkene Land, ich trank den Campari aus und griff nach meinem Gepäck, dann ging ich durch die Unterführung auf den Bahnsteig. Ich wartete, der Zug hatte zehn Minuten Verspätung, ich besorgte mir noch einige Zeitungen und ging wieder auf den Bahnsteig zurück, als der Zug eingelaufen war, stieg ich sofort ein. Ich fand ein leeres Abteil und zog die Vorhänge vor, ich schob das Fenster herunter und lehnte mich noch einmal hinaus, da erkannte ich sie nicht weit entfernt in der Nähe der gelben Fahrplantafel. Sie trug das grüne, lange Kleid mit der goldenen Kette, sie blickte am Zug entlang und sah mich plötzlich, sie blieb aber stehen und kam nicht auf mich zu, sie fuhr sich mit der Hand durch das lange Haar, sie schaute mich unverwandt an, sie ließ mich nicht aus den Augen, dann fuhr der Zug an, ich kam näher, ich sah ihr ruhiges Lächeln, sie hob die Hand nur ein klein wenig, wir flogen aneinander vorbei, bis Freitag, rief ich, dann sah ich, wie ihre Hand niedersank und sie sich aufreckte, sie drehte sich um, ich verlor sie aus den Augen.

#33 
regrem патриот17.02.16 18:37
NEW 17.02.16 18:37 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:27 (regrem)
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SEIT EINER WOCHE bin ich nun wieder in München…in drei Tagen wird Franca kommen. Ich habe sehr ruhige, aber seltsame Tage verlebt, noch immer bin ich mit meinen Gedanken im Süden, ich habe mich von den fernen Bildern und Atmosphären nie wirklich gelöst. Ich stehe früh auf, ich halte es in der Wohnung nicht lange aus, ich hole mein Fahrrad aus dem Hof und fahre jeden Morgen zu der kleinen italienischen Bar ganz in der Nähe, dort frühstücke ich im Stehen und unterhalte mich italienisch, wie wird wohl heute das Wetter?, variabile, nuvolo, nuvoloso, schon dieser knappe Austausch von Formeln und Redeweisen macht mir Vergnügen. Meist bin ich ah erster in den Räumen der Redaktion, Rudolf kommt meist erst gegen Elf, ich habe ihm meine Meeres-Bilder und die Bilder von den Arbeiten der Forschungsstation gezeigt, wo ist denn Deine Schönheit zusehen? fragt er immer wieder, warum versteckst Du sie vor mir? Ich habe ihm nicht erzählt, dass ich noch andere, private Bilder gemacht habe, die Kassette mit diesen Aufnahmen habe ich mit nach Hause genommen, beinahe jeden zweiten Abend sehe ich sie mir an, ich bin immer wieder verblüfft darüber, wie unvermindert stark sie wirken und wie gut sie mich zurückversetzen in diese unvergesslichen Tage. Mit der Zeit ist es mir gelungen. Rudolfs Neunerde zu bremsen, ich erklärte,, dass ich ihm die Geschichte nicht ausführlich erzählen könne, weil ich befürchte, meine Erinnerungen dadurch zu vereinfachen oder sogar zu zerstören, er hielt das alles für übertrieben, er zog mich auf mit meiner Geschichte, erst ah ich ihm erzählte, dass Franca in wenigen Tagen nach München komme, gab er Ruhe, obwohl er manchmal, wenn wir nebeneinander im Studio sitzen und uns das Filmmaterial anschauen, noch den Kopf schüttelt und sagt, ich verstehe es immer noch nicht, ich verstehe nicht, wie einem so etwas zustoßen kann. Unheimlich ist ihm vor allem die Euphorie, die er angeblich an mir bemerkt, er behauptet, ich schaue, laufe, ja bewege mich insgesamt anders, wie anders? frage ich ihn, und dann sagt er, rascher, wendiger, als wäre man hinter Dir her. Ich lache, ich sage nur, was für ein Unsinn, insgeheim aber denke ich darüber nach, ob er nicht Recht hat, schließlich ist mir auch selbst aufgefallen, dass ich sogar schneller Fahrrad fahre als sonst und selbst an den Kreuzungen nicht warte, sondern meist versuche, weiterzufahren und in Bewegung zu bleiben. Rudolf führt das alles auf eine, wie er sagt, innere Unruhe zurück, er stellt sich vor, dass ich grübelnd und alles in Gedanken immer aufs neue abwägend und umwälzend durch die Straßen von München radle, das aber ist nun wirklich Unsinn, ich grüble und sinniere nicht einen Moment, ich schwelge höchstens im Stillen, ganz für mich, in Bildern und den noch frischen Erinnerungen. Heute, hat Rudolf schon mehrmals gesagt, ist Dein Strahlen beinahe nicht zu ertragen, merkst Du nicht, wie Du strahlst, etwas richtigpenetrant Strahlendes hast Du, auch darüber musste ich lachen, den Gefallen, melancholisch zu werden, sage ich, kann ich Dir einfach nicht tun, Rudolf erwartet nämlich, dass die Melancholie mich befällt, sie wird kommen, sagt er immer wieder, sie ist schon in Dir, Du lässt sie nur noch nicht an Dich heran, früher oder später bricht sie aber durch, und dann kommt der Absturz. »Der Absturz« ist eine von Rudolfs Lieblingsvokabeln, auf Glück und Freude folgt in seinen Augen zwangsläufig »Der Absturz«, Rudolf hat von der Liebe einfach keine sehr gute Meinung, »Liebe«, sagt er, hat etwas Unberechenbares, Sprunghaftes, ich da-gegen Hebe höchstens das Bier, Bier ist solider, denn beim Bier ist der Absturz eine vorhersehbare, kalkulierbare Sache. Wenn er so redet, lasse ich ihn gewähren, insgeheim, denke ich, irritiert es ihn vielleicht, dass er selbst die Liebe ganz abgeschrieben hat, er fühlt sich mir gegenüber im Hintertreffen, ich halte da nicht mehr mit, sagt er, ich habe ihn im Verdacht, dass er diese offene Resignation mit seinem Alter verbindet, wenn Du Vierzig bist, hat er zynisch behauptet, wird sogar Sex zu einer lächerlichen Verrenkung. Ich höre mir seine Abwehr und seinen Spott an, sie berühren mich aber nicht, ich setze mich in diesen zum Glück sonnigen Sommertagen sogar gerne mit ihm für ein oder zwei Stunden in einen Biergarten, er holt das Bier, ich besorge etwas zu essen, wenn er einigermaßen gelaunt ist, gelingt es uns, diese abendlichen Stunden der Dämmerung ohne jeden Streit zu genießen ...
Vorgestern bin ich in eine Buchhandlung gegangen, um mir Bücher und Bildbände über die Marken anzuschauen, es war kaum etwas vorhanden, ich bat die Buchhändlerin, in ihrem Computer nachzuschauen, bitte drucken Sie doch eine Liste mit allen bestellbaren Titeln aus, sagte ich, wozu? fragte sie, brauchen Sie wirklich die ganze Liste?, sie konnte nicht ahnen, dass ich eigentlich nur mit jemandem über die Marken sprechen wollte, ich blätterte dann die wenigen Bände durch und begann, einige Städtenamen zu nennen, sie schaute mich ganz verständnislos an und ließ mich schließlich allein zurück. Als ich zufällig in einem der Bände eine Fotografie des großen Platzes von Ascoli aufschlug, musste ich rasch weiterblättern, denn das Bild rückte, je länger ich es anschaute, näher, als wollte es mich mit aller Macht in die Vergangenheit ziehen. Plötzlich hörte ich die Stimmen der herumstehenden Gruppen, das Bild schien sich zu beleben, ich tauchte hinein, es war beinahe derselbe Effekt wie beim richtigen Tauchen, ich nahm die reale Umgebung nicht mehr wahr, ich tauchte ab in eine andere Zeit und. eine andere Umgehung.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich manchmal mein Hotelzimmer wieder, ich sehe mich auf dem breiten Bett hegen und hinaus zum Himmel schauen, ich warte, ich träume, langsam entzieht mir mein Träumen den Boden, schon bin ich unten am Strand, aber nicht im offenen, freien Terrain, sondern in der Umkleidekabine, mein Stehen in diesem dunklen Raum hat etwas von einer seltsamen Andacht, kerzengerade, mit herunterhängenden Armen, stehe ich da, mein Kopf schaut wieder nach oben, zum Himmel, durch die kleine Öffnung in der Kabine beobachte ich das Ziehen der Wolken, ich scheine zu zählen und wieder zu warten, dann schlüpft sie plötzlich zu mir hinein, wir umarmen uns, ich sage, da bist Du ...
Heute Morgen war mein Fernweh so groß, dass ich mich entschloss, mit Carlo zu telefonieren. Ich saß allein in den Redaktionsräumen, ich riegelte meine Tür ab, ich sprach leise, als müsse ich dieses Gespräch geheim halten. Carlo dachte, ich wolle bereits die Zimmer für die Filmcrew bestellen, wie viele sind es, wie lange bleiben Sie? fragte er, ich antwortete ausweichend, ich sagte, ich wolle lediglich ein günstiges Angebot einholen, natürlich ahnte er nicht, warum ich eigentlich anrief. Während er sprach, lauschte ich auf die Geräusche in seiner Nähe, ich hörte Geschirrklappern und dachte, ah, sie frühstücken, ich hörte kurze Zurufe und achtete nur noch darauf, eine Familie war gerade im Aufbruch, können Sie mich gut verstehen? fragte Carlo, nein, sagte ich, es tut mir leid, die Verbindung ist leider nicht gut, ich rufe in ein paar Tagen noch ein-
mal an.
Immer wieder gehe ich die Nahaufnahmen durch, die ich von ihrem Gesicht an dem Abend gemacht habe, als sie mit ihren Freundinnen unterwegs war. Ich drehe den Ton herunter, ich schaue mir die Bilder in Zeitlupe an, jedes Mal entdecke ich etwas Neues, die Zungenspitze, die für den Bruchteil einer Sekunde versteckt eine winzige Partie der Oberlippe abfährt, die unruhig wandernden, immer nur für einen kurzen Moment auf einem Gegenüber verweilenden Augen ..., natürlich lese ich das alles als Ausdruck einer großen Erwartung, unbewusst, denke ich, wartet sie darauf, dir zu begegnen …
Meine Bilder von Gianni Alberti auf dem Markt von San Benedetto erscheinen mir jetzt wie Szenen eines komischen Films, man sieht ihn rauchen, trinken, nach einem Apfel greifen, er hustet, schnäuzt sich, trinkt wieder ..., da die einzelnen Sequenzen nie länger sind als ein paar Sekunden, wirkt der Zusammenhang wie ein Lehrfilm, mit dem man etwas erklären will: Schaut einmal her, liebe Kinder, was macht dieser Mann alles? Durch den Lehrfilmcharakter verschwindet die reale Gestalt Gianni Albertis aber allmählich, er ist nur noch ein Typ oder eine Fbrführfigur .,., ohne darüber nachzudenken, beinahe instinktiv, habe ich mir für Alberti eine Darstellungsform einfallen lassen, die ihn verkleinert und schließlich unkenntlich macht.
Am schlimmsten ist es spät in der Nacht, ich liege sehr lange wach, stehe auf, notiere Passagen wie diese in mein schwarzes Notizbuch, dann lege ich mich wieder hin, ich vermisse sie neben mir, ich versuche, etwas wiederzufinden vom Ton ihrer Stimme, wie schön war es in diesen südlichen Nächten, wenn wir an der Grenze zum Schlaf lanye ins Dunkel murmelten und die Stimmen brüchiger wurden ..
Immer wieder lese ich in meinem schwarzen Notizbuch und frage mich, ob diese Texte oder die mitgebrachten Bilder die stärkere Wirkung ausüben. Die Texte erscheinen mir zu momentan, manchmal habe ich sogar Mühe, die Stimmung, in der ich sie schrieb, nachzuvollziehen, die Emotionen schwingen sich in ihnen aus, daher wirken diese Texte auf mich beinahe wie Vene. Die Filmbilder dagegen sind zu präzise, sie locken keine Phantasien und nicht den ganzen Reichtum der Erinnerungen an, ich verwende sie vor allem, um etwas nachzuschauen oder zu überprüfen, eine sinnliche Macht haben sie, anders zum Beispiel als Fotografien, eben nicht. Fotografien, wie das Foto des großen Platzes von Ascoli, wirken stärker, weil sie Standbilder eines Bildflusses sind, zu diesen Standbildern ergänze ich die Bilder des Vorher und Nachher, und genau dadurch, durch diese Ergänzung, werden die übrigen Sinne rege und bringen so etwas wie »Erinnerungen« hervor ...
»Plötzlich das Meer, ganz nah« - mit diesem Satz habe ich zu schreiben begonnen, meine Notizen liegen neben mir, ich schreibe, ich horche, ich weiß nicht, ob ich eine gewisse Atemlosigkeit treffe, ich möchte, dass mein Schreiben einen hellen, »begeisterten« Grundton erhält, ich sehe mich nachts in Bologna, ich sehe das Abteil, den Japaner, den Schweizer, ich reise, ich bin erneut unterwegs …

#34 
regrem патриот17.02.16 18:37
NEW 17.02.16 18:37 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:30 (regrem)
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AN DEM FREITAG, an dem ich ihre Ankunft erwartete, fuhr ich nicht in die Redaktion, ich stand noch früher auf als sonst, ich holte mein Fahrrad hervor, besorgte mir mehrere Zeitungen und fuhr dann stundenlang durch die Stadt. Den ganzen Tag verbrachte ich mit kleinen Besorgungen, ich kaufte Wein und etwas zu essen für die nächsten Tage ein, dann kümmerte ich mich um die Wohnung, ich räumte auf und stellte einen Strauß Blumen in die Vase in der Nähe des großen Fensters.
Am frühen Abend nahm ich zwei Zeitungen unter den Arm, ich schloss die Wohnungstür ab und dachte, ab heute Nacht kommst Du nicht mehr allein hierher zurück, es war ein warmer, stiller Sommerabend, die Straßen waren leer, die meisten Anwohner waren längst in die Ferien gefahren. Ich brauchte kaum zehn Minuten bis zur Osteria, ich hatte einen ganz bestimmten Tisch in der Nähe des Eingangs reserviert, ich öffnete die Tür des Lokals und trat durch den Spalt des dunklen Vorhangs hinein, einer der Kellner kam auf mich zu, begrüßte mich, deutete auf den Tisch und sagte, ist es der Richtige, wollten Sie genau diesen Tisch? Ja, sagte ich, vielen Dank, genau diesen, ich erwarte noch eine zweite Person, die Signora kommt in einer halben oder dreiviertel Stunde, ich habe etwas zu lesen dabei, bringen Sie mir doch schon die Karte und ein Glas Weißwein.
Ich setzte mich, ich nahm mit dem Rücken zum Eingang Platz, ich studierte ausführlich die Karte und komponierte im stillen ein kleines Menü, dann schaute ich auf die Uhr, ich ließ den Kellner kommen, um bereits zu bestellen, ich sagte, bringen Sie jetzt eine Flasche, es ist gleich soweit. Sind Sie ganz sicher? fragte er, oder sollen wir nicht lieber warten?, nein, sagte ich, bringen Sie jetzt den Wein, ich bin ganz sicher. Er brachte die Flasche, öffnete sie und ließ mich kosten, er stellte die Flasche in einen Kübel mit Eis, das Eis klirrte leise, da hörte ich, wie die Tür des Lokals sich öffnete, ein schwacher Windzug fuhr durch den Raum, jemand trat ein, der Kellner bewegte sich eilig zum Eingang, buona sera, signora, sagte er, Sie werden bereits erwartet.
Ich hörte ihre Stimme, buona sera, vielen Dank, sie klang sehr ruhig, vollkommen sicher und war von jener melodisch klingenden Art, die mich schon einmal hatte aufhorchen lassen.


- ENDE -


Die große Liebe

#35 
regrem патриот19.02.16 14:02
NEW 19.02.16 14:02 
in Antwort regrem 17.02.16 17:53

#36 
1 2 alle