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regrem патриот17.02.16 17:53
NEW 17.02.16 17:53 
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Die große Liebe

Я начинал уже читать эту книгу, прочел пару страниц и забросил.

Ну а здесь поневоле придётся читать - вруг начнётся обсуждение, а я не читал.

Конечно буду читать - подключайтесь!

#1 
regrem патриот17.02.16 17:55
NEW 17.02.16 17:55 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 17.02.16 17:57 (regrem)
- 1 -

PLÖTZLICH das Meer, ganz nah, eine graue, stille, beinahe völlig beruhigte Fläche. Ich reckte mich auf und schaute auf die Uhr, zwei, drei Stunden hatte ich vielleicht geschlafen, jetzt war früher Morgen, kurz nach Fünf, ein Juli-Morgen an der italienischen Adria-Küste. Ich hatte das Meer einfach vergessen, jahrelang hatte ich es nicht gesehen, jetzt lag es mir wie eine weite Verheißung zu Füßen, unaufdringlich und groß, als bekäme ich mit ihm zu tun. Noch war die Sonne nicht da, der Himmel noch graublau und fahl, am Strand keine Bewegung, kein einziger Mensch, nur hier und da einige verlassene, verstreut stehende Liegestühle, Kinderspielzeug, Gerumpel, die schiefen, zusammengeklappten Sonnenschirmpilze, Liegengebliebenes ... Doch all das reichte schon, mich zu erregen, es war eine meinen ganzen Körper erfassende Erregung, wie sie mich nach langen Nachtfahrten in Zügen oft in der Morgenfrühe befiel.

Zwei weitere Fahrgäste teilten das Zugabteil mit mir, ein stiller, keinen Laut von sich geben der Japaner und ein junger Schweizer, der sich in der Nacht umgezogen und schlafen gelegt hatte, als wäre er noch immer ein wenig bei sich zu Haus. Ich kletterte vorsichtig über die steifen, schlafenden Körper und trat auf den Gang, ruhig und schnell glitt der Zug durch die Landschaft, in der Ferne die grünen Olivenhügel des Südens, mit einem Mal spürte ich mein aufgeregt klopfendes, hellwaches Herz. Im Waschraum wusch ich mir durchs Gesicht, dann schaute ich, als müsste ich mich vergewissern, durch das heruntergezogene Fenster der Waggontür noch einmal hinaus. Das Meer! ..., ja, das Meer, die Überraschung hielt an, der Eindruck stimmte, am liebsten wäre ich ausgestiegen, um jetzt, sofort, am Meer entlangzugehen, stundenlang, den ganzen Morgen, wie schön wäre es, dachte ich, so anzukommen, irgendwo ausgespuckt und gleich in der Weite verschwindend.

Dann blieb der Zug stehen, die Wolken hingen schwer und staubgrau über dem Wasser und verdeckten noch immer die Frühsonne, es war sehr still, die meisten Fahrgäste schliefen, der stehende Zug atmete aus, immer matter und ruhiger. Draußen, auf dem kleinen Dorfbahnsteig, ging das Zugpersonal auf und ab, als hätte alles so seine Ordnung und als befänden wir uns in einem Film der Fünfziger Jahre. Niemand sprach, eine wattige, dichte Wärme drang herein, vollgesogen mit dem Erdgeruch der nahen Umgebung, dann ein Pfiff, das Personal stieg wieder ein, und die Lok zog vorsichtig an, um unerwartet schnell zu beschleunigen. Mit einem Mal erreichte der Zug eine hohe Geschwindigkeit, die Küstenlandschaft raste wie kleingeschnitten vorbei, gefräst oder zerhäckselt von diesem Tempo.

Ich ging in den Speisewagen und trank einen starken, schwarzen Kaffee, als ich ins Abteil zurückkam, waren auch die beiden anderen Fahrgäste wach. Der Japaner, der die ganze Nacht unter einem bunten, wie ein Linnen über den Körper gebreiteten Tuch verbracht hatte, verbeugte sich kurz, während der junge Schweizer schon seine Verpflegung auspackte. Ich nahm die kaum handgroße, digitale Kamera, die Rudolf mir mitgegeben hatte, aus meinem Gepäck, setzte mich wieder ans Fenster und filmte das vorbeigleitende Meer. Manchmal drängten sich hässliche Häuser aus unverputztem Beton vor den Anblick, minimale

Gerippe auf ein paar dürftigen Fundamenten, aber ich filmte weiter, denn das Meer leuchtete immer wieder zwischen diesen Bauten hervor. Allmählich belebte sich die Kulisse, einzelne Figuren standen am Strand und schauten mit verschränkten Armen in die Weite, manche waren auch in die Hocke gegangen, als wollten sie den Strand abtasten, es waren fast immer Männer, Männer ohne Begleitung oder höchstens zu zweit, tastende, lauschende, schauende Männer, vom Anblick des Meeres in eine seltsam ruhige Andacht versetzt.

Das alles erschien auf dem Display meiner Kamera, der kleine Bildschirm verwandelte es sofort in einen strahlenden Film. Der junge Schweizer beugte sich zu mir hinüber und warf einen Blick darauf, aha!, sagte er kurz und erstaunt, als habe er mit so viel Präzision nicht gerechnet. Auch mir erschien die Abbildung auf dem Bildschirm präziser, festlicher und genauer als das Original, erst gestern Abend hatte Rudolf mir in München die Funktionen des kleinen Geräts erklärt, schließlich war ich nur ein Amateur, der den Umgang mit solchen Apparaten nicht wirklich beherrschte.

Einen kurzen Moment dachte ich daran, wie wir in der Osteria italiana zu Abend gegessen hatten, ich hatte Kohlrabi Suppe, Kalbsnieren und Erdbeeren bestellt, und Rudolf hatte lange von allen nur möglichen Kamera-Feinheiten gesprochen, ganz detailliert, er wurde dabei immer verzückter, als habe er selbst diese Technik erfunden, während mir nichts anderes übriggeblieben war, als in der Bedienungsanleitung zu blättern. Ich hatte ihm nicht mehr folgen können, viel zu lange hatte ihn das Thema gepackt, es war mir seltsam vorgekommen, dass er mein Schweigen nicht bemerkt hatte, er hatte immer weitergesprochen, als müsste ich wirklich jede Einzelheit wissen. Rudolf war schon oft mit dieser kleinen Kamera gereist, manchmal kam es mir so vor, als reiste er nur, um sie auszuführen, immerzu dachte er in Einstellungen und Schnitten, der Beruf des Kamera-mannes prägte seine Wahrnehmung so sehr, dass er überhaupt nicht mehr naiv in die Welt schauen konnte. Ich hatte ihm schließlich nicht mehr zugehört, sondern auf die Geräusche draußen geachtet, manchmal, wenn neue Gäste hereingekommen waren, war ein frischer Windzug durch das Lokal gestreift, und ich hatte eine bittere Erdfeuchtigkeit gerochen, die Feuchtigkeit des leichten Regens, der so sehr zu den breiten Münchener Straßen passte. Im Taxi zum Bahnhof hatte Rudolf wieder von Technischem gesprochen, als wäre er besorgt, ich könnte die Kamera falsch bedienen, ich hatte ihm sogar versprechen müssen, mich bei eventuellen Problemen zu melden. Jetzt, jenseits der Alpen, erschienen mir seine Beschwörungen wie eine deutsche Marotte, als verstünde er nichts vom schwerelosen, leichteren Leben auf dieser Seite der Berge.

Ich stoppte die Aufnahme, ein heller, kurzer Signalton erklang, plötzlich grinsten wir alle drei, sogar der Japaner tat amüsiert. Seit wir zusammen reisten, hatten wir kaum miteinander gesprochen, jeder reiste auf seine Weise, und als folgten wir einer unausgesprochenen Regel, blieben wir stumm und verkehrten miteinander nur pantomimisch, der Japaner schwieg wie ein Meister des Zen, während der junge Schweizer beinahe ununterbrochen werkelte, leise mit sich selbst redend.

Ich packte die Kamera weg, holte mein schwarzes Notizbuch hervor und begann zu schreiben. Die verhangene Sonne presste noch eine Weile ein mattes Licht gegen den dichten Wolkenvorhang, dann sah ich die ersten, durch das Grau schießenden Sonnenflecken, sie sprangen über das Meer und zitterten in der Ferne, ich äugte immer wieder dorthin hinaus, während ich schrieb. Zum ersten Mal seit vielen Jähren fahre ich wieder allein ohne Kollegen, ohne Freunde, ohne eine Frau an meiner Seite. Ich hätte den Billigflug nach Pescara nehmen können, es hätte kaum mehr ah eine Stunde gedauert, aber ich wollte noch einmal fahren wie früher, ah Schüler und ah Student, ah es eine Sache der Ehre war, so billig wie möglich zu reisen. So habe ich zwei Stunden mitten in der Nacht auf dem Bahnhof von Bologna verbracht und später versucht, ausgestreckt, auf zwei harten Sitzen eines Zugabteils zu schlafen. Wie früher dehnte sich die Nacht und schien kein Ende zu nehmen, und wie früher war mit der ersten Helligkeit das alles vergessen und die Übermüdung wie weggeblasen. Sogar das alte Glücksgefühl ist wieder da, ein Gefühl, das mit dem Alleinreisen zu tun hat, ah brauchte man zum Alleinreisen Kraft, Überwindung und Ausdauer und ah belohnte einen das Glück, wenn man von alledem genug aufbietet. Vielleicht ist das Glück aber auch eine Entspannung, denn erst jetzt, jenseits der Alpen, ist es mit den ersten Sonnenstrahlen da, erst jetzt, wo ich aufhöre, an München, die Arbeit und die Freunde zu denken. Seit einem Jahr gibt es die Frau an meiner Seite nicht mehr, noch vor wenigen Monaten hätte ich oft an sie denken müssen, ich glaube, das ist jetzt vorbei, auch die Frau an meiner Seite denkt nicht mehr an mich, vielleicht ist es uns tatsächlich gelungen, unsere gemeinsame Zeit hinter uns zu lassen, hinter uns, meine ich, nur ein Stück weit hinter uns, denn ich will nicht so tun, als hätte es diese Zeit nie gegeben.

#2 
regrem патриот17.02.16 18:28
NEW 17.02.16 18:28 
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WENIGE STUNDEN später kamen wir in San Benedetto an, unruhig und überstürzt strömten die meisten Reisenden dem Ausgang entgegen, ich ließ mir Zeit und ging den lautstarken Haufen, die sich dann sofort auf die bereits wartenden Autos und Taxis verteilten, langsam hinterher. Draußen vor dem Bahnhofsgebäude standen die blauen Überlandbusse mit laufenden Motoren und weit geöffneten Türen in der gleißenden Sonne, genau gegenüber aber saßen die alten Voyeure auf den weißen Plastikstühlen eines Cafés und beobachteten das Schauspiel. Ich nahm meinen Koffer und ging, den kleinen Rucksack auf dem Rücken, zu ihnen hinüber, ich grüßte freundlich, ließ das Gepäck draußen an einem Tisch stehen, bestellte meinen zweiten schwarzen Kaffee, nahm ihn mit nach draußen und setzte mich. Rudolf hatte von San Benedetto als der Stadt der Palmen gesprochen, ich erinnerte mich daran, als ich die vielen sich aufreckenden Palmwedel auf den schuppig grautrockenen Stämmen sah, die die Straßenzüge entlang paradierten und bis dicht an den Bahnhof reichten. Ich nippte an dem Kaffee und schaute in die Runde, sofort sprach mich einer der Männer an und fragte, woher ich komme. Ich erzählte von München, Monaco, als wäre es ebenfalls eine italienische Stadt, gar nicht weit, er nickte laufend und sprach vom Sommer jetzt. Er sprach ganz präzise, als erinnere er sich an jeden einzelnen Tag im letzten Monat, vier, fünf kurze Regengüsse am Morgen, Temperaturen bereits über vierzig Grad, rasch wieder verziehende Gewitter manchmal in der Nacht, sonst aber die Gleichmäßigkeit ruhiger Tage, ein guter Sommer, zum Glück.

Die anderen Männer hörten uns zu, einer fragte, ob ich schon ein Hotel habe, und ich nannte den Namen, ein gutes Hotel, ein Familienhotel mit ausgezeichneter Küche, keine Touristen, antwortete er, als wollte er mir eine Freude machen. Aber ich, sagte ich, ich bin ein Tourist, ich bin ein Fremder. Sie sprechen sehr gut italienisch, Sie sind kein Fremder und auch kein Tourist, entgegnete der Alte, und die anderen stimmten zu, als wäre ich damit aufgenommen in ihren Club. Kommen Sie, sagte einer von ihnen, ich fahre Sie hin, mein Wagen steht dort, und als ich abwehrte und erklärte, lieber ein Taxi nehmen zu wollen, protestierten sie so laut, dass ich das Angebot annahm.

Während der Fahrt fielen mir die grünen Palmwedel wieder auf, oft waren die Häuser zu beiden Seiten vor lauter Palmen kaum zu sehen, den breiten Boulevard, der direkt am Meer verlief, schmückten gleich mehrere Reihen. Mein Fahrer drehte sich zu mir um und fragte, wie lange ich Ferien machen wolle, und ich antwortete, dass ich keine Ferien mache, sondern beruflich hier sei, als Journalist. Er tat erstaunt, als habe er etwas Bedeutsames gehört, er nahm an, ich sei für eine Zeitung unterwegs, für eine große Zeitung, setzte er noch hinzu, und ich korrigierte ihn und antwortete, dass ich fürs Fernsehen unterwegs sei und für einen Film recherchiere, einen Film über die Stadt, das Meer und das berühmte meeresbiologische Institut. Diese Auskunft schien ihn noch munterer zu machen, er strich sich mit der Rechten übers Haar und murmelte etwas wie zur Probe vor sich hin, anscheinend überlegte er bereits, wie er mir helfen könne. Dann sprach er vom Hafen und davon, dass der Hafen das eigentliche Herz dieser Stadt sei, die ganze Stadt sei aus dem Hafen hervorgegangen, und er habe ihn noch genau vor Augen, als er nichts anderes gewesen sei als ein kleiner Fischerhafen, die großen bunten Segel der alten Schiffe gebe es jetzt im Museum zu sehen, im Museum am Hafen, gleich neben dem meeresbiologischen Institut.

Ich lehnte mich zurück und hörte ihm zu, ich mochte die liebende, schwärmerische Suada, mit der er erzählte, es hörte sich an, als spräche er ein altes, klares Latein. Als er vor dem Hotel hielt, griff ich nach meinem Gepäck und wollte mich von ihm verabschieden, aber er wehrte ab und begleitete mich hinein. Hinter der Rezeption stand ein Mann seines Alters mit einem Gesicht ewiger Bräune, er breitete die Arme aus, als wollte er uns gleich beide umarmen, trat dann aber ins Foyer, um seinen Freund leicht an der Schulter zu packen, sie schienen sich sehr lange zu kennen und sprachen miteinander in ganz vertraulichem, liebevollem Ton. Ich sagte mir, dass ich besonderes Glück gehabt hatte, von einem guten Freund des Hoteliers hierhergefahren worden zu sein, mein Fahrer erzählte von mir, als hätten wir den halben Morgen miteinander verbracht, schließlich kramte er eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie, überreichte sie mir und ging zur Tür, ich wollte ihm zum Abschied ein Trinkgeld geben, aber er wehrte ab, als wäre ein solches Angebot seiner nicht würdig.

Auch als er verschwunden war, hielt sich die gute Stimmung, der Hotelier stellte sich vor, nannte sich aber lediglich Carlo, als sei es ausgemacht, dass wir untereinander nur mit den Vornamen verkehrten. Ich zog gleich mit und deutete, als müsste nicht er mir, sondern ich ihm die Sprache beibringen, auf mich selbst, ich heiße Giovanni, Giovanni, sagte ich, und so standen Carlo und Giovanni einander gegenüber, als hätten sie gerade im Eiltempo einige lästige Hürden des Lebens mit Leichtigkeit übersprungen. Ich dachte auch gleich daran, wie hilfreich dieser Mann mir bei meiner Arbeit sein könne, auch bei früheren Reisen hatte ich manches Mal Glück mit Bekanntschaften dieser Art gehabt, die einem die richtigen Auskünfte gaben und oft die besten Wege zu einem Ziel wussten. Hatte man einen solchen zuverlässigen Menschen gefunden, kam man um vieles schneller voran, für kurze Zeit war man mit einem Eingeweihten im Bunde und näherte sich den Geheimnissen der Fremde nicht mehr wie jemand, der jeden Schritt allein tun musste. Carlo kratzte sich am Kopf, nahm einen Zimmerschlüssel vom Schlüsselbrett und begleitete mich zum Aufzug, er sagte, dass er mir ein sehr schönes Zimmer im fünften Stock geben werde, ein Zimmer mit Blick auf das Meer und zu den Bergen, er akzentuierte das und ganz besonders, als werde mir eine seltene Auszeichnung zuteil. Ich ging auch gleich auf das Spiel ein, das Meer und die Berge sagte auch ich, als ließe ich mir die Worte auf der Zunge zergehen. Mein Italienisch war nicht perfekt, aber ich besaß eine gute Aussprache, schon früher hatte ich meine Gesprächspartner damit oft so getäuscht, dass sie mich, solange der Vorrat der Wendungen reichte, für einen Italiener gehalten hatten. Auch an Carlo bemerkte ich diese Täuschung, sie war daran zu erkennen, dass er schnell und beiläufig sprach und die Wortenden verschleifte, er setzte voraus, dass ich alles verstand, irgendwann aber würde der Moment kommen, an dem ich diesen guten Glauben mit einem einzigen falschen Wort ins Wanken bringen würde.

Wir fuhren zusammen hinauf, oben öffnete er mit einem leichten Ächzen die Zimmertür und ließ mich eintreten. Es war ein großes, helles Zimmer, durch eine schmale Tür betrat man einen ums Eck laufenden Balkon, auf dem Tisch und Stühle standen. Ich blickte hinunter aufs Meer, es war ein überwältigender Anblick, die Strandpartien erschienen durch die Symmetrie der Sonnenschirme und Liegestühle wie breite, monochrome Streifen, die bis hinunter zum Leuchtturm nahe dem Hafen lückenlos dicht aufeinander-folgten, an diesen bunten Teppich reihten sich die neueren Stadtteile mit ihren Hotels und den rechtwinklig aufeinandertreffenden Straßen, bis das Gelände allmählich zu den ockergelben, mattgrünen Hügeln hin anstieg.

Ich ging etwas fassungslos auf dem kleinen Balkon auf und ab, dieses Zimmer war ein richtiger Treffer, ich hätte gern etwas Passendes zu diesem starken Eindruck gesagt, aber vor lauter Glück verhedderte ich mich in Gedanken beim Durchspielen der Sätze, so dass ich nur sichtbar tief und befreit durchatmete, als wäre ich vollkommen hingerissen von dieser Kulisse. Carlo lächelte, als habe er nichts anderes erwartet, mir fiel plötzlich das Wort Wohlgefallen ein, er betrachtet Dich mit Wohlgefallen, dachte ich, das war genau die richtige Wendung, einen Moment suchte ich nach einer entsprechenden italienischen, fand aber wie benommen nichts annähernd Passendes. Er schien auch nichts Besonderes von mir zu erwarten, jedenfalls machte er meiner Verlegenheit ein Ende, indem er vom Mittagessen sprach, das Essen, sagte er, werde in einer halben Stunde serviert, sicher hätte ich Hunger genug, nach der langen, anstrengenden Reise. Ich sagte, dass ich in einer halben Stunde zur Stelle sein werde, ich musste dabei etwas grinsen, denn meine Antwort kam jetzt sehr schnell und mitten hinein in seinen Satz, als hätte ich den Einsatz in einem Musikstück genau getroffen. Er nickte auch gleich, wünschte mir einen schönen Aufenthalt, bot mir seine Hilfe für alle Fälle an und zog sich mit jener Diskretion zurück, die mir noch einmal beweisen sollte, wie sehr er gerade mich als seinen besonders bevorzugten Gast schätzte.

Ich packte Koffer und Rucksack schnell aus, ging kurz unter die Dusche und setzte mich dann noch für einige Minuten nach draußen auf den Balkon. Im Vorgarten des Hotels standen die Gäste in kleinen Gruppen und warteten bereits auf das Essen, die Strände waren leer, kein Wind wehte, das starke Mittagssonnenlicht bleichte die Farben. Beim Verlassen des Zimmers blickte ich auf den kleinen Tisch neben der Garderobe: Die Handkamera, das Fernglas, das schwarze Notizbuch, Stifte aller Art, Zeichenpapier, ein Diktiergerät ..., wie ein heutiges Stillleben, dachte ich, wie das Stillleben eines Handwerkers.

Unten an der Rezeption drängten sich die Gäste in dichten Trauben vor dem angeschlagenen Speisezettel, der laut vorgelesen und ausführlich kommentiert wurde, Carlo bemerkte mich, kam zu mir und führte mich in den Speisesaal, wo er mir einen kleinen Tisch zuwies. Er fragte, ob ich allein sitzen wolle, doch er wartete meine Antwort nur aus Höflichkeit ab, in Wahrheit rechnete er mit nichts anderem, einer wie ich saß allein, solo, fast hätte ich ihn mit einem solissimo überboten, zum Glück beließ ich es bei einem zustimmenden Nicken. Wenn wie heute alles beinahe ohne mein Zutun gelang, machte sich in meinem Wortschatz manchmal eine gewisse Albernheit breit, ich wusste, dass ich mich davor hüten musste, es war längst noch nicht klar, ob ein Mann wie Carlo so etwas richtig verstand. Ich nahm Platz, doch das unterdrückte Wort plagte mich wie ein Ohrwurm, solissimo, ging es mir immerzu durch den Kopf, Carlo schaute zu, wie ich mich setzte, schließlich sagte ich, als hätte ich endlich das passende Wort für diese Situation gefunden, ja, genau, bis ich eine attraktive Bekanntschaft gemacht habe, will ich einen Tisch für mich allein. Ich bereute sofort, was ich gesagt hatte, attraktive Bekanntschaft passte ganz und gar nicht zu mir, so eine Wendung machte mich älter, geradezu hässlich alt, ich hatte mich vergaloppiert, aber Carlo tat so, als hätte ich lediglich etwas Freundliches, Nichtiges gesagt, pure Konversation, wir werden sehen, antwortete er, ich war geradezu erleichtert, wie er über mein Gerede hinwegging.

Am Nachbartisch saß ein älteres Ehepaar, das mich sofort begrüßte, ich grüßte zurück und schlug das meeresbiologische Fachbuch auf, das ich zum Essen mitgenommen hatte. Die Gäste setzten sich jetzt an die weiß gedeckten Tische, jeder einzelne Tisch war sorgfältig gedeckt, die Weingläser schimmernd neben den gedrungenen Wassergläsern, das Besteck in Reih und Glied, die Servietten eingerollt in weiße Serviettenringe, die bereits entkorkte Flasche Wein mit dem kleinen goldenen Reif, auf dem sich die Zimmernummer befand, neben der Wasserkaraffe. Dann wurde das Murmeln leiser, die Erwartung stieg, und wie auf einen geheimen Befehl eilten die jungen Kellner dicht hintereinander mit den dampfenden, silbernen Platten herein.


#3 
regrem патриот17.02.16 18:28
NEW 17.02.16 18:28 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 18.02.16 17:29 (regrem)
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ICH ZOG den Korken aus der gut gekühlten Weißweinflasche, schenkte mir ein Glas ein und trank einen Schluck, sofort, ohne jede Verzögerung, spürte ich die Wirkung des Alkohols, als nähme er sich meiner Müdigkeit an, um sie schlagartig zu vertreiben, es war wie ein kurzer, animierender Schock, so dass ich gleich einen zweiten Schluck nahm.
Die Kellner zogen mit den bunten Spaghetti-Bergen durch die Reihen, um sie auf die hingeschobenen großen Teller zu verteilen, die Stimmung im Saal war jetzt beinahe ausgelassen, man hörte die anfeuernden, kommentierenden Rufe der Gäste, wenn sich die Spaghetti-Fäden auf die Teller senkten. Da ich ganz am äußersten Rand des Saales, nahe der großen Fensterfront, saß und so schnell nicht bedient werden würde, schlug ich das meeresbiologische Fachbuch auf, am nächsten Morgen hatte ich meinen ersten Termin im Museum, zumindest einige Grundbegriffe, die ich mir in den letzten Wochen angelesen hatte, wollte ich auffrischen.

Am meisten hatten mich die Kapitel über die Lebensräume im Meer interessiert, immer wieder war ich an den Abbildungen dieser Seiten hängengeblieben. Der Algenbereich mit seinen Grün-, Rot- und Brauntönen, mikroskopisch kleine Sträucher, in denen sich die Krebse verfingen. Der graugrüne Sandboden mit den kaum erkennbaren Umrissabdrücken der Plattfische. Der schlammige Grüngrund, pastos, mit bemoosten Muscheln und den Texturen von kleinen fünfarmigen Sternen.

Ich starrte mal auf die Bilder, mal hinaus auf den Boulevard, der Blick flog über den Palmwedel Teppich des Hotelvorgartens auf die im Sonnenlicht glitzernde Meeresfläche, bis hin zu den Segelbooten am weißen Horizontstreifen. Ich füllte das Wasserglas und leerte es gleich, dann stand der junge Kellner neben mir und bot mir die Pasta an, spaghettini, sagte er, ich serviere Ihnen spaghettini, mögen Sie spaghettini?
Die dünnen Nudelfäden schlangen sich um dunkle Oliven, Kapern, kleine Tomatenstücke und rosa Anchovis, grüne, spitz zulaufende Blätter lagen mittendrin wie ein zentrales Nest. Was sind das für Blätter? fragte ich. Zitronenblätter, antwortete der Kellner, das sind Zitronenblätter.
Ich nahm noch einen Schluck Wein, als ich die Nudeln mit der Gabel aufzurollen begann, fischte ich in den Tiefen des Meeres. Die zusammengerollten grünen Zitronenblätter erinnerten an die Algenwälder der Abbildungen, das ganze Gericht schmeckte intensiv nach Meer und Fisch.

Ich sehe, es schmeckt Ihnen, sagte der ältere Mann am Nebentisch. Wem sollte so etwas nicht schmecken? antwortete ich. Ah, nicht alle mögen Fisch, sagte er, aber wenn man hier keinen Fisch mag, sollte man zu Hause bleiben. Unbedingt, antwortete ich, man sollte in die Berge fahren und sich an fetten Landwürsten mästen.
Nun ja, sagte er, auch fette Landwürste sind nicht zu verachten, kaum eine halbe Stunde von hier ist man schon in den Bergen, wo es sehr gute gibt.
Da er mit seiner Frau kaum ein Wort wechselte, war er anscheinend froh, einen anderen Gesprächspartner gefunden zu haben, sein Gesicht war gerötet, freudig gerötet, dachte ich und überlegte, wie ich ihn auf Distanz halten konnte. Er hob sein Glas und prostete mir zu, salute, sagte er, und ich dachte salute, cum grano salis, salute, wieder war ich in einen leichten Wortwirrwarr geraten.
Was lesen Sie denn da, fragte er, es sieht aus wie ein Kochbuch. O nein, nein, antwortete ich, das ist kein Kochbuch, sondern ein meeresbiologisches Fachbuch. Sie sind Meeresbiologe? fragte er sofort nach.
Ich erklärte ihm kurz, was mich nach San Benedetto geführt hatte, er tat beeindruckt, als wäre die Arbeit eines Fernseh-Redakteurs etwas Besonderes, ja Exquisites, ich schenkte mir Wein nach und vertiefte mich mit gespieltem Interesse wieder in mein Fachbuch.
Ich las von Einzellern, Ultra- und Mikro-Plankton, ich betrachtete die Kleinstorganismen, die sich dicht an das, wie es hieß, »Oberflächenhäutchen« des Meeres schmiegten. Unterhalb der schwebenden, kaum beweglichen Schicht gab es schwerere, aber immer noch passiv schwimmende Wesen wie etwa die Veilchenschnecken, die angeblich auf selbstgebauten Schaumflößen daher trieben, aktiver waren die
umherschweifenden Arten, denen es aber auch nicht gelang, gegen die Strömung anzuschwimmen, erst die Fische waren aktive Schwimmer und wechselten ihre Lebensräume aus eigener Kraft.
Winzige Schnecken in leeren Seepockengehäusen ..., das Wasserrelief der Kalkausfällungen auf grauen Steinen ..., Seeigel- und Mollusken Schalen auf schwerem Grob Sand -die präzisen Fotografien übten einen so stark ästhetischen Reiz auf mich aus, dass ich gar nicht darauf achtete, was sie mir eigentlich erklären sollten, ich betrachtete sie eher wie kleine Bilder, die mich an eigene Meereseindrücke erinnerten. Worte wie »Seepockengehäuse« oder »Kalkausfällungen« las ich mehrmals, in ihrer anschaulichen Präzision gefielen sie mir besonders, daneben verstärkten sie die Neugierde, ich freute mich auf meinen ersten Gang am Meer entlang, wo ich all das wiederzufinden hoffte.
Als ich umblätterte, stand Carlo neben mir und blickte mir über die Schulter, zu Beginn der Mahlzeit hatte er sich allein an einen kleinen Tisch hinter der Tür gesetzt, das schien sein Platz zu sein, der Platz des Beobachters, der alles übersah und kaum etwas aß. In ruhigem Ton fragte er, ob ich zufrieden sei, und ich antwortete, der Wein sei zu gut, ich trinke zu viel davon. Sie werden sich an ihn gewöhnen, sagte er, jedenfalls beneide ich Sie, ich komme weder zum Trinken noch zum Essen, wenn die Gäste zugreifen, verliere ich jeden Appetit.

Er sprach sehr leise mit mir, es war ein Flüstern, als wollte er vermeiden, dass noch andere das Gespräch hörten. Wir redeten miteinander, als hätten wir Geheimnisse, es war ein seltsamer Dialog, wie zwischen Eingeweihten, die die anderen links liegen ließen. Ich werde Sie zum Essen einladen, sagte ich schließlich, irgendwo da draußen am Meer, damit Sie einmal etwas von der Welt zu sehen bekommen. Ich danke, Sie sind sehr freundlich, antwortete er grinsend und ging wieder zurück an seinen Tisch.
Während ich ihm hinterherschaute, wusste ich endgültig, dass ich in ihm eine Art Partner gefunden hatte, das Treiben der Gäste schien er mit leichter Ironie zu verfolgen, vielleicht war ich für ihn einer, dem er ebenfalls Distanz und Ironie zutraute, jedenfalls hatte unser Gespräch einen Ton angenommen, als wären wir zwei erfahrene Aufsichtspersonen für einen Haufen verwöhnter Kinder.

Nach dem Essen trank ich an der Bar im Foyer des Hotels einen doppelten schwarzen Kaffee und ging hinauf auf mein Zimmer. Die meisten Gäste begaben sich jetzt zur Ruhe, zwei, drei Stunden würden sie während der größten Hitze des Tages in ihren kühlen Zimmern verbringen, auch ich war sehr müde, die beinahe schlaflos verbrachte Nacht im Zug hinterließ ihre Spuren, doch war ich zu neugierig und unruhig, um dem Beispiel der anderen zu folgen.
So packte ich einige Utensilien in meinen Rucksack und verließ das Hotel, ich überquerte den breiten Boulevard, ging über einen schmalen Steinplattenstreifen ans Meer, zog Schuhe und Strümpfe aus, krempelte meine Hose hoch und watete einige Schritte hinein. Das Meer war sehr ruhig, die Wellen glitten ungebrochen an Land und legten sich wie feine Netze aus Schaum über den glatten, aufschimmernden Sand. Ich breitete die Arme aus, wie zum Flug, so verharrte ich kurz, ohne Bewegung, ich war angekommen.
#4 
regrem патриот17.02.16 18:28
NEW 17.02.16 18:28 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 18.02.16 17:31 (regrem)
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DIE LIEGESTUHLREIHEN waren jetzt am späten Mittag fast leer, nur hier und da döste ein einzelner Schläfer, die Rettungs- und Tretboote kauerten zwischen den Reihen im tieferen Sand, zu jeder Strandpartie gehörte ein kleines Café oder ein Restaurant, weiter hinten, am Boulevard.
Ich ging barfuß am Meer entlang, meine Füße hinterließen im niedrigen Wasser einen prägnanten Abdruck, den die flachen Wellen sofort wieder wegspülten. Ich sah bleiche Schwämme und Flechten, gummiartige Mooshände zwischen Muscheln und Schnecken, fast durchsichtige Krebsskelette lagen neben gestreiften Mövenfedern und gallertigen Trauben leerer Ei hülsen, ich fixierte das alles und nahm mir vor, es später einmal zu filmen.
So ging ich, den Blick meist nur auf einen schmalen Uferstreifen gerichtet, bis die feinen Sandstrände aufhörten und, weit draußen, schon am Rande der Stadt, von Steinhalden und einer schwer zugänglichen Steppe abgelöst wurden. Ich trank etwas Wasser und legte mich in einen Felsschatten, meine Augen tränten im beizenden Sonnenlicht vor Überanstrengung, als ich den Kopf ganz zurück, auf den Sand fallenließ, schlief ich sofort ein.
Das Keuchen eines Hundes ganz in meiner Nähe weckte mich. Ich hatte beinahe zwei Stunden geschlafen, die Sonne stand über den Hügeln, und die Strandpartien hatten sich längst wieder gefüllt. Ich stand auf und ging den langen Weg zurück, Läufer trabten am Meer entlang, Boccia-, Fußball-und Federballspieler kreuzten den Weg, dazwischen fliegende Händler, mit bunten Tüchern, Uhren und Kokosnüssen. Der gesamte Küstenstreifen war jetzt in Bewegung, wippend und swingend, ein einziges Sport- und Spiele-Terrain, die Windsurfer schössen hinaus aufs Meer, zwischen den Plätzen der Volleyballspieler drehten sich die Trampolinspringer, das Ganze war unterlegt mit Musik, Ansagen und lauter Werbung, wie ein lärmender Schreckensreigen in Filmen von Jacques Tati.
Ich ließ alles hinter mir und erreichte endlich die Mole, der Lärm verebbte, und die Sonne zog ihr Licht langsam ab, so dass die Farben satter hervortraten, orange, grün und gelb, beinahe metallisch. Die schmale Molenzunge bestand zum Meer hin aus schweren Steinquadern, ich stieg hinauf und tänzelte auf ihnen entlang, bis an ihrem Ende, in Nähe der Hafeneinfahrt, eine Sprossenleiter hinauf zu dem Ausguck neben dem blinkenden Laternenlicht führte. Von oben sah ich das Panorama der Küste, es sah aus wie ein schimmernder Halbreif, eingefasst von den Flutlichtzonen der Strandrestaurants. Ich konnte kaum glauben, dass ich in den letzten Stunden diese ganze Strecke zurückgelegt hatte, schon reihten sich die stärksten Bilder zu einer Folge, wie ich sie mir als eine Sequenz in dem späteren Film gut vorstellen konnte. Ein Schwenk vom Balkon meines Hotels, die Küste entlang, ein paar Standbilder am Mittag zwischen den leeren Liegestuhlreihen, eine Totale von hier oben am Abend ..., von einem so sonnigen Tag wie dem heutigen würde das eine gute Vorstellung ergeben.
Wieder hinabgestiegen, sah ich unten, dass jemand auf den schweren, dunkelroten Betonsockel des Ausgucks in blauer Schrift II rumore del märe gesprüht hatte, auch das musste ich filmen, vielleicht eignete sich die naive Buchstabendramatik dieses Blaus sogar als Filmtitel. Während ich auf den Steinquadern der Mole zurücklief, begegnete ich einigen Anglern, die stumm aufs dunkle Meer hinausschauten. Hier draußen, nahe dem Hafen, befand ich mich in einem stillen, geschützten Bereich, es war die Zone der einsamen Radfahrer und Liebespaare, die allein und unbeobachtet sein wollten.
Erst jetzt fiel mir die kleine Trattoria am Anfang der Mole auf, deren gläserner Kubus von allen Seiten einzusehen war, er stand direkt neben einigen aufgebockten Schiffen, die zur Reparatur auf eine weite, öde Strandfläche gebracht worden waren. In der Küche begannen gerade die Kochvorbereitungen, die Tische drinnen waren bereits gedeckt, bei diesem Anblick befiel mich ein jäher Hunger.
Ich ging hinein, die meisten Plätze waren reserviert, aber ich bekam noch einen freien Tisch in einer Ecke. So bestellte ich wenig später als erster, schon den ganzen Nachmittag hatte ich an gegrillten Fisch gedacht, eine gegrillte Brasse wollte ich essen, eine gegrillte Brasse mit viel Zitrone, dazu etwas Salat, das würde reichen.
Ich blätterte noch etwas in dem meeresbiologischen Fachbuch, ich trank leichten Weißwein, doch als sich das Lokal immer mehr füllte, sehnte ich mich plötzlich nach einem Gegenüber. Auf vielen Reisen war ich allein gewesen, meine Arbeit brachte das mit sich, so dass ich mich auskannte mit dem Alleinsein und wusste, wie ich mit seinen überfallartigen Melancholie umgehen musste. Ich durfte nicht allzu viel trinken, auf keinen Fall, und ich musste mich ablenken, durch ein paar Notizen oder einfach dadurch, dass ich meine Umgebung beobachtete.
An diesem Abend aber fühlte ich mich zu schwach für solche Ablenkungsmanöver, ich wollte gerade eine weitere Karaffe Wein bestellen, als der Fisch serviert wurde. Durch die große Hitze war seine silberne Haut an den Rändern transparent geworden und ließ das weiße Fleisch durchscheinen, neben dem Auge trat das Skelett des Kiemendeckels hervor. Als ich ihn zu filetieren begann, legte sich meine Unruhe und wich der Lust auf das Essen. Ich ließ mir den größten verfügbaren Teller geben und drapierte die leicht angebräunten Fischstreifen nebeneinander, dann beträufelte ich alles mit Zitronensaft, nippte noch einmal an meinem Weinglas und begann die Mahlzeit.
Während ich aß, füllte sich das Lokal rasch, und bald tobte in ihm ein beinahe höllischer Lärm. Die großen Gruppen, die die Tische bevölkerten, sprachen ungeniert laut miteinander und riefen den Kellnern immerzu etwas hinterher, während ich mich ganz im Abseits befand, in der einzigen toten Ecke. Ich hörte noch eine Weile zu, aber als ich den Fisch verzehrt hatte, beeilte ich mich mit der Bezahlung. Ich wäre gern noch sitzen geblieben, aber an diesem ersten Abend fühlte ich mich zu mutlos und zu allein, um noch Freude an diesem Spektakel zu haben. Einen Moment dachte ich daran, mit Rudolf zu telefonieren, um wenigstens mit ihm ein wenig zu plaudern, doch als ich mir den Beginn unseres Gespräches vorstellte, ließ ich diesen Gedanken gleich wieder fallen. Rudolf war nicht mein Freund, Rudolf war mein Kameramann, beruflich waren wir oft zusammen unterwegs und verstanden uns gut, aber ich konnte und wollte ihm nichts allzu Privates erzählen. So packte ich meine Sachen zusammen, zahlte vorn an der Kasse und quetschte mich an den überfüllten Stuhlreihen vorbei nach draußen, niemand beachtete mich.
Ich ging zurück ans Meer, ich wollte noch einmal den Strand entlang durch das tiefe Dunkel zu meinem Hotel, als ich eine leichte Windbrise spürte. Ich setzte mich seitlich auf das vordere Teil eines Liegestuhls, eigentlich hatte ich erst am nächsten Tag ins Meer gehen wollen, doch jetzt erschien mir ein nächtliches Bad wie eine große Verlockung, die mir über meine abendliche Ermüdung vielleicht hinweghelfen würde. Ich zog mich aus, verstaute meine Sachen unter dem
Liegestuhl und lief rasch ins Wasser. Als wollte ich ganz verschwinden, tauchte ich sofort ab, ich hörte nichts mehr, keine Geräusche, nicht den geringsten störenden Ton, nach dem Aufenthalt im Lokal war es eine richtige Wohltat. Solange ich konnte, blieb ich unten, für einen Moment glaubte ich die bunten Szenen des meeresbiologischen Buches zu sehen, kurze Blitze, dicht hinter der Netzhaut, angesaugt von der dunklen Flut.
Ich schwamm einige hundert Meter hinaus, sehr rasch, die meiste Zeit unter Wasser, dann drehte ich, warf noch einen kurzen Blick auf die Küste und tauchte langsam zurück. Der leere Strand war in der Dunkelheit von besonderer Schönheit, an einigen Stellen brannten kleine Feuer, ich hörte gedämpfte Stimmen und Gesang, wie stille und trotzige Gegenhymnen zum lauten Tagesprogramm. Ich kleidete mich wieder an und legte mich in den Liegestuhl, ich wollte noch ein paar Minuten hier verbringen, doch dann dachte ich daran, dass es gefährlich sein könnte, an einem solchen Ort einzuschlafen.
Als ich im Hotel ankam, stand Carlo noch an der Rezeption. Ich sehe, Sie kommen ohne attraktive Bekanntschaft, sagte er. Ich hatte geahnt, dass er sich diese Wendung merken würde, es war mir peinlich, sie jetzt aus seinem Mund zu hören. Ich habe eine Brasse verzehrt, antwortete ich, als wäre das eine Antwort auf seine Bemerkung. Er erkundigte sich, wo ich gegessen hatte, und begann, von den Fischrestaurants am Meer zu erzählen, er holte einen kleinen Stadtplan heraus und zeichnete die Lage der besten mit einem Bleistift ein. Bitte verstehen Sie richtig, sagte ich, Ihr Mittagessen war ausgezeichnet, ich bin aber nicht als Tourist hier, sondern muss mich überall umsehen, um die besten Bilder zu finden. Keine Sorge, antwortete er, ich verstehe Sie richtig, Sie brauchen mir das nicht zu erklären, und Eifersucht gehört in meinem Alter nicht mehr zu den ganz großen Themen. Wir redeten noch eine Weile und tranken zum Schluss einen Averna, dann ging ich hinauf auf mein Zimmer.
Oben trat ich noch einmal auf den Balkon, wie ein Mann, der die ganze Umgebung erobert hatte. Da, dort, und dort ..., überall war ich gewesen. Dann ließ ich die Rollos wie ein paar schwere müde Lider herunter und legte mich schlafen.
#5 
regrem патриот17.02.16 18:29
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AM NÄCHSTEN Morgen erreichte ich kurz vor Neun das Meeresmuseum, es befand sich im ersten Stock eines unauffälligen Backsteinbaus neben der großen Fischmarkthalle im Hafen. Von oben hatte man einen weiten Blick über das Hafengelände, die Fischkutter kauerten dicht gedrängt nebeneinander im Rund des Hauptbeckens, daneben lag der kleinere Yachthafen.
Ich betrat das Museum und kam in einen büroartigen Vorraum, ein Wärter hielt mich auf, ich stellte mich vor und erklärte, warum ich gekommen sei. Er ließ mich draußen auf dem Flur stehen, verschwand im Büro, setzte sich hinter den Schreibtisch, rückte seine Krawatte zurecht und telefonierte. Seine Erklärungen hörten sich an, als sei mir gegenüber ein gewisses Misstrauen angebracht, er sagte, jemand sei wegen eines »angeblichen« Termins hier, nach dem Ende seines viel zu langen Telefonats kam er aber mit sichtbarem Widerwillen zurück, um mir zu verkünden, dass die Dottoressa gleich kommen werde. Die Dottoressa? fragte ich nach. Ja, die Direktorin, Dottoressa Franca, erklärte er mit wichtigtuerischer Miene. Jetzt verstehe ich, antwortete ich und nahm mir vor, noch einmal auf das Fax zu schauen, auf dem der Termin schriftlich bestätigt worden war. Der Wärter aber ließ mich erneut stehen, murmelte etwas Höhnisches und verschwand im Büro.
Die Tür zu den Ausstellungssälen war weit geöffnet, ich trat ein, um einen ersten Blick auf die Vitrinen zu werfen. Kaum hatte ich einige Schritte getan, war der Wärter bereits wieder hinter mir her und befahl mir in strengem Ton, die Säle sofort zu verlassen. Ich deutete auf die geöffneten Türen, die Türen sind weit geöffnet, sagte ich ruhig, warum sollte ich da nicht eintreten? Die Türen, entgegnete er scharf, sind für die Angestellten, nicht für die Besucher geöffnet, das Museum ist noch geschlossen. Ich bemühte mich, weiter ruhig zu bleiben, ich legte mir meine Sätze zurecht, dann sagte ich ihm sehr gelassen und so, als wäre nicht von ihm, sondern von einem anderen Menschen die Rede, ich fände seine Ausführungen idiotisch, die Türen seien geöffnet, basta-, ob nun für Angestellte oder für Besucher, das sei doch völlig egal.
Er protestierte und wurde laut, ich verstand nicht mehr alles, was er hervorbrachte, ich tat, als hörte ich ihn nicht und als wäre mir sein Gerede vollkommen gleichgültig, ich ging weiter an den Vitrinen entlang, blieb vor einem Schaukästen mit kleinen Algenformationen stehen und beugte mich scheinbar beflissen darüber. Als sich von der Treppe her Schritte näherten, schien er der Person sofort entgegenzueilen, er sprach von meinem unmöglichen Benehmen, vom Widerstand gegen eine Amtsperson und davon, dass er das auf gar keinen Fall hinnehmen werde.
Ich stand noch immer mit dem Rücken zu ihm, als ich eine weibliche Stimme antworten hörte, sie klang sehr ruhig, vollkommen sicher und war von einer melodisch klingenden Art, die mich sofort aufhorchen ließ. Ich hörte, dass sie dem Schimpfenden dankte, doch ich verstand nicht deutlich wofür, es schien auch weniger auf den Dank selbst als auf den Ton anzukommen, es war ein unmissverständlich abwiegelnder, die Angelegenheit herunterspielender Ton. Dann aber wurde sie leiser und bat, noch um eine Spur weicher und noch etwas melodischer, um den Gefallen, ihr unten eine Zeitung und ein Päckchen Zigaretten zu besorgen, zwei Kaffee seien auch nicht schlecht, zwei, ach nein, drei ... Sofort schien die Stimmung zu kippen und sich zu entkrampfen, denn ich hörte, dass mein Verfolger sich erfreut gab, als gebe es nichts Schöneres, als der Dottoressa einen Gefallen zu tun, anscheinend machte er sich auch gleich auf und davon, eine Tür wurde geschlagen, das Geräusch war so heftig, dass ich mich umdrehte.
Sie war ungewöhnlich groß und hatte langes, blondes Haar, mit einem Stich ins Rötliche, sie trug ein langes, grünes Kleid, mit dessen Schlichtheit die beiden einzigen goldenen Schmuckstücke, eine Halskette und ein Ring, kontrastierten. Als sie mich erkannte, fuhr sie sich mit der Rechten
durchs Haar, es war eine leicht verlegene Geste, als wollte sie das, was sie gerade gesagt hatte, gleich korrigieren. Ich aber kam ihr zuvor, ich sprang geradezu in die Unterhaltung und entschuldigte mich, als hätte ich nur darauf gewartet, zugeben zu dürfen, dass ich mich danebenbenommen hatte. Ich bitte Sie, antwortete sie, natürlich war es richtig von Ihnen, die Säle zu betreten, was hätten Sie denn tun sollen, warten etwa und kostbare Zeit vergeuden? Es war richtig von Ihnen, aber ich durfte es Antonio gegenüber nicht zugeben, Menschen wie er leben von den kleinen Gesetzen des Alltags. Deshalb habe ich ihn nach draußen geschickt, er hört nicht, was ich jetzt sage, und damit hat sich das Problem erledigt.
Sie hatte ihre Selbstsicherheit wiedergefunden und sprach, als habe sie auf alles, ohne lange überlegen zu müssen, genau die richtige Antwort, sie bat mich zurück in das Büro, wir setzten uns einander gegenüber ans Fenster, sie stützte sich mit den Ellbogen leicht auf die Schreibtischplatte und fragte, wie sie mir bei meinem Filmvorhaben helfen könne. Ihr offener, neugieriger Blick und ihr direktes Fragen irritierten mich, sie beherrschte den Raum so stark, dass ich unwillkürlich begann, in meinen Taschen nach dem Fax zu suchen. Was aber wollte ich damit? Wir kannten beide die mageren Zeilen, die sie und ich gewechselt hatten, ich brauchte sie nicht noch einmal vorzulesen, jetzt musste mir ein neuer, besserer Text einfallen, um diese Situation zu bestehen.
Ich schaute durchs Fenster auf das Hafengelände, als fände ich draußen Hilfe, in der Nähe des Anlegeplatzes der Fischkutter stand mein Verfolger und unterhielt sich angeregt mit einem Bekannten. Schauen Sie mal, sagte ich, sollte Ihr Angestellter nicht Kaffee und Zigaretten holen? Sie schaute nach draußen und wiegelte ab, er müsse sich Luft verschaffen und das Geschehene zunächst mindestens drei Freunden erzählen, dann habe er den Kopf frei für den Kaffee und die Zigaretten. Die drei Fassungen würde ich gern mal zu hören bekommen, sagte ich, das würde mich interessieren. Sie stockte einen Moment, als horche sie auf, irgendetwas ging ihr durch den Kopf, ich spürte förmlich, dass sie sich gerade zwischen zwei Alternativen entschied. Dann beugte sie sich etwas nach vorn und ging auf mein Spiel ein, ich hörte völlig verblüfft zu, wie sie loslegte. Fassung i ist erregt, hochdramatisch, sagte sie, und Antonio erscheint darin als der starke Gewinner, Fassung 2 ist gefasster und zeigt ihn als geschickten Taktierer, und in Fassung 3 ist er ganz souverän, der liebe Gott, dem all diese Dinge nichts anhaben können, man könnte die drei Fassungen als Erregungsabbau verstehen.
Ich konnte ihrem Blick nicht standhalten, ich schaute noch einmal hinaus, als suchte ich draußen nach einer Bestätigung ihrer Worte, sie hatte sehr schnell und ohne Pause gesprochen, als habe sie sich das alles schon vor langer Zeit überlegt. Ich war irritiert, sie musste doch spüren, dass ich sie abzulenken versuchte, andererseits schien sie das alles hier nicht als Ablenkung zu verstehen, sondern tat so, als bereite es ihr Vergnügen, mit mir gemeinsam über dies und das nachzudenken. Genau dazu aber, mit ihr über dies und das nachzudenken, hatte ich plötzlich große Lust, das eigentliche Thema unseres Termins war mir beinahe gefährlich egal, ich hätte gewettet, dass ihr zu den absonderlichsten Themen etwas Verblüffendes eingefallen wäre, sie machte auf mich diesen Eindruck, den Eindruck einer sehr weiblichen, umweglosen, scharfen Intelligenz.
Und als wären wir längst auf einem persönlichen Terrain gelandet, beugte nun wiederum ich mich zu ihr vor und fragte, ob sie in San Benedetto geboren, ob sie von hier sei. Noch während ich die Frage stellte, wurde mir heiß, als ginge ich ein besonderes Risiko ein. Unüberlegt, nur von einem unbestimmten Instinkt getrieben, war ich über das Ziel unseres Gesprächs hinausgeschossen, ich hätte mir auf die Zunge beißen können, so peinlich war mir dieser Sprung ins Private. Sie tat aber weder erstaunt noch irritiert, sondern antwortete sehr rasch, dass sie hier geboren und aufgewachsen sei, einen Teil ihrer Jugend aber in Südtirol bei einer Großmutter verbracht habe. Ah, erwiderte ich und bemühte mich, ebenso schnell zu reagieren, das habe ich beinahe vermutet, aber fragen Sie mich nicht, wie ich darauf komme. Ich frage Sie nicht, sagte sie, aber ich frage Sie, ob es Ihnen lieber ist, wenn wir Deutsch miteinander sprechen. Es wäre mir lieber, entgegnete ich, es wäre sogar geradezu ideal, dann käme ich bei den fachlichen Details nicht in Verlegenheit.
Genau in diesem Moment kam Antonio, der Wärter, herein. Er stellte das Tablett mit den beiden Kaffeetassen auf den Tisch, schob die Zeitung daneben und legte die Zigarettenschachtel obenauf. Sie bedankte sich kurz, wechselte dann aber den Ton und fragte mich in beinahe offizieller Manier, was sie genau für mich tun könne. Ich räusperte mich, lehnte mich im Stuhl zurück und sprach von einem Film über die italienische Adria-Küste, nichts Touristischem, nichts Kulturellem, sondern einem Film über das Meer, an dem sich die deutschen Touristen ja bekanntlich wochenlang aufhielten. Der Film solle vom Meer erzählen, nicht auf spektakuläre Weise, sondern ganz einfach, mit Hilfe von guten, genauen Beobachtungen, Fische, Pflanzen, der Strand, am besten fände ich es, das Terrain meeresbiologisch zu erkunden, auf angenehm lehrreiche Art. Angenehm lehrreich ..., wiederholte sie gleich. Ja, antwortete ich, am liebsten würde ich die Kamera an einem ganz normalen Strandstück aufbauen, da, wo alle entlanglaufen. Woraus besteht der Sand? Wie unterscheiden sich die Wellenbewegungen? Welche Lebensräume gibt es in fünfzig Zentimeter Tiefe, welche in hundert?
Sie hörte mir, wie es mir schien, leicht belustigt zu, jedenfalls behielt sie ihr Lächeln bei, als ahnte sie, dass ich von alle-dem kaum eine Ahnung hatte. Während ich weiterredete und den Film ausmalte, schob sie mir einen Kaffee zu und nippte an dem ihren, ich hätte den Raum jetzt gern verlassen, um ein paar Schritte zu tun, aber ich trank gehorsam und erging mich in Wiederholungen, es war ein unpräzises, kreisendes Reden, als suchte ich noch nach einem Zentrum. Ich kann Ihnen hier nur skizzieren, was ich vorhabe, endete ich schließlich, das Beste fällt einem meist erst während der Dreharbeiten ein. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, antwortete sie, ich habe verstanden, was Sie vorhaben, kommen Sie, gehen wir ein paar Schritte durch das Museum.
Ich hatte eine der üblichen Kurzführungen erwartet, einige Worte über die Gründung und den Bau des Museums, einen knappen Rundgang, der mir einen Überblick verschaffen sollte, doch es kam dann ganz anders. Sie führte mich anscheinend ohne System oder Plan durch die Räume, wir begannen irgendwo in der Mitte, gingen wieder in die Nähe des Eingangs, sahen uns weiter hinten, in den dunkleren Zonen um, jedes Mal ging es um einen einzigen Fund, ein Fischskelett, eine Schnecke, winzige Algenspuren auf weißem Grund. Sie sprach knapp und ganz detailliert von all diesen Objekten, sie erklärte sie nicht und erwähnte ihre Eigenarten mit keinem Wort, statt dessen deutete sie nur auf ein paar kaum sichtbare Besonderheiten, die Färbung einer Außenlippe, die Wölbung einer hornigen Außenschicht, die Durchsichtigkeit von geöhrten Tentakeln. Es war eine Art Schau, ein begeistertes Sehen, auch ihr Tonfall vermittelte diese Begeisterung, eine Verliebtheit in den Anblick von Schönheit, als ginge es hier nicht um Gegenstände der Forschung, sondern um rein ästhetische Reize.
Hilflos und etwas ohnmächtig ging ich neben ihr her, es wäre mir wie eine Pietätlosigkeit vorgekommen, sie zu unterbrechen, ich hatte jetzt keine Fragen zu stellen, ich durfte mich im Grunde nicht einmal bemerkbar machen, sonst hätte ich alles verdorben. Je länger wir gingen, umso mehr wuchs meine Anspannung, ihre Begeisterung sprang auf mich über, am liebsten hätte ich mich dann und wann als gelehriger Schüler erwiesen und selbst einmal mit irgendeinem kurzen Hinweis geglänzt, aber ich wusste genau, es war dafür zu früh. Was geht hier vor, dachte ich nur, 'als müsste mir ein gutes Wort dazu einfallen, und dann kam ich auf Verzücktheit, plötzlich drehte sich dieses altmodische Wort in meinem Kopf, sie ist verzückt, und sie macht mich verzückt, dachte ich und hätte, um zumindest irgendeinen zustimmenden Laut von mir zu geben, beinahe laut zu summen begonnen.
Die gefleckten Antennen der Langusten, die Augenstiele der Krebse, die stacheligen Höcker der Seespinnen - sie benannte das alles sehr genau, ich begriff, dass ich nur hinschauen und mich wundern sollte, es war wie ein kleiner Grundkurs in Aufmerksamkeit, am liebsten hätte ich sie dabei gefilmt. Aber ich wagte nicht einmal, sie von der Seite anzuschauen, nur für einen kurzen Moment sah ich ihr Gesicht in einem Spiegel, es war leicht, kaum merklich gerötet, als versuchte sie, ihre Begeisterung nicht zu verraten.
So zogen wir, ohne irgendwo länger zu verweilen, durch alle Räume, ihre Führung hatte beinahe etwas von der Art eines Kindes, das sich nur auf die schönsten und hervorstechendsten Dinge beschränkt und sich an ihnen nicht satt sehen kann. Am Ende kamen wir wieder in ihrem Büro an, atemlos, dachte ich und sagte nach der langen, schweigsam verbrachten Zeit nur, dass mir die Schönheit all dieser Lebewesen noch nie so gegenwärtig gewesen sei. Was glauben Sie, warum ich mich damit beschäftige, antwortete sie, genau deshalb, aus keinem anderen Grund. Sie sagte das wie zum Abschluss und als sagte sie es nur so dahin, aber ich spürte, dass es in Wahrheit die Antwort auf mein Gestammel gewesen war, sie hatte mir, ohne sich aufzuhalten, das eigentliche Thema gezeigt.
Unschlüssig blieb ich neben ihr stehen und überlegte, wie ich einen Übergang zu den praktischen Fragen finden konnte, doch sie kam mir zuvor, indem sie mich fragte, wie lange ich bleiben könne. Eine Woche, antwortete ich, zehn Tage wären das Maximum, aber zehn Tage wären gegenüber der Redaktion nur schwer zu vertreten. Sie lächelte wieder, als hätte ich gerade einen ganz unsinnig kurzen Zeitraum genannt, eine Sekunde lang dachte ich daran, hier noch einige Ferientage zu verbringen, im Grunde war das aber doch ausgeschlossen, ich hatte gar keine Zeit für Ferien, ich musste zurück nach München, viele Termine dort waren längst fest vereinbart.
Noch etwas benommen hörte ich zu, wie sie selbst begann, Vorschläge zu machen und alles auf eine feste Basis zu stellen, sie selbst, sagte sie, könne mich nicht nach draußen, zu den eigentlichen Schauplätzen, begleiten, als Direktorin des Instituts müsse sie tagsüber erreichbar sein. Statt dessen werde Dottore Alberti sich Gedanken machen, sie werde ihn instruieren und bitten, morgen früh mit mir eine Außenvisite zu machen, Außenvisite, sagte sie wahrhaftig, es hörte sich an, als sollten wir der hohen Herrschaft des Meeres unsere Aufwartung machen.
Ich bedankte mich und notierte auf ihre Bitte hin meine Handy-Nummer auf einem gelben Block, es fiel mir sehr schwer, jetzt hinauszugehen, am liebsten hätte ich den gerade unternommenen Gang noch einmal für mich selbst, allein, wiederholt. Wie zu Beginn unserer Unterhaltung schaute ich noch einmal hilfesuchend aus dem Fenster, sie folgte meinem Blick und deutete hinaus auf den kleinen Yachthafen, in dessen Mitte sich eine Art schwimmende
Insel befand. Sehen Sie die kleine Bar dort, das Ristorante, fragte sie, sehen Sie es, das ist etwas für Sie. Sie hatte diesen Satz beinahe geflüstert, als gehörte er nicht mehr zu unserem Programm, und ich fragte sie, ob diese Bar, dieses Ristorante, etwas für den Film sei, für den Film also oder für mich? Etwas für Sie, antwortete sie, und einen Augenblick kam es mir so vor, als wollte sie meinen kurzen Ausflug ins Private zu Beginn unseres Gesprächs durch diese kleine Korrektur ausgleichen.
Ich spürte geradezu, wie es mich danach drängte, sie einzuladen, haben Sie Zeit, mich zu begleiten, hätte ich am liebsten gefragt, doch das wäre eine ausnehmend dumme Frage gewesen, hatte sie mir doch noch gerade gesagt, dass Außenvisiten für sie nicht in Frage kamen. Wollen Sie nicht gegen Mittag dorthin kommen, ich möchte Sie zum Essen einladen, schoss mir gleich eine weitere Variante durch den Kopf, es wäre einfach gewesen, so etwas zu sagen oder leichthin zu murmeln, ich hätte es hinter mir gehabt, und meine Aufregung hätte sich gelegt, ja oder nein, sie hätte antworten und mir ein Zeichen geben müssen, darauf wartete ich doch längst, ich wartete auf ein Zeichen von ihrer Seite, plötzlich wurde mir das klar, und ich verbot mir sofort, irgendetwas zu unternehmen.
Gut, sagte ich nur und noch ein zweites Mal, gut, mein Herumstehen und Abwarten hatte etwas beinahe Hirnloses. Als sie eine kurze Drehung zur Tür hin machte, gab ich mir endlich einen Ruck, ich verabschiedete mich, vielleicht werde ich sie überhaupt nicht mehr zu sehen bekommen, dachte ich und wusste sofort, dass ich das niemals hinnehmen würde. Ich suchte nach einer kurzen Reaktion in ihrem
Gesicht, als Antonio sich wiederum näherte, es war wie ein Signal, als hätte ich nun endgültig zu verschwinden, ich packte meine Unterlagen zusammen, grüßte noch einmal und ging hinaus. Vor der Tür warteten jetzt die ersten Besucher in kleinen Gruppen, sie drängten sich in den geöffneten Türspalt, und ich hörte Antonio, den Wärter, laut fluchen. Wort für Wort schallte es hinter mir her, als ich langsam die Treppe hinunterging, und es klang wie eine endgültige, böse Vertreibung.
#6 
regrem патриот17.02.16 18:29
NEW 17.02.16 18:29 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 18.02.16 21:28 (regrem)
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DRAUSSEN, im Hafengelände, blieb ich stehen und überlegte, ob ich sofort zu der kleinen Bar gehen sollte, die sie mir gezeigt hatte. Das ist etwas für Sie - ich hatte es noch immer im Ohr und kam nicht davon los, natürlich bildete ich mir ein, dass dieser Satz eine besondere Bedeutung hatte, er musste sich auf etwas beziehen, das sie an mir beobachtet hatte. Hatte sie, hatte sie wirklich irgendeine Besonderheit an mir entdeckt? Ich konnte es mir nicht vorstellen, sie hatte sich jedenfalls nichts anmerken lassen, die ganze Führung über hatte sie mich kaum beachtet, sondern sich ausschließlich auf die kunstvoll angestrahlten, leuchtenden Objekte konzentriert.
Die Versuchung war groß, gleich den Weg zur Bar einzuschlagen, mich hinsetzen, mir Gedanken machen, etwas notieren wollte ich doch sowieso, warum also nicht in der Bar, die kaum ein paar hundert Meter entfernt war? Ich kam an der Fischmarkthalle vorbei und entschloss mich sofort, dort hineinzugehen, schnell trat ich durch das breite Tor ein, und als mich drinnen die schneidende Kälte der zerstoßenen Eisbrocken überfiel, auf denen die Fischberge drapiert waren, schien ich auf diesen Schlag hin zur Besinnung zu kommen. Klar und deutlich war mir jedenfalls plötzlich, dass ich während meiner ersten Schritte durchs Hafengelände insgeheim mit ihrer heimlichen Beobachtung gerechnet hatte, nur aus diesem Grund war ich so steif und verhalten gegangen, ich hatte ihren Blick aus dem höher gelegenen Fenster zu spüren geglaubt oder herbeigewünscht, ich hatte wirklich angenommen, dass ihr Blick während meines Hafengangs aus irgendeinem Grund auf mir ruhte. Als ich das begriff, schüttelte ich nur den Kopf, ich trieb mich an, von Fischstand zu Fischstand zu gehen, unbedingt brauchte ich eine Ablenkung. Während ich mir aber noch einredete, die jetzt lebendigen Schnecken und Garnelen endlich in Ruhe betrachten zu müssen, bekam ich große Lust, sie zu berühren, einfach mit offener Hand hineinzufassen in diese Berge, sie durch meine Finger gleiten zu lassen, sie auszuwählen, mitzunehmen, sie zu kochen und zu verzehren. Von überall kamen auch gleich die Angebote, meine Kauflust war anscheinend nicht zu übersehen, und so riefen die Marktfrauen mir ihre Preise zu, sich gegenseitig unterbietend und mit einem Gelächter, als ob der nicht zu überhörende Preissturz etwas Obszönes sei.
Diese Aufdringlichkeit störte mich, ich wollte allein und in Ruhe gelassen werden, deshalb beschleunigte ich wieder und verließ mit schnellen Schritten die Halle, um nun wiederum in der großen Morgenhitze im Freien zu stehen, ich konnte hier unmöglich bleiben, niemand bewegte sich in diesem Gelände, selbst die meisten Hafenarbeiter hatten sich einen schattigen Platz auf einem der vielen Fischkutter gesucht.
Ganz kurz überlegte ich wahrhaftig noch, ob ich mich umblicken und zu einem bestimmten Fenster des Museums hinaufschauen sollte, dann aber ging ich langsam hinüber zum Yachthafen, es war doch ausgeschlossen, dass sie noch immer am Fenster stand, was bildete ich mir denn die ganze Zeit ein? Ich erreichte ein kleines Tor, eigentlich war der Zutritt nur Bootsbesitzern gestattet, die Aufschrift auf der Verbotstafel scherte mich jedoch nicht, nichts hätte mich jetzt aufhalten können, und so ging ich über einen schmalen Steg zwischen den Booten entlang auf die schwimmende Insel zu. Die Bar war leer, ich griff nach der Karte und setzte mich dann an einen Tisch, ich setzte mich so, dass ich das Museum im Auge behielt, mit meinem Fernglas hätte ich sogar ein gewisses Fenster leicht ins Blickfeld rücken können.
Ich bestellte einen Eistee, als das Getränk serviert wurde, kramte ich mein schwarzes Notizbuch hervor, die ganze Zeit hatte ich es bereits aufschlagen wollen, ich wollte selbst zu Wort kommen, endlich, ich musste schreiben, vielleicht gelang es so, der Unruhe Herr zu werden: Beinahe ärgere ich mich jetzt, wie hingerissen ich die letzte Stunde zugehört habe., es war wie ein Rausch. Ich bin hier, um etwas in Erfahrung zu bringen und einige Bilder und Sätze zu sammeln, ich habe einen Auftrag, ich bin nicht hier, um jemanden zu bewundern.
Wie konnte es also überhäuft soweit kommen, worin, frage ich mich ernsthaft, bestand die große Wirkung, die sie auf mich ausübte?
Manchmal schob sie mit der Rechten den linken Ärmel ihres Kleides etwas hinauf, sehr flüchtig und doch so, als wollte sie etwas zu packen bekommen. Manchmal berührte sie mit den Fingerspitzen ihre Halskette, als tastete sie nach einer Erinnerung. Manchmal führte sie den Zeigefinger langsam über die Ringkuppe, als wollte sie sich vergewissern, dass er noch da sei ... Ich muss das aufschreiben, jetzt, sofort, obwohl es ganz nebensächlich zu sein scheint, ich muss es aufschreiben, weil ich es so deutlich in Erinnerung habe und es etwas bedeuten könnte. Irgendwann werde ich es verstehen und dahinterkommen, jetzt muss ich es notieren, damit es nicht sofort verblasst.
Ein Moment der Wirkung beruhte ganz sicher darauf, dass wir allein waren, dass niemand uns störte, dass wir zu zweit durch dieses Museum gingen. Die Stille der Räume, die Abgeschiedenheit, das alles verstärkte den Zauber, sie sprach nicht direkt zu mir, sie redete mich kein einziges Mal an, sie fragte nichts, sie wollte nichts von mir wissen, und doch war es so, als habe sie sich diesen Vortrat für mich aufgehoben, nur für mich, und als halte sie ihn vor
mir zum ersten Mal ... Zum ersten Mal? Was soll das heißen? Glaube ich wirklich, dass sie diesen sicheren, glanzvollen Vortrag zum ersten Mal gehalten hat, zum ersten Mal und ausgerechnet vor einem Fremden, ausgerechnet vor mir? Was wäre denn an mir so Besonderes, das mir diese Ehre zuteil geworden wäre, was wäre es?
Ich setzte den Stift ab, rasch und ohne eine einzige Unterbrechung hatte ich geschrieben, das war sonst nicht meine Art, gewöhnlich ging ich beim Schreiben sehr kontrolliert vor. Jetzt aber war das anders, es zog mich von Satz zu Satz, die Sätze huschten förmlich über das Papier, ich konnte gar nicht schnell genug mit dem Stift folgen, hinzu kam eine gewisse Erhitzung, die nicht nur von der großen Hitze draußen herrührte, sondern etwas mit diesem rasenden Schreiben zu tun haben musste.
Ich bestellte einen zweiten Eistee und trank das Glas gleich halbleer, ich war noch immer der einzige Gast, der Kellner, der anscheinend auch der Besitzer war, fragte mich, ob ich zu Mittag essen wolle, ich tat, als müsste ich es mir noch überlegen.
Während des Rundgangs habe ich nur auf sie geachtet, unbewusst, ich habe nicht einmal bemerkt, dass mir die gesamte Umgebung entging. Hat sie die Namen der Fische überhaupt einmal genannt? Hat sie zwischen all den Lebewesen, die sie mir vorstellte, überhäuft irgendeinen Zusammenhang hergestellt? Hat sie sich ein einziges Mal bemüht, mir zu erklären, mit welchen Methoden ihr Institut seiner Arbeit nachgeht? All diese Fragen muss ich verneinen, und wenn man sich darüber klar wird, könnte man annehmen, sie habe einen schlechten Vortrag gehalten. Natürlich hat sie das nicht, sie hat mir, ausgerechnet mir, von einem Faszinosum erzählt, als wollte sie mich einweihen in eine nur so zu umkreisende Magie. Darauf war ich nicht gefasst, seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten habe ich niemanden so sprechen hören, ich konnte nur noch schweigen, es war ja geradezu eine Wohltat, schweigen und an diesem Zauber teilnehmen zu dürfen...
Ah wir ihr Büro wieder betraten, hörte das auf, sie sprach von Dottore Alberti, sie schob die Sache auf ein anderes Gleis, auf das Gleis meines Films und der lehrreichen Art, von der ich unvorsichtigerweise geredet hatte. Wahrscheinlich würde sie sich an einem derartigen Film nie beteiligen, das Meer ist für sie ein ganz anderes Thema, mit diesem abrupten Stimmungswechsel hat sie mich jetzt zurückgelassen, wahrscheinlich ahnt sie nicht einmal, wie bewusst er mir ist. Den Film, der mir vorschwebte, werde ich jedenfalls nicht drehen, jetzt kommt mir mein Vorhaben beinahe albern vor, albern wie die meisten meiner vielen anderen Filme, die alle den Regeln der lehrreichen Art gehorchten. Wie aber dann, was soll werden? Es gibt nur eine einzige Lösung für dieses Dilemma:
Ich muss versuchen, sie zur Mitarbeit an diesem Film zu gewinnen...
Ich atmete aus und schaute kurz auf die Uhr, es war nur noch eine halbe Stunde bis zum Mittagessen im Hotel, ich musste mich jetzt entscheiden. Ich lehnte mich etwas erschöpft zurück und trank das Glas leer, am liebsten hätte ich das Fernglas hervorgeholt, um nach ihr Ausschau zu halten. Vielleicht hatte sie ja doch bemerkt, dass ich ihrem Vorschlag gefolgt war, vielleicht hatte sie sich sogar vergewissert, ein kurzer Blick aus dem Fenster hätte genügt, schließlich saß ich in geradezu hervorgehobener Position auf diesem Platz hier. Ich warte auf sie, ja, tatsächlich, dachte ich, diese simple Entdeckung erschreckte mich plötzlich, soweit war es also schon mit mir gekommen, dass ich auf jemanden wartete, den ich erst einmal gesehen hatte und mit dem ich nicht verabredet war.
Ich nahm mir die Speisekarte noch einmal vor und begann, darin zu blättern, ich schaute kurz auf und erkannte sie sofort. Sie kam aus dem Innenhof des Museums, sie schob ein Fahrrad neben sich her, schwang sich auf den Sattel und fuhr los, sie musste mich sehen, in wenigen Sekunden würde
sie kaum hundert Meter von mir entfernt auftauchen. Mir wurde erneut heiß, es war ein regelrechter Hitzeschwall, ich wollte aufstehen, um im hinteren Teil der Bar zu verschwinden, jetzt empfand ich es als peinlich, von ihr hier gesehen und ertappt zu werden, ich dachte wirklich ertappt, obwohl so ein Wort keinen Sinn machte, schließlich war ich mir keiner Verfehlung bewusst.
Sie kam näher und schaute hinüber, ich erstarrte beinahe, was sollte ich tun, aufstehen, auf sie zugehen, mich weiter in die Speisekarte vertiefen, sie erlöste mich, indem sie mir zuwinkte, sie winkte mit der erhobenen Rechten, nicht aufwendig und überdeutlich, sondern ganz leicht, es war nur ein angedeuteter Gruß, wie zu einem, den man lange kennt und mit dem einen ein gewisses Einverständnis verbindet. Dabei verlangsamte sie ihre Fahrt nicht, sie hatte mir nur ein Zeichen gegeben, und ich hatte für einen kurzen Moment ebenfalls die Hand gehoben, als käme ich so endlich frei.
Sie war schnell vorüber, sie bog in eine Seitenstraße ein, ich atmete wieder durch, legte die Speisekarte beiseite und stand sofort auf, für diese Stunde ist es vorbei, dachte ich, ich bin dem Zauber noch einmal entkommen.
#7 
regrem патриот17.02.16 18:29
NEW 17.02.16 18:29 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 18.02.16 21:29 (regrem)
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IM HOTEL war ich wenig später einer der ersten Gäste, die den Speisesaal betraten. Die biedere Ordnung der Tische mit den kleinen, gefüllten Brotkörben, den gefalteten Servietten und den winzigen Paar-Kännchen mit Essig und Öl tat mir gut, ich genoss diese ganz und gar gewöhnliche Atmosphäre. Selbst das ältere Ehepaar am Nebentisch störte mich diesmal nicht, ja ich suchte sogar das Gespräch mit ihm und plauderte drauflos, als hätte ich wirklich etwas zu erzählen. Natürlich erwähnte ich das morgendliche Erlebnis nicht, ich sprach vom Hafen, von der Fischmarkthalle und davon, dass mir der Anblick der Verkaufsstände Lust gemacht habe, selbst etwas zu kochen. Carlo grüßte von seinem Beobachter-Tisch herüber, und ich hob kurz die Hand, so wie ich sie noch vor kaum einer halben Stunde gehoben hatte.
Nach dem Essen packte ich einige Utensilien zusammen und ging zum ersten Mal zu einem Nachmittagsbad an den Strand. Ich meldete mich an der kleinen Bar, die zum Hotel gehörte, nannte meine Zimmernummer und wurde von einem jungen Burschen zu einem Liegestuhl mit dazugehörigem Sonnenschirm geführt, das war nun mein Strandplatz, dieser Stuhl, dieser Schirm, der Junge sagte es drei-mal, als müsste er es mir einschärfen. Ich fragte ihn, ob ich statt des Liegestuhls auch einen Strandstuhl zum Sitzen bekommen könne, er murmelte etwas vor sich hin, kam wenig später aber mit genau dem richtigen Stuhl wieder, ich bedankte mich und erklärte ihm, dass ich zu arbeiten hätte und daher nicht liegen, sondern sitzen wolle, sitzen, nicht liegen, eine komödiantische Lust an der Wiederholung hatte mich gepackt, ich hätte gern immer so weitergemacht, aber der Bursche wurde missmutig und verschwand zwischen zwei dicken gestutzten Palmstümpfen.
Ich schlug ein Bein übers andere, holte das schwarze Notizbuch wieder hervor und schaute mich um: Jetzt, am Mittag., sind die Strandpartien gähnend leer, viele haben ihre Sporttaschen, Handtücher oder Zeitungen aber liegen gelassen, so erweckt das Terrain den Eindruck eines unvermittelten Aufdrucks, ah wäre die badende Meute nach allen Seiten geflohen ... Die Hitze nistet wie eine dünne, beißende Folie auf dem Sand, die Füße halten die Berührung kaum aus, so geht man schnell und springt beinahe von Reihe zu Reihe, um endlich einen dunklen Schattenflecken zu finden ... Die unglaubliche Lethargie, die sich in alle Bewegungen einschleicht: Das verzögerte Gehen und Schlurfen, das langsame Trinken und Nippen, vorhin sah ich zwei, die beisammenstanden und beide auf den Sandboden schauten, wo ihre mahlenden Zehen winzige Spuren und Zeichen hinterließen ... Wenn man sieb in einen Liegestuhl legt, packt einen die Hitze ein, sie rollt sich von unten her aus und schlägt dann wie eine Decke von beiden Seiten über dem Körper zusammen ...
Auf solche Beobachtungen sollte sich, denke ich jetzt, ein Film konzentrieren. Genauigkeit, die Schönheit des Einfachen, der exakte Blick, keine Bilder, um etwas zu demonstrieren oder sonst wie zu beweisen. Ich bin durch die vielen Auftragsarbeiten verdorben, ich habe mir einen Fernseh-Blick antrainiert, einen Blick, der beherrscht ist vom Schauen für andere und davon, wie ich mir das Schauen der anderen denke ...
Immerhin wehre ich mich gegen die Hitze, ich sitze gerade, aufrecht, auf der Lauer, ich blicke wie ein Vogel nach allen Seiten, ich sitze auf dem Posten, so wie ich in der kleinen Hafenbar auf dem Posten saß ... Sie winkte, ich grüßte zurück, das war alles, und doch hat mir dieser kurze Moment des Austauschs so sehr gefallen. Am liebsten ginge ich jetzt, am Nachmittag, ins Museum zurück, um den morgendlichen Gang noch einmal zu wiederholen und mir ihre Worte in Erinnerung zu rufen. Damit aber könnte ich alles verderben, ich könnte ihr unversehens begegnen, ich könnte mich hinreißen lassen zu einer einfallslosen Bemerkung, ich neige zu solchen unüberlegten Aktionen. So habe ich mich gezwungen, hier am Strand auszuharren, ich will diesen einzigartigen Morgen auskosten, das muss genügen ... Übrigens, ich mag Frauen, die auf eine bestimmte Art Fahrrad fahren, wenn ich eine Frau auf diese Art fahren sehe, fühle ich mich stark zu ihr hingezogen. Die Bewegung darf nicht zu schnell sein, sondern eher kontinuierlich oder, sagen wir, stetig, dazu aber kraftvoll, ich muss erkennen können, dass diese Frau schon immer Fahrrad gefahren ist, das Fahren ist für sie keine Pose, sondern etwas, das vollkommen zu ihr gehört, seit Kindesbeinen, könnte man sagen, ist sie daran gewöhnt... Was schreibe ich da? Worüber denke ich nach? Bin ich verrückt?
Ich versteckte das Notizbuch in meiner Tasche und stand auf, niemand badete jetzt im Meer, es war der ideale Zeitpunkt, es ganz allein zu tun. Die roten Rettungsboote vorn am Strand standen schräg gegen die erste Reihe der Liegestühle, ich sprang auf eines hinauf und wippte kurz auf und ab, als machte ich mich bereit zum Absprung. Eine kaum merkliche Sandwelle, über die unaufhörlich die letzten Wellenausläufer streiften und sich verzettelten, markierte die Grenze, danach ging es sacht hinab, die Füße stemmten sich noch ein wenig gegen den Abwärtsgang, dann kam die schäumende, perlende, kleine Tropfenketten knüpfende Gischt, die Füße sanken allmählich ein, das Wasser stieg an bis zur Brust, ich schwamm los, weit hinaus, mit gleichmäßigen, ruhigen Stößen. Irgendwann wurde es mir zu viel und die Bewegung auch lästig, ich drehte mich auf den Rücken und ließ mich tragen, den Kopf halb unter Wasser, so dass die Landgeräusche verebbten, ich war eingetaucht in das gleichmäßige Summen des Meeres, stilles Summen, dachte ich, Ur-Ton, ich schloss die Augen und spürte die brennende Sonnendichte auf meinem Gesicht.
Als ich hörte, wie hier und da wieder die Musik angeworfen wurde, entschloss ich mich, noch weiter hinauszuschwimmen. Der Küstenlinie war ein schmales Riff vorgelagert, es bestand aus mächtigen Felsbrocken, die starken Wellengang brechen sollten. Ich sah einige Felsspitzen, ockergelb, bleich streckten sie sich in der Sonne, ich schwamm auf sie zu und tauchte dann mit offenen Augen wenige Meter vor ihnen ab.
Unter Wasser waren die Felsen dicht mit Muscheln besetzt, ihre wüstenartige, staubtrockene Dichte machte sie zu einem urzeitlichen versteinerten Wald, Schwärme buntgestreifter Fische kreisten, unaufhörlich die Schwimmrichtung wechselnd, zwischen den im Rhythmus der Wellen hin und her schwankenden Gräsern. In der Tiefe erschien das Grün des Wassers wie aufgeladen, eine gallertartige schlingernde Masse voller Treibstoffe, auf den Sandböden taumelten die flachen Rauten Körper der Rochen über den Kalkzonen geborstener Schalen. Ich griff nach den Muscheln, ich tastete an ihren Körpern entlang, sie fühlten sich pelzig und doch so lebendig an, als pulsierten sie tief in ihrem Innern.
Ich versuchte, immer länger unter Wasser zu bleiben, die Welt dort unten hatte etwas Geheimes, Abgeschlossenes, das sich jedem Zugriff entzog und einem nur noch die Rolle des Beobachters ließ. So war die Wahrnehmung auf das Visuelle beschränkt, schon die Lautlosigkeit sorgte dafür, aber auch die Distanz zur Umgebung, keine Berührung, lediglich ein Schweben, wie eine unendlich angenehme Schwerelosigkeit, ich konnte mir sofort vorstellen, dass man nach diesen Zuständen süchtig werden konnte, der reine Selbstbezug der Wahrnehmung euphorisierte.
Schließlich klammerte ich mich an einer Felsspitze fest, die scharfen Kanten der Muscheln ließen nicht zu, dass ich mich anlehnen oder gar ausruhen konnte, Seeigel pressten sich gegen den Stein, und winzige Krebse versuchten bei jedem Wellenschlag, nicht von ihrem Ruheplatz weggeschwemmt zu werden. Ich tauchte noch mehrmals, ich kam nicht los von dem grünblauen Film mit den hellen, kalkfarbenen Grundierungen, die stillen Bewegungen der Fische erschienen mir wie ein Vorbild, so wollte ich gleiten, traumwandlerisch sicher durch die Tangmatten und Felsspalten, völlig eins mit dem Element.
Als ich viel später wieder den Strand erreichte, waren fast alle Liegestühle besetzt, die Paare lagen meist regungslos mit geschlossenen Augen dicht nebeneinander, nur die älteren Männer blätterten noch in ihren Zeitungen oder starrten auf die Sandburgen der Kinder. Ich war vom weiten Schwimmen ermüdet, doch ich wollte mich nicht in diese Verhältnisse einordnen, deswegen setzte ich mich auf eines der Rettungsboote weit vorn und schaute den Joggern und Strandläufern zu. Der Meeressaum war jetzt die Zone der langen Gespräche, kleine Gruppen von drei, vier Personen standen bis zu den Fußknöcheln im Wasser und unterhielten sich, als warteten sie in einem Vorzimmer auf Einlass, vor hundert Jahren, dachte ich, hatte hier noch kein Mensch gestanden, in noch viel früheren Zeiten war das Meer einmal etwas Furchtbares, Dämonisches gewesen, die Heimat der Seeschlangen und Ungeheuer.
Ich schaute mich um, nein, es war ganz unmöglich, jetzt hier am Strand zu bleiben, laufen wollte ich nicht, liegen kam nicht in Frage, die Musik ließ kein Schreiben zu, am ehesten hätte ich noch mit den Allerältesten Boccia gespielt, denn das passte hierher, das krause Geschwätz über die Plazierung der Kugeln, die wichtigtuerischen Mienen, mit denen man einen Wurf verfolgte, gerade an der Grenze zur sonnenstichigen Blödheit hätte ich so etwas noch ertragen.
Ich wollte mich anziehen, als ich bemerkte, dass ich von allen Seiten angestarrt wurde, niemand zog sich jetzt an, wie sich überhaupt nie jemand aus- oder anzuziehen schien, sie trafen in ihrer Badekleidung hier ein und verließen in ihr wieder den Strand, die meisten gingen mit ihr nicht einmal ins Wasser, es handelte sich um eine Art Sommerunterwäsche, die sie vielleicht noch im Bett anbehielten. So raffte ich meine Kleidung zusammen und ging hinüber zu einer der hölzernen Umkleidekabinen, ich öffnete die Tür und betrat den dunklen Raum, der nur durch ein kleines Guckloch Luft und Licht bekam. Die plötzliche Dunkelheit und der Geruch feuchten Holzes erinnerten mich an früher, vor sehr langer Zeit hatte ich mit den Eltern einmal Ferien am Meer verbracht, ich erkannte den Geruch wieder, genau dieser hier war es gewesen, und dazu die Enge der dunklen Kabine, in der sich zwei Personen zugleich drängten.
Während ich mich anzog, ging ich die möglichen Zeiten für ein Bad durch, morgens in der Frühe, noch vor dem Frühstück, wäre nicht schlecht, mittags, bei allerdings großer Hitze, unter Umständen möglich, das Bad in der Nacht war eine Eskapade und daher von Launen abhängig. Ich nahm mir vor, die Tage gut einzuteilen, ich hatte keine Zeit zu verschenken, aber zumindest ein Bad am Tag musste möglich sein. Jetzt aber wollte ich in die Stadt, ich hatte noch kaum etwas von ihr zu sehen bekommen, bisher hatte ich mich vor allem auf die nächsten Strandgegenden beschränkt. Rudolf hatte mich in München gewarnt, keine Kirchen, keine Paläste, keine Kultur, hatte er mir eingetrichtert, er kannte meine Anfälligkeit für solche Abschweifungen, aber was hatte das schon zu bedeuten, zumindest einige solcher Bilder würden wir in den ersten zwei, drei Minuten brauchen, um die Stadt vorzustellen. Brauchten wir sie? Brauchten wir sie wirklich? Ich erinnerte mich an die guten Vorsätze, die ich noch vor wenigen Stunden in meinem Notizbuch vermerkt hatte, jetzt standen sie bereits auf dem Prüfstand, aber ich verschob die Entscheidung auf später, wenn ich mir die Stadt angeschaut hatte.
Ich zog den kleinen Rucksack über, alles Notwendige hatte ich dabei, dann ging ich den breiten Boulevard hinunter, wo mich ganze Rudel von Radfahrern überholten. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag selbst ein Fahrrad zu mieten, ein Fahrrad war hier ideal, mit seiner Hilfe konnte ich leicht bis in die letzten Winkel der Stadt vordringen. Als ich daran dachte, überfiel mich eine seltsame Euphorie, ich begriff nicht genau, wodurch sie entstand, vielleicht hatte sie mit den Bildern unter Wasser zu tun, die mir nicht aus dem Kopf gingen, vielleicht entstand sie aber auch durch die Erinnerung an die kurze Szene gegen Mittag, als eine mir beinahe unbekannte Frau mir von einem Fahrrad aus zugewinkt hatte.
#8 
regrem патриот17.02.16 18:30
NEW 17.02.16 18:30 
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DER BOULEVARD stieß an seinem Ende auf das Hafengebiet, dazwischen befand sich wie ein grüner Puffer ein Gelände aus kleinen Pinienwäldchen, es war eine geschlossene, bunte Zone mit Tennis-, Boccia- und großen Kinderspielplätzen, die Kindermädchen saßen zu zweit oder zu dritt auf grünen Parkbänken und sprangen den spielenden Kindern manchmal zu Hilfe, eine Kutsche zog ihre Bahn auf den Kieswegen, Rollschuhläufer kreisten zu einer aufheizend rasanten Musik auf einer Betonbahn, alles war in Bewegung, selbst die Alten hatten zu tun, schoben Kinderwagen und scharten sich um die sich alle Minuten wieder von neuem drehenden Karussells.
Ich bog in die breite Hauptstraße ein, die direkt in die Stadt führte, ich passierte die ersten Cafés und ein Kaufhaus, die kleinen Läden reihten sich dicht aneinander, zona pedonale war an jeder zweiten Ecke zu lesen. Auch die schmaleren Seitenstraßen liefen im rechten Winkel auf die zentrale Achse der Hauptstraße zu, der Eindruck, den ich vom Hotelbalkon aus erhalten hatte, hatte nicht getäuscht, es handelte sich um ein einfaches Muster neuer Straßen mit Häusern aus den letzten Jahrzehnten, nicht einmal ein Zentrum schien es zu geben, keinen Marktplatz, keine herausragende Kirche, die üblichen Vorstellungen von italienischen Städten versagten hier, nichts erinnerte an alte Geschichten oder langes Wachstum, anscheinend hatte man die Stadt in sehr kurzer Zeit der dominierenden Küste angepasst, parallel oder eben im rechten Winkel zu ihr. Das Ergebnis war eine Art »trockener Leere« in ihren Straßen, kaum Schmuck, sondern reine Funktion, auch die Geschäfte hielten die Verbindung zum Meer, die meisten waren Fachgeschäfte für Angler, Taucher und Bootsbesitzer, daneben immer wieder Läden für Strandbekleidung, es war leicht zu erkennen, dass das Meer hier alles, jede Regung, bestimmte. Ich dachte daran, dass es mir leichtfallen würde, Rudolf zu beruhigen, kein Mensch konnte auf die Idee kommen, diese Stadt wie eine italienische Traumkulisse aus lauter Sehenswürdigkeiten zu inszenieren, Sehenswürdigkeiten gab es hier keine, die Stadt hatte andere Reize, moderne, abstrakte, sie schien vernarrt in Geometrie, klare Verhältnisse, klare Linien, die sich von den Liegestuhlreihen bis zu den Straßenzügen erstreckten und so eine spröde Kühle vermittelten, Kühle, nicht Kälte, präzisierte ich gleich, auch so etwas ließ sich inszenieren, kurze Momentaufnahmen ließen sich inszenieren, kurze Momentaufnahmen, rasche Schnitte, das bedeutete Arbeit, viel Arbeit.
Ziellos, aber beruhigt lief ich weiter, immerhin hatte ich bereits einige Ideen für ein Konzept, nun kam es darauf an, die richtigen Bilder zu finden, ein minuziöses Suchen war dafür nötig, ich musste das Innenstadt-Karree bis in die hintersten Winkel kennenlernen. Sehr langsam, kaum merklich wurden die Farben dichter und kräftiger, lange stand ich vor einem Fotogeschäft, in dessen Fenster sich Abzüge von Schwarz-Weiß-Fotografien befanden, die man vor vielleicht hundert Jahren gemacht hatte, die unmittelbare Küstenregion hatte damals noch eine jetzt nicht mehr wiederzuerkennende Schönheit, breite, lange Straßenzüge, die Palmen auf Brusthöhe, geduckt, kein Verkehr, nur einige verstreut herumlaufende Spaziergänger. Auf einem anderen Bild stand ein Kreis von Männern, alle mit Kappen und Hüten, bis zu den Knien im Wasser und versuchte, mit einem Schleppnetz auf Fischfang zu gehen, während die Frauen sich auf einem dritten Bild in langen, schweren Kleidern mit ihren Wäschekörben um den einzigen noch erhaltenen älteren Brunnen des Ortes gruppierten, wie auf einem nostalgischen Film Bild von Bertolucci.
So ließ ich mich treiben, die allmähliche Dunkelheit kam mir vor wie eine passende Überblendung zu den alten Fotografien, einige von ihnen gehörten unbedingt in den Film, denn sie zeigten den Ur-Zustand der Stadt, das kleine, noch unbedeutende Fischerdorf, das von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in großem Tempo gewachsen und mit all den hinzukommenden touristischen Attraktionen zu einer kaum noch zu überschauenden Stadt mit dem größten Fischereihafen des ganzen Landes geworden war.
Als ich die Hauptstraße wieder erreichte, hatte sie sich vollständig verwandelt, sie war jetzt mit Hunderten von Menschen besetzt, die frühabendliche passeggiata hatte begonnen, ein Kreisen und Flanieren von kleinen, sich unentwegt unterhaltenden Gruppen, die alle paar Meter haltmachten. Aus allen Seitenstraßen strömten sie wie dichte, kreischende Vogelschwärme herbei, es war wie eine plötzliche Überschwemmung, die breite Hauptstraße reichte längst nicht mehr aus, die Scharen drängten in die erleuchteten Cafés, um sich Getränke und Nahrung zu verschaffen, etwas zum Picken oder zum Kosten, eine kleine und nur vorläufige Brücke bis zur abendlichen cena.
Ich war froh, jetzt diese lebendigen Bilder zu sehen, sie eigneten sich gut für den Film, endlich hatte ich einen Kontrast zu den wohl eher stillebenähnlichen Momentaufnahmen gefunden, ich konnte es mir genau vorstellen, die Stille, den langsamen Übergang in die Dämmerung und dazu diese musikalische Melange von allen Seiten, auch die passte genau.
Im Gedränge der Scharen kam ich mir etwas verloren vor, nichts empfand ich jetzt unpassender als dieses einsame Gehen, daher ging ich in eines der überfüllten Cafés, bestellte ein kühles Glas Bier und suchte mir einen Platz an der Theke, nur in der Nähe des Eingangs, im Kassenbereich, war das noch möglich. Ein Kellner drückte mir das Glas direkt in die Hand, ich nahm einen Schluck und spürte einen feinkörnigen, kristallinen Salz film auf beiden Lippen, ich tastete kurz mit der Zunge danach und nahm einen zweiten Schluck, die Kälte des Getränks kontrastierte seltsam mit meinem vom mittäglichen Bad erhitzten Gesicht. Ich konnte das Glas nicht abstellen, ich musste es wie auf einem Empfang in der Hand halten, ich stand nahe der Tür und spürte plötzlich, dass ich beobachtet wurde, jemand musterte mich und blickte mich sehr intensiv an, von irgendwoher in diesem vollen Raum erfasste mich eine regelrechte Blicksonde, ich wusste nur nicht von wo. Mein Blick hastete durch den Raum, oberflächlich und gierig, es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ich sie erkannte, sie stand inmitten einer Gruppe, weit von mir entfernt in der anderen Ecke des Raums und hatte sich aus der Unterhaltung anscheinend ausgeklinkt, sie schaute mich ganz direkt an, sie studierte mich.
Als ich sie bemerkte, lächelte sie, ohne dass es ihr etwas ausmachte, es war ein Lächeln des Wiedererkennens, kein Gruß, nichts Konventionelles, wir schauten uns an, als hätten wir uns nach einem Umweg gefunden, auch ich musste lächeln. Ich fühlte, wie der Raum sich durch unser Schauen verengte, die Umgebung schien zu verschwimmen, auch die Geräusche waren plötzlich seltsam gedämpft, am liebsten wäre ich jetzt zu ihr gegangen, aber ich blieb auf meinem Platz stehen, als hielte ich mich an geheime Regeln.
Ich war auch der erste, der den Blickkontakt unterbrach, ich drehte mich etwas seitwärts und nahm erneut einen Schluck, ich schaute zur Tür hinaus, wie schön war dieser Abend mit seinen ziehenden Scharen und seiner weichen, mildwarmen Luft. Während ich hinausstarrte, hatte ich aber ihr Bild weiter vor Augen, jetzt am frühen Abend sah sie viel jünger aus als am Morgen, ich schätzte sie auf knapp über Dreißig, höchstens, sie war also vielleicht sechs oder sieben Jahre jünger als ich, wie hatte sie es dann aber geschafft, so schnell Karriere zu machen und aufzusteigen bis zur Direktorin? Langsam drehte ich mich wieder um, sie hatte sich natürlich längst abgewendet, sie unterhielt sich mit zwei, nein, drei Freundinnen, sie wirkte wie eine Studentin kurz vor der großen Prüfung, passioniert, aber noch ohne den Lebensernst, den ein Beruf einem dann oft verpasste. Lebte sie allein?, ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie gebunden war, wie ich sie mir überhaupt in manchen Situationen nicht vorstellen konnte, zum Beispiel nicht am Strand, als Badende, schon eher als Strandläuferin, früh am Morgen, vielleicht lebte sie allein in einem kleinen appartamento, zwei, drei Zimmer ganz in der Nähe, klar und puristisch eingerichtet, genau eine solche Ästhetik würde es sein. Brüder?, ja vielleicht, aber höchstens zwei, eher einen, einen jüngeren, mit dem sie gut auskam, keine Schwestern, der Vater Arzt oder Jurist, ein bereits älterer Mann, den die Schönheit seiner Tochter noch immer oft sprachlos machte, die Mutter in diversen Komitees, eine etwas anstrengende, lebhafte Frau mit einem unübersehbaren Freundeskreis. Freunde?, aber ja, viele Freunde, doch den richtigen hatte sie noch nicht gefunden, die meisten waren ihr zu verspielt oder vielleicht auch zu verträumt, eine wie sie hatte es schwerer als andere, an den Richtigen zu geraten, ich konnte mir ihr Zögern gut vorstellen, sicher war sie durch ihr Studium und einen anstrengenden Beruf auch abgelenkt worden, nur musste sie sich hüten, den Absprang in die Ehe am Ende nicht ganz zu verpassen. Lange Mahlzeiten waren bestimmt etwas für sie, sie aß und trank sicher gern und mit großem Genuss, sie hatte einige Zeit in Frankreich verbracht und beinahe alle Regionen Italiens besucht, auch die gebirgigen liebte sie sehr. Kunst?, Musik?, unbedingt, sie
war die ideale Museumsbesucherin, eine Bild-Süchtige, die aber nur schaute und wenig über das Gesehene las, lange Lektüren waren gewiss nicht ihr Fall, höchstens das meeresbiologische Fachwissen, Musik hörte sie instinktiv, sie schnappte hier und da etwas auf, länger damit beschäftigt hatte sie sich wohl nicht.
Ich leerte mein Glas, am liebsten hätte ich über all das mit ihr gesprochen, sie hätte es nicht als ungebührliche Einmischung in ihr Leben verstanden, es hätte ihr vielmehr, auch da war ich mir vollkommen sicher, großes Vergnügen gemacht. Die Freundinnen, mit denen sie sich unterhielt, waren bestimmt keine Kolleginnen, ihr Umgang mit ihnen war derart privat und intim, wie es unter Kolleginnen nicht möglich gewesen wäre. Ich bestellte noch ein Glas, die Biergläser waren für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich klein, wie Zwerge verschwanden sie in der geschlossenen Hand, man musste aufpassen, sie nicht zu zerdrücken.
Als ich mich noch einmal nach ihr umschaute, blickte auch sie wieder zurück, sie lächelte nicht mehr, ihr Blick hatte jetzt etwas Ernstes, als denke sie über mich nach. Dann aber gab sie den Freundinnen ein Zeichen, sie gingen voraus, ich sah die Gruppe auf mich zukommen, ich wäre gern nach draußen geflohen und hätte mich unter die ziehenden Scharen gemischt. Die Freundinnen mussten sich einen Weg bahnen, die Gruppe kam nur langsam voran, ich hatte das Gefühl, mit dem Rücken gegen die Theke gedrängt zu werden, vielleicht kam mir das aber auch nur so vor, vielleicht war diese Empfindung eine Folge des immer heftiger werdenden Fluchtinstinkts. Die Gruppe der Freundinnen passierte mich, keine nahm von mir irgend Notiz, sie hatten mich bestimmt nicht erwähnt oder gar länger von mir gesprochen. Als sie mich erreichte, blieb sie stehen, guten Abend, Herr Regisseur, sagte sie, Regisseur, tatsächlich Regisseur, das Wort verwirrte mich, nichts fiel mir dazu ein, und so sagte ich lediglich guten Abend, mehr nicht, obwohl ich spürte, dass noch ein Zusatz nötig oder hilfreich gewesen wäre. Selbst die beiden armseligen Worte gelangen mir aber nur mit äußerstem Kraftaufwand, ich konnte meine Aufregung kaum unterdrücken, einen Moment glaubte ich sogar, meine Stimme könne versagen.
Von hinten drängten weitere Gäste hinaus, sie stand im Weg und wurde in meine Richtung geschoben, ganz kurz stützte sie sich gegen meinen Arm und entschuldigte sich. Ich überlegte, ob ich sie zu einem Glas einladen sollte, aber sie sprach schon vom kommenden Morgen, sie sagte, Dottore Alberti sei informiert, der Dottore werde sich um mich kümmern und mir einige Filmens werte Experimente vorschlagen, sie habe mit ihm ausführlich darüber gesprochen. Sie sprach schnell und sicher, als erledigte sie nur etwas Dringendes, ich konnte ihren jetzt ganz sachlichen Blick nicht erwidern, ihre Freundinnen warteten draußen auf sie und riefen ihr etwas zu, sie entschuldigte sich, sie müsse jetzt weiter, der Abend sei wahrhaftig schön, nicht wahr, sie sagte es sehr schnell und schon halb auf dem Sprung.
Ich fand das alles unpassend, ich stand ihr hilflos und beinahe mundtot gegenüber, ich kam nicht voran, mir stockte die Sprache, eine schlimme Einfallslosigkeit, die ich sonst nicht an mir kannte, lahmte mich. Bevor sie ganz hinaus war, drehte sie sich noch ein letztes Mal um, sind Sie allein hier, fragte sie und setzte noch einmal an, als wollte sie es genau wissen, Sie sind für die Zeit Ihrer Recherchen hier ganz allein? Ich fahre in solchen Fällen immer allein, antwortete ich, sie lächelte wieder und verabschiedete sich, sie schloss zu ihren Freundinnen auf, ich begriff nicht, warum sie mir noch diese letzte Frage gestellt hatte, wollte sie das wirklich wissen oder hatte sie vielleicht das Unpassende ihrer übertriebenen Eile gespürt?
Ich trank mein Glas aus, ich warf mir vor, sie nicht auf ein Glas eingeladen zu haben, warum bloß hatte ich es erneut nicht geschafft, warum war ich so zurückhaltend gewesen? Ich zahlte eilig und lief nach draußen, ihre Gruppe schlenderte auf der gegenüberliegenden Straßenseite davon, blieb dann aber unerwartet bei einer anderen Gruppe stehen, ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte, es war ausgeschlossen, dass ich mich jetzt auf und davon machte, gerade jetzt, wo wir uns so nahe gekommen waren.
Ich zog mich unter die Arkaden eines Geschäftes zurück, hinter einem der Pfeiler wartete ich, als müsste ich mich verstecken, dann holte ich die kleine Kamera hervor und startete die Aufnahme. Ich zoomte sofort auf ihr Gesicht, aus der Dunkelheit schoss es auf mich zu, ich versuchte, ihrem Mienenspiel so nahe wie möglich zu kommen, und zeichnete es bis in die Details nach, die Schläfen und die stark hervortretenden Backenknochen entlang über die Lippenfurche bis zu den Lippen, es war beinahe, als nähme ich ihr Gesicht in beide Hände und als touchierten meine Finger die Haut.
Zwei, drei Minuten filmte ich so, ohne die Einstellung zu verändern, ich bewegte mich nicht von der Stelle, dann gab ich auf. Sie stand jetzt inmitten sehr vieler Menschen, ich konnte sie kaum noch erkennen, immer wieder verschwand ihr Kopf in der dunklen, hin und her wogenden Traube, ich wusste, für diesen Abend war sie für mich verloren. Ich fühlte mich noch erhitzter als zuvor, ich hatte keine Lust mehr auf ein Abendessen oder sonst eine Unternehmung, ich wollte mich nur noch von ihr trennen, möglichst rasch und ohne weitere Umwege. Mein Herz klopfte stark, ich packte die Kamera wieder ein, dann machte ich mich auf den Weg zum Hotel.
#9 
regrem патриот17.02.16 18:30
NEW 17.02.16 18:30 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 18.02.16 21:31 (regrem)
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ALS ICH IM Foyer eintraf, begegnete mir Carlo, ich kam nicht an ihm vorbei, er hielt mich fest und fragte mich, wie es mir gehe, warum ich so früh komme, wo ich zu Abend gegessen habe, er stellte diese Fragen rasch hintereinander, als wäre er über meinen Anblick erschrocken. Ich sagte, dass ich nicht zu Abend gegessen hätte, ich versuchte abzuwiegeln und erklärte, ich hätte keinen Hunger, er schaute mich etwas lauernd an, als müsste er einer Krankheit auf die Spur kommen. Wollen Sie wirklich schon auf Ihr Zimmer? fragte er schließlich, ich sagte ja, die klare Antwort befriedigte mich nach den vielen Unklarheiten zuvor, ich sagte, ich habe zu arbeiten, ach was, entgegnete Carlo, arbeiten Sie morgen, ein anderes Mal, gehen Sie hinauf auf Ihr Zimmer und kommen Sie in einer
Viertelstunde wieder herunter, ich lade Sie zu einem guten Glas ein.
Ich überlegte keinen Moment, ich bedankte mich für die Einladung, dann ging ich wirklich hinauf, duschte, zog mich um und trat hinaus auf den Balkon. Ich erkannte den Küstenstreifen der hell erleuchteten Restaurants direkt am Strand, es musste schön sein, jetzt in einem der zum Meer hin offenen Speisesäle zu sitzen, für einen Moment dachte ich an mich selbst und eine bestimmte andere Person, dann trennte ich mich aber abrupt von dieser Vorstellung und ging wieder zu Carlo hinunter.
Er ließ mich kurz an der Rezeption warten, er schloss ein paar Schränke und Schubladen ab, dann öffnete er die Tür des Speisesaals und ging vor mir hinein. Ich sah, dass in der Mitte ein Tisch gedeckt war, es war ein kleiner, viereckiger Tisch, anscheinend war es genau der Tisch, an dem er selbst am Mittag speiste. Eine Kerze brannte, auf einer silbernen, von Eis überquellenden Platte erkannte ich eine Lage von Austern. Essen Sie, sagte Carlo, ich freue mich, wenn es Ihnen schmeckt, den Gästen kann man so etwas ohnehin nicht servieren, die verstehen von so etwas nichts.
Ich blieb stehen, der in der Dunkelheit durch das minimale Licht angestrahlte Tisch wirkte wie ein Stillleben, ich wagte nicht, in dieses Bild zu treten, bis Carlo mich voranschob, überlegen Sie nicht lange, wir bekommen alle paar Tage etwas davon, umsonst, es handelt sich um die Gefälligkeit eines Freundes, der mich täglich mit Fisch beliefert. Warum lassen Sie sie nicht zurückgehen, fragte ich, und er
antwortete, Austern lasse man nicht zurückgehen, man esse sie. Wer isst sie denn, fragte ich nach. Ich, erwiderte Carlo, ich und das Personal essen sie, wenn unsere Gäste es nicht bemerken, heute haben wir eine besonders große Ladung bekommen.
Er lachte in sich hinein, auch ich musste lachen, ich nahm endlich Platz, er schenkte mir etwas Weißwein ein, dann griff ich nach der ersten Auster und schlürfte sie aus. Als ich den intensiven Geschmack auf der Zunge spürte, schloss ich kurz die Augen, ich glaubte, den Tang und die Algen zu kosten, die ich am Mittag unter Wasser gesehen hatte, die Muscheln öffneten sich, ich spürte mit der Zunge den Kalk-schründen nach, ich trank. Carlo setzte sich mir gegenüber und schaute mir zu, ich berichtete ihm von den Fotografien, die ich am Abend gesehen hatte und fragte ihn, ob er mir nicht von vor dreißig oder vierzig Jahren erzählen wolle, davon also, wie es hier früher ausgesehen und wie die Stadt sich seitdem verändert habe.
Ich schlürfte weiter die Austern, langsam, ohne Unterbrechung, ich schlürfte und trank jetzt das Meer, pur, ohne Zutaten und Dekoration, und ich hörte Carlo zu, der erzählte und Weißwein nachschenkte. So saßen wir zu zweit in dem großen und leeren Saal, nur das Flackern der Kerze verriet uns, während draußen, vor der weiten Fensterfront, der dichte nächtliche Verkehr rauschte. Einmal erkannte ich unser Spiegelbild vor dem angestrahlten Grün der Palmen, es erschien mir wie die Anfangs- oder Schluss-Sequenz eines großen Film-Epos, ich musste immer wieder darauf starren, so stark war seine Wirkung, während Carlo von einem abgelegenen Fischerdorf und seiner allmählichen Verwandlung in einen überfüllten Ferienort erzählte.
Erst tief in der Nacht trennten wir uns, ich dankte Carlo, diese nächtlichen Stunden hatten den zerrissenen Anfang des Abends blasser werden lassen, ich fühlte mich wieder besser, ich wusste nicht, wieviel Austern ich gegessen hatte, es war ein großer Genuss gewesen.

Ich ging wieder hinauf auf mein Zimmer, ich wollte etwas notieren und setzte mich noch einmal auf den bereits dunklen Balkon. Ich schaute auf das schwarze Meer, dann begann ich zu schreiben: Ich habe mich heute so seltsam verhalten wie lange nicht mehr, es ist beinahe wie in pubertären Tagen, ganz grausam. Ich habe Angst, etwas falsch zu machen, ich versuche, in ihren Blicken zu lesen und genau das Richtige, den richtigen Zugang zu finden, doch so geht es nicht. Ich bin in meinem Leben mit vielen Frauen zusammen gewesen, ich sollte wissen, wie man sich in solchen Momenten verhält, seit zwei Jahrzehnten bin ich vor einer Frau nicht mehr so zurückgeschreckt, zum letzten Mal war es in einem Moment, da eine Frau mir sagte, dass sie mich liebe ...
Ich überlegte kurz, ob ich noch weiter ausholen sollte, doch ich brach das Notieren ab, ich ging wieder ins Zimmer, ließ die Rollos herunter und legte mich ins Bett, ich wusste, dass ich nicht einschlafen würde.
#10 
regrem патриот17.02.16 18:31
NEW 17.02.16 18:31 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 18.02.16 21:33 (regrem)
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AM NÄCHSTEN Morgen war die Tür des Museums geöffnet, als ich erschien, ich hatte erwartet, Antonio und der Direktorin zu begegnen, doch ich traf im Büro gleich auf Dottore Alberti. Er war mehr als einen Kopf kleiner als ich, hatte dichte, schwarze Haare, bewegte sich flink und gab sich freundlich, ich schätzte, dass er ungefähr so alt war wie ich. Wir wechselten einige höfliche Worte, er sprach etwas rasch, ich entschuldigte mich für mein unvollkommenes Italienisch und bat ihn, ein wenig langsamer zu sprechen. Er lächelte knapp und sprach kaum eine Minute in einem verzögerten, beinahe kindlichen Ton, dann legte er wieder los und hatte bald das alte Tempo erreicht. Er war gut informiert, mit mir zu sprechen, schien ihm sogar Spaß zu machen, jedenfalls redete er von seiner Liebe zum Film und davon, dass man ihn mindestens einmal in der Woche im Kino antreffe. Allom, sagte er nach beinahe jedem zweiten Satz, allora, widmen wir uns jetzt den Details, gehen wir einen Stock tiefer, ich werde Ihnen einige Arbeitsmethoden vorstellen, allora.
Sein rasches Reden machte mich etwas unruhig, es wirkte übertrieben ausführlich und dadurch komisch, er ließ mir kaum eine Chance, etwas zu erwidern, so dass ich ihm stumm folgte. Der Raum, in den er mich führte, war möbliert wie ein Vortragssaal, mehrere Stuhlreihen hintereinander, an den Wänden die unvermeidlichen Tabellen und Tafeln, ich musste in der ersten Reihe Platz nehmen und ahnte nichts Gutes. Der Raum wurde verdunkelt, dann begann Dottore Alberti mit seinem Vortrag, er projizierte Dia-Bilder auf eine winzige Leinwand, seit Jahrzehnten hatte ich keinen Dia-Vortrag mehr gesehen.
In den ersten Minuten schweiften meine Gedanken ab, ich war auf längere Ausführungen nicht vorbereitet, ich hatte mir etwas Sinnlicheres vorgestellt, schließlich hatte die Direktorin von einer Außenvisite gesprochen. So hatte ich Mühe, meine Enttäuschung zu unterdrücken, außerdem hatte ich in der Nacht nur sehr wenig geschlafen, ich war mehrmals auf den Balkon gegangen und hatte wegen meines großen Durstes immer wieder Wasser getrunken, sehr früh am Morgen hatte ich im Meer gebadet, wiederum war ich allein im Wasser gewesen und hatte die Sonne am Horizont aufsteigen gesehen.
Dottore Alberti aber hatte jede Verbindung zu mir abgebrochen, er sprach von seinem Projektor aus unentwegt und mit deklamatorischem Unterton ins Dunkel, es handelte sich dennoch um nichts anderes als um einen trockenen Schul-vortrag, pedantisch, penibel und naseweis, ohne jede Spur von Humor. Ich wehrte mich eine Weile gegen den Überrumpelungston, schon die Faktenfülle widerte mich geradezu an, dann aber zwang ich mich, zumindest ein paar Brocken aufzuschnappen, warum saß ich sonst hier. An-scheinend ging es vor allem darum, mir Messtechniken begreiflich zu machen, von einer Messstation war jedenfalls dauernd die Rede und noch ausführlicher davon, welche Mühen es bereitete, sie adäquat in der Tiefe zu installieren, die anscheinend immens schweren Geräte wurden mit Hilfe von Leinen ins Wasser gelassen, ein Zeitraffer wurde eingesetzt, dann schien es auf Strömungsfähnchen, Luftblasen
und die Sauerstoffspannung anzukommen, auch wurde ein Schlitten, in dem wohl ein Gehäuse für eine Kamera untergebracht war, gezeigt und mehrfach erwähnt, ich tat, als notierte ich das, und Dottore Alberti konzentrierte sich ganz auf die Frage, wie und wo der Schlitten über Bord zu lassen sei und worauf zu achten sei, damit ein gewisses Kabel sich nicht verspannte.
Auf den Dia-Bildern waren all die erwähnten Geräte in Großaufnahmen zu sehen, ansatzweise erkannte man auch die Forscher, keiner schien ohne ein imposantes T-Shirt auszukommen, das mit dem Namen seiner Forschungsstation bedruckt war. Dottore Alberti vergaß denn auch nicht, diese Aufdrucke zu erwähnen, er las sie sogar langsam und überdeutlich vor, als entziffere er sie gerade, er sprach von Forschern aus aller Welt, von der weltweiten Familie der Meeresbiologen und der friedlichen Nutzung des Meeres, ich war nahe dran, ihm den Hals umzudrehen. Ich überlegte, wie ich ihn wirksam bremsen konnte, als sich die Tür öffnete und die Direktorin hereinkam. Sie grüßte stumm, setzte sich aber sofort neben mich und hörte mit zu, Alberti unterbrach sich nicht einmal für den kürzesten Moment, er sprach einfach weiter.
Ich tat interessiert und starrte auf die in rascher Folge gezeigten Bilder, dabei fühlte ich mich jetzt noch mehr wie ein Schüler, ein Schüler mit Klassenkameradin, so saßen wir andächtig und regungslos nebeneinander, und Alberti drehte immer mehr auf, lauter noch als zuvor. Ich fragte mich, wie es einer wie er ertrug, eine jüngere Vorgesetzte zu haben, wie kam so einer wohl damit zurecht? Sicher kannten
sie sich seit langer Zeit, ich hätte schwören können, dass Alberti aus San Benedetto stammte, mit seiner flinken und staubtrockenen Art passte er genau in diese Stadt. Seit die Direktorin im Raum war, gestikulierte er mit beiden Händen, er war vernarrt in alles Technische, die präzisen Abläufe der Experimente schienen ihm alles zu bedeuten. Ich dachte daran, was für einen Vortrag ich gestern Morgen gehört hatte, die beiden Auftritte waren nicht miteinander zu vergleichen, wie hielt es eine Frau wie die Dottoressa nur mit einem Ingenieurswesen wie diesem Alberti aus? Ich räusperte mich, da beugte sie sich zu mir herüber, sie sprach Deutsch, sie flüsterte mir etwas zu, er macht das gut, flüsterte sie, er macht das doch wirklich gut, finden Sie nicht? Ich nickte und schaute sie an, wir mussten in ein und demselben Moment grinsen, sie schien zu fürchten, dass der Dottore etwas bemerkte und berührte meinen rechten Arm vorsichtig mit der Hand, ich komme später noch einmal vorbei, bitte behalten Sie so lange jedwede Geduld, das müssen Sie mir versprechen.
Sie stand auf und verließ den Raum, ich hätte ihr alles versprochen, so dankbar war ich ihr für die wenigen Worte, die Dottore Alberti auf Distanz zu ihr und mir rückten. Ich überlegte, ob für den Film überhaupt irgendeines der geschilderten Experimente in Frage kam, vielleicht wäre eine Fahrt mit dem Forschungsschiff hinaus auf die offene See nicht schlecht, obwohl ich dann mit den ganzen Versessenheiten der Techniker und Forscher zu tun bekommen würde, ich konnte mir dieses Getüftel schon genau vorstellen, sicher war es sehr umständlich und extrem männlich. Viel lieber wären mir Untersuchungen an den Sandstränden gewesen, kleine Sandproben bei Niedrigwasser, die man, wie ich gelesen hatte, hätte färben und wieder einsetzen können, um so zu zeigen, wie das Meer sie bewegte. Das aber war gewiss nichts für Dottore Alberti, schlank und gebräunt sah ich ihn schon an Deck des Forschungsschiffs stehen, lüstern darauf, in einem Taucheranzug über Bord zu gehen, noch in den größten Tiefen wären die Fische nicht vor seinem Vortragszwang sicher, wahrscheinlich gestikulierte er dort nur noch wirkungsvoller mit Messer und gleißendem Licht.
Ich lehnte mich zurück und ließ ihn reden, er war bei Echoloten und Echoflihlern angekommen und sprach von vertikalen, aber nach den Seiten hin pendelnden Schallwellen, die angeblich durch alle Sedimente drangen und die ältesten Felsböden abtasteten, in Wahrheit interessierte mich nur noch, was geschehen würde, wenn die Dottoressa wieder erschien. Ich blickte heimlich auf die Uhr, es war bald Mittag, diesmal würde ich einen Vorstoß wagen, ich musste meine Zurückhaltung endlich aufgeben und ein gemeinsames Essen herbeiführen, natürlich musste ich auch ihn dazu einladen, wenn ich großes Pech hatte, würde er mit mir allein essen gehen. Ich dachte darüber nach, wie ich mich in diesem Fall aus der selbstgelegten Schlinge befreien konnte, einen zweiten Alberti-Vortrag, vielleicht sogar noch während einer guten Mahlzeit, würde ich nicht mehr ertragen. Die Direktorin kam wieder herein, allora, rief Alberti, und es hörte sich wahrhaftig so an, als wollte er allmählich zum Ende kommen.
Sie ließ ihm aber gar keine Zeit mehr, den Vortrag abzuschließen, wie weit seid Ihr, fragte sie, Ihr seid doch jetzt sicherlich fertig, Gianni, wie weit bist Du, sie nannte Dottore Alberti wahrhaftig Gianni. Gianni schwieg einen Moment, er kam mit der Unterbrechung zunächst nicht zurecht, er ging zu den Fenstern, befreite uns von der Verdunklung, es arbeitete in ihm, ich sah es genau. Gianni, was ist, fragte sie, und ich spürte, dass es ihr eine kindische Freude bereitete, ihn so anzureden, bis er die Sprache wiederfand, allora, sagte er, wir haben die Kostenfrage noch nicht geklärt, wir werden uns darüber unterhalten müssen, wir sollten eine Aufstellung der verschiedenen Posten machen und ein festes Paket anbieten, welches Paket, fragte ich, wovon sprechen Sie jetzt, von den diversen technischen Angeboten, die wir Ihnen unterbreiten werden, antwortete Gianni.
Er begann aufzuräumen, er ordnete die Dias in einen Holzkasten, es würde, so wie er vorging, eine Weile dauern, da ergriff ich die Initiative und schlug vor, gemeinsam essen zu gehen, ich lade Sie ein, sagte ich, klären wir doch alle Fragen lieber beim Essen. Sie schaute kurz auf die Uhr, das ist ein guter Gedanke, sagte sie, was meinst Du, Gianni, lässt sich das einrichten? Gianni nickte, plötzlich war er wieder der freundliche, junge, harmlose Bursche vom Morgen, ich werde zu Hause anrufen, sagte er, und ich stellte mir seine Frau vor, eine Krankenschwester, nein, eine Kindergärtnerin, etwa in seiner Größe, nein, etwas kleiner, sechs Zentimeter. Sie hatten zwei Kinder, natürlich zwei Mädchen, beide trugen Zahnspangen, er brachte sie jeden Morgen zur Schule und lief dann unverzüglich ins Institut, ich konnte ihn mir nicht einmal in einer Bar bei einem Kaffee vorstellen, eher schon als Zuschauer eines Windhund Rennens, mit Sonnenbrille auf der Gegentribüne.
Dann gehen wir schon voran, sagte die Direktorin und schaute mich an, wohin gehen wir denn? Sie werden ein gutes Restaurant kennen, antwortete ich, gibt es nicht eins hier im Hafen? Es gibt das kleine, die schwimmende Insel, die ich Ihnen gestern schon zeigte, sagte sie, und es gibt ein sehr gutes, einen Traum, aber für diesen Traum brauchen wir etwas Zeit. Dann nehmen wir uns die, sagte ich, zum ersten Mal kam ich mir kompetent vor, ich hätte vor Vergnügen beinahe vor mich hin gepfiffen, so freute ich mich.
Sie ging mit mir noch einmal hinauf ins Büro, sie holte ihre Tasche, dann gingen wir zu zweit nach draußen. Ich ließ sie rechts gehen, ich schlenderte neben ihr her, es sind nur wenige hundert Meter, sagte sie, und als ich sie von der Seite anschaute, schaute sie zurück, und wir grinsten beide.
#11 
regrem патриот17.02.16 18:31
NEW 17.02.16 18:31 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 22.02.16 13:11 (regrem)
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WIR BETRATEN das Restaurant beinahe zugleich, zu zweit, dachte ich, es lag am Ende einer unansehnlichen, dunklen Straße inmitten kleiner Hafenwerkstätten, aus denen ein starker Benzin- und Öl Geruch drang, und wirkte wie eine leichte, luftige Bühne, die man in einem verlassenen Winkel in den Sand gebaut hatte, die Wände waren aus Glas, zur Meeresseite hin öffnete es sich auf eine weite Terrasse.
Ein Kellner kam uns gleich entgegen, er begrüßte die Dottoressa, natürlich kannten sich beide gut, sie tat aber alles, um das übliche Zeremoniell herunterzuspielen. Sie sind zu zweit, fragte er, zu zweit, ja, sagte sie, nein, ach was, zu dritt, Dottore Alberti kommt etwas später. Sie steuerte geradewegs auf einen schattigen Ecktisch zu, sie nahm Platz, jetzt erschloss sich mir erst die große Schönheit des Bildes, das sich von der Terrasse aus auftat. Man blickte auf eine kleine Bucht, eine winzige Mole rahmte sie zur Rechten ein, das Meer in Küstennähe war hellgrün, an den Steinrändern sogar goldgelb, in der Ferne aber wölbte sich ein breites Blau, wie das Segment eines Walrückens. Auf dem obersten Rand dieses Rückens schien sich eine kleine Flosse hin und her zu bewegen, es war ein dunkelrotes, einsames Schiff, das die Horizontlinie abfuhr.
Ich starrte auf dieses Bild, habe ich zu viel versprochen, fragte sie, nein, antwortete ich, wenn ich so belohnt werde, ertrage ich jeden Vortrag. Sie lächelte, aber sie sagte dazu nichts, stattdessen fragte sie nur, ob es mir recht sei, wenn sie die Bestellung übernehme, natürlich ist es mir recht, sagte ich, genau das habe ich ja erwartet. An der Art, wie sie sich nach dem Kellner umschaute, erkannte ich ihre Vorfreude, ich hatte richtig vermutet, sie aß und trank gern, mit Frauen, die nicht gerne aßen und tranken, dachte ich, hast du noch nie etwas anfangen können. Sie rührte die angebotene Speisekarte nicht an, sie bestellte antipasti, kein Gemüse, ausschließlich Fisch, die Weinbestellung übernahm sie gleich mit, ich hatte noch nie mit einer Frau zusammen gegessen, die ohne langes Reden den Wein bestellt hatte, eine Flasche Sauvignon, gut gekühlt, bitte.
Wir schauten einen Moment stumm hinaus auf das Meer, langsam kamen wir zur Besinnung, ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass wir den Eindruck eines Paars machten, eines Paars, das sich gerade kennengelernt hatte und damit begann, sich Geschichten zu erzählen, nichts ist ja schöner als dieses erste Kennenlernen, wenn man um sein Leben erzählt, noch einmal weit ausholt und längst verloren geglaubte Geschichten wieder ausgräbt. Vielleicht, dachte ich weiter, verliebt man sich immer wieder, um sich sein Leben immer noch einmal von vorn und neu zu erzählen, ich hielt inne und versuchte, diesen Gedanken noch ein zweites Mal und noch präziser zu denken, beim zweiten Mal kam er mir jedoch nicht mehr so strahlend vor, eher christlich, beinahe sogar protestantisch.
Sie denken noch immer an den Vortrag, stimmt's, fragte sie, und ich antwortete rasch, ja, ich gebe es zu, offen gestanden habe ich mich ganz grausam gelangweilt, der Vortrag war zu lang und ging in eine Richtung, mit der ich nichts anfangen konnte. Wieso denn das? fragte sie, Dottore Alberti ist sehr gewissenhaft und für seine Thementreue bekannt, im Grunde ist er sogar themenbesessen. Ich habe den Eindruck, sagte ich, dass sein meeresbiologisches Interesse vor allem technisch und physikalisch bestimmt ist, genau diese Aspekte, Technik und Physik, will ich jedoch nicht in den Vordergrund des Films rücken, ich befürchte, dass die vielen Geräte und die imponierenden Ausrüstungen nur von den einfachen Beobachtungen ablenken, im Grunde muss aber jedes Kind begreifen, worauf es ankommt und was gezeigt wird. Reizt es Sie denn gar nicht, ein Forschungsschiffkennenzulernen, fragte sie, und ich antwortete, nein, es reizt mich nicht. Und die Fischerei, fragte sie weiter, wollen Sie sich die auch entgehen lassen, nein, das geht nicht, das Fischen müssen Sie erleben. Warum, fragte ich, warum muss ich das? Sie ahnen nicht, wie schön es ist, sagte sie, wenn Sie nachts mit den Fischern zum Sardinenfang fahren, wenn die Kutter weit draußen treiben, bis es dämmert und plötzlich die Sardinen nach oben kommen, dann werden kleine Boote ausgesetzt, die sich im Dunkel vom Kutter fortbewegen, auf ein Signal entzünden sie ihre Lichter und treiben die Schwärme auf den Kutter zu. Sie haben mich schon überzeugt, antwortete ich, wenn Sie es so erzählen, überzeugen Sie mich, wenn Sie aber präzise erklären wollen, wie das Netz ausgeworfen werden muss, um optimale Beute zu machen, höre ich nicht mehr zu. Schimpfen Sie nicht so auf Dottore Alberti, sagte sie, er ist der wichtigste Mann des ganzen Instituts, er hat sich noch bei keiner Berechnung geirrt. Das traue ich ihm auch nicht zu, antwortete ich und wollte noch boshafter werden, als die ersten Vorspeisen gebracht wurden.
Es waren Muscheln, Tintenfische, Seespinnen und mehrere Fischpasten, sie wurden auf kleinen Tellern serviert, der Kellner schenkte den Wein ein, wir stießen an, ich wünschte mir, dass Dottore Alberti nach Hause gerufen worden war, mit der Zahnspange des älteren Mädchens war vielleicht etwas nicht in Ordnung. Einen Moment wie diesen hatte ich mir die ganzen letzten Tage gewünscht, all mein einsames Herumsitzen, Notieren und Brüten war jetzt vergessen, zum ersten Mal geriet ich regelrecht in Schwung und begann zu erzählen, anstatt wie zuvor nur den anderen zuzuhören. Ich sagte, dass mich die Kunstlosigkeit von San Benedetto verblüffe, seit vielen Jahren reise ich durch Italien, eine Stadt wie diese sei mir noch nie begegnet. Ich sprach von meiner Suche nach geeigneten Bildern und davon, wie mich die Stadt hatte abblitzen lassen, ich übertrieb ein wenig und brachte eine komische Note in meine Erzählungen hinein, sie begann zu lachen, ich redete weiter, lauter Kuriosa fielen mir ein, Beobachtungen auf meiner kurzen Besichtigung, sie schien sich zu wundern, dass ich in der Kürze meines Aufenthalts schon so viel gesehen hatte, ich erkannte es an der Art, wie sie den Kopf schüttelte.
Ich will Ihnen etwas sagen, entgegnete sie schließlich, genau die Kunstlosigkeit, von der Sie sprechen, gefällt mir an San Benedetto, auf eine wie mich, die eine italienische Erziehung durchlaufen hat, wirkt dieser Ort wie eine Befreiung. Hier hat alles ein rascheres Tempo, und Sie finden hier nichts von der faden Trägheit so vieler italienischer Kleinstädte. Nüchternheit, keine Metaphysik, endlich keine Metaphysik, das ist in Italien sehr wohltuend. Literaten werden hier nicht geboren, wohl aber Naturwissenschaftler oder zumindest ein paar Meeresbiologen. Schön und gut, antwortete ich, aber wie soll ich mit Naturwissenschaftlern einen Film drehen? Gestern Abend ist mir der Gedanke gekommen, die Stadt nur noch auf ihre Nähe zum Meer hin zu lesen, ich könnte eine große Fülle von guten Details zeigen, die Fischmarkthalle, den Hafen, Läden mit allem, was die Fischer so brauchen, das wäre eine Lösung, aber ich brauchte dafür sehr viel Zeit. Das ist eine gute Idee, sagte sie, ich wäre Ihnen bei Ihrer Suche nach weiteren Details behilflich, ich wäre, glauben Sie mir, für die Suche danach genau die Richtige.
Franca, hörte ich jemanden laut sagen, Du bist für alles genau die Richtige. Wir hatten nicht auf den rückwärtigen Teil des Restaurants geachtet, wir waren zu sehr ins Gespräch vertieft gewesen, jetzt hatte er uns doch überrumpelt und nahm mir gegenüber Platz. Er schenkte sich Wein ein, er nahm sich von den Vorspeisen, wäre er etwas größer gewesen, hätte man annehmen können, jetzt wäre der Patriarch erschienen, nach Erledigung einiger noch unumgänglicher Telefonate. Ich hatte ihn sofort im Verdacht, zwei Handys gleichzeitig mit sich zu führen, in jeder Jackettasche eins, eins für die Familie und eins für die kleinen Dramen in der Öffentlichkeit. Wie weit seid Ihr? fragte er, womit? antwortete ich rasch. Sollen wir in den nächsten Tagen einmal zusammen hinausfahren? machte er weiter, als hätten wir auf eine solche Gesprächsführung nur gewartet. Ich werde es mir noch überlegen, sagte ich. Habt Ihr über Geld gesprochen? fragte er, darüber müssen wir sprechen, nein, sagte ich, haben wir nicht, und jetzt würde ich darüber auch nicht gerne sprechen.
Er zog die Augenbrauen hoch und bediente sich weiter, er aß so schnell wie er sprach, die Gabel hüpfte von Teller zu Teller, er rückte sich die meisten noch einmal eigens heran, um besser zustoßen zu können. Ich schaute hinaus auf die Bucht, das dunkelrote Schiff kreuzte noch immer in der Ferne, der gelbgraue Sand, die Mole mit ihren kalkigen Weißtönen, das faule Blau dahinter, das alles hätte mich weiter begeistern können, wenn dieser Mensch nicht in meiner Nähe gesessen hätte. Er blickte sich nach dem Kellner um, er rief ihm etwas zu, der Reigen der Vorspeisen ging weiter, alle drei waren wir in ein tiefes Schweigen verfallen, als müssten wir uns ganz den Schnecken, Garnelen und Seefäden widmen. Seine Art zu essen hatte etwas Ruppiges, vielleicht sollte es Vitalität ausstrahlen, Vitalität und Sex, dachte ich, ich konnte mir genau vorstellen, wie abgedroschen er fickte, ein starker Zorn stieg in mir hoch, ich griff nach der Weinflasche und schenkte uns allen nach, sein Glas füllte ich beinahe bis zum Rand. Ich sah noch, wie er sich Brot nahm, er nahm sich zwei Stücke zugleich aus dem Korb, er zerbrach und zerkrümelte sie und wischte damit das Öl von den Tellern, der ganze Tisch wurde von seinen Manieren beherrscht.
Salute, sagte er plötzlich, es klang, als wollte er rülpsen, salute, trinken wir auf unser Projekt, allora, antwortete ich, trinken wir, und er schaute wieder kurz auf. Er leerte sein Glas, dann erhob er sich, entschuldigt mich, scusate, er habe noch sehr viel zu tun, er hat wirklich sehr viel zu tun, sagte sie, als er verschwunden war. Haben Sie noch einen Wunsch? fragte ich, ja, sagte sie, noch etwas Wein. Eine Flasche? fragte ich, warum nicht, sagte sie. Gibt es hier eine gute Fischsuppe? fragte ich, es gibt eine ausgezeichnete, wir essen eine zusammen, ja? sagte sie rasch und beinahe erregt, als wollte sie seinen Auftritt vergessen machen, dann rief sie erneut den Kellner, um zu bestellen.
Mit seinem Verschwinden war die frühere Nähe sofort wieder da, ich lehnte mich zurück, ich hatte keine Lust mehr, an die Arbeit zu denken, deshalb fragte ich sie, warum sie Teile ihrer Jugend in Südtirol verbracht habe. Sie erzählte von den Eltern, die jetzt wieder nördlich, in Ancona wohnten, San Benedetto sei ihnen zu laut geworden, es gebe hier im Sommer einfach zu viele Touristen, ihr Vater sei auch
in Ancona geboren, und so seien die Eltern vor zwei Jahren wieder dorthin gezogen, in das ehemalige Haus der Großeltern, ein Haus direkt am Meer, nahe dem alten Hafen. Auch sie selbst habe in diesem Haus Teile ihrer Kindheit verbracht, eine Kindheit am Meer sei ein großes Geschenk, unvergessliche Tage, nirgends entstehe ein derartiges Gefühl für Dauer und Unveränderlichkeit wie am Meer, noch heute tauchten in ihren Träumen alle paar Nächte Bilder vom Meer auf. Eine Zeitlang habe ihre Mutter jedoch angeblich die Meer nähe nicht vertragen, ihre Mutter stamme aus einem Bergnest ebenfalls nicht weit von hier, sie sei durch den Anblick des Meeres melancholisch geworden, jedenfalls sei das die offizielle Lesart ihrer Erkrankung gewesen, leichte Depression durch mangelnde Abwechslung, aus diesem Grund habe der Vater seine Praxis von Ancona ins lebendigere San Benedetto verlegt, in San Benedetto habe ein Arzt immer gut zu tun und der Mutter habe es gleich gefallen, denn sie habe hier viele Freundschaften geschlossen und sei mit ihren Freundinnen dann sogar am Meer entlang spazieren gegangen, ununterbrochene Unterhaltungen hätten so etwas wie Melancholie gar nicht erst aufkommen lassen. In der schlimmsten Phase der Depression ihrer Mutter aber habe man sie und ihren jüngeren Bruder nach Südtirol in die Berge geschickt, sie habe nichts gegen die Berge, wohl aber gegen die in Südtirol, lauter Skipisten und sogenannte Kletterparadiese, in jedem Felsspalt habe ein Bayer gehangen und sich schreiend mit seinem Bergführer verständigt. In Südtirol hätten die Großeltern ein Ferienhaus gehabt, im Grunde sehr schön, die Großmutter sei eine Deutsche gewesen und habe diese nördlichen Aufenthalte genossen, der Bruder und sie hätten
nichts dagegen einwenden können und hätten sich auch nicht dagegen gewehrt, einmal sei man übrigens drei Tage in München gewesen, vor lauter Sehnsucht nach dem Meer und nach Wasser habe sie die Zeit ausschließlich an der Isar verbracht.
Sie erzählte das alles sehr ruhig, in einer etwas dunkleren Tonlage als sonst, ich starrte dabei die ganze Zeit hinaus aufs Meer, es war, als legte sich ihre Tonspur aufs Bild, und ich dachte daran, wie es wohl wirken würde, zu bestimmten, ausgewählt schönen Standbildern solche dunklen Erzählungen einzublenden.
Die Fischsuppe wurde in tiefen, weißen Tellern serviert, da haben Sie das halbe Meer, in nuce, sagte sie, in nuce gefällt mir, antwortete ich. Der Sud ist hochkonzentriert, sagte sie, sie kochen ihn hier tagelang, sie stellen einen Fond her aus Gemüse, Zwiebeln, Knoblauch und sehr viel Weißwein, und dann fügen sie immer wieder Fischstücke hinzu, Muscheln, Garnelen, Tintenfische, das alles kochen sie mit, auf sehr kleiner Flamme, es dickt gleichsam ein und wird, wie Sie sehen, tiefrot, die starke Farbintensität entsteht durch den Safran. Nach einer Weile nehmen sie das Gekochte heraus und lassen die Suppe dann stehen, bis wieder etwas darin gekocht wird. Jetzt ist sie, schauen Sie, beinahe wie Öl, das intensivst Schmeckende und Beste, denke ich, was Sie hier essen können.
Ich stellte mir vor, wie ich von einem Meer Bild langsam auf dieses Rot überblenden würde, so könnte man zeigen, dass diese Suppe ein Konzentrat all dieser Blau-, Gelb- und Grüntöne war, ihr heimliches, unterirdisches Feuer, ihr Magma. Ich probierte sie, noch nie hatte ich etwas von dieser Art gegessen, der Wein gab ihr eine gewisse Schwere und einen Grund, darüber schwebten die Treibstoffe, alles von einer leichten Schärfe, aber so, als bringe die Schärfe erst die vielen Nuancen hervor, Nuancen von honigartiger Süße und galliger Bitterkeit, die ganze Breviatur. Ich fragte, welche Fische sich besonders zum Auskochen eigneten, und sie sagte, es seien genau die, die sich im Sand vergrüben, Rochen also oder auch Schollen, diese Lebenswelt im Sand nenne man das Endopsammon, um sie von der auf dem Sand, dem Epipsammon, zu unterscheiden, die merkwürdigen Flügelbildungen der Rochen seien übrigens evolutiv wohl entstanden, damit sie sich schneller und beinahe vollständig im Sand vergraben könnten, jedenfalls sei das Endopsammon eben die Zone der eigentlichen Tiefen und daher wohl die beste Basis der Suppe.
Ich fragte weiter, auf seltsame Weise verwandelte sich ein Kochrezept in lauter meeresbiologische Details, fast hörte es sich so an, als setzte das gute Kochen nichts anderes um als ein solches Wissen. Die Unterhaltung gefiel mir, wir unterhalten uns glänzend, dachte ich, ganz glänzend, die Formulierung erinnerte mich an Rudolf, der einmal eine Art Theorie der, wie er gesagt hatte, glänzenden Unterhaltung aufgestellt hatte, eine kümmerliche Theorie auf der Basis des raschen Dialogwechsels, dachte ich jetzt, kümmerlich, weil es auf das Tempo der Unterhaltung nicht ankam, sondern darauf, dass jeder Satz beim Gegenüber ein Mitdenken auslöste, kein Nach-, sondern ein Mitdenken, also so etwas wie Phantasie, wie Assoziieren. Dann konnte man glauben, es falle einem dauernd etwas Neues ein, und zwar etwas Neues,
das genau passte, eine glänzende Unterhaltung ergab sich also durch das Zusammensetzen kleiner Stücke zu einem gelungenen Mosaik, laufend war man mit der Suche nach den richtigen Teilen beschäftigt, genau, ja, das war es.
Während wir uns so unterhielten, starrte ich aber weiter aufs Meer und ließ das dunkelrote Schiff nicht aus den Augen, als sie es schließlich bemerkte, sagte sie, das Schiff da draußen ist übrigens das Forschungsschiff, das Sie nicht mögen. Es war einen Augenblick still, ich schaute weiter, als müsste ich ihren Satz überprüfen, sie lehnte sich etwas zurück, tupfte die Lippen mit der Serviette ab, legte sie beiseite neben den Teller und sagte, viel leiser als zuvor, es ist schön hier mit Ihnen.
Ich saß ganz still, ich hörte sie diesen Satz sagen, er kam so selbstverständlich und genau im richtigen Augenblick, dass ich es mir endlich gestand, ich liebe sie, dachte ich, ich liebe diese Frau neben mir. Wir schwiegen, wir schauten beide hinaus auf das Blau, der Tisch wurde abgeräumt, der Kellner fragte, ob wir noch ein Dessert wünschten, Eis, Obst, etwas anderes, einen Kaffee? Sie blickte zu ihm auf, sie nickte nur, sagte aber nichts, er begann, weitere Desserts zu nennen und sie sogar zu beschreiben, un gelato di limone, sagte er immer wieder, es handle sich um ein besonderes Eis, eigene Herstellung, ein Zitroneneis in der Zitrone, sie begann zu grinsen, als sie hörte, wie er sich umständlich um sprachliche Exaktheit bemühte. Wir gehen noch etwas am Strand auf und ab, sagte sie dann, derweil bringen Sie uns das Eis, sie stand auf, kommen Sie, gehen wir ein wenig, ich werde Ihnen etwas zeigen, forderte sie mich auf und streckte ihre
Hand nach mir aus, korrigierte aber sofort diese Annäherung, als hätte sie sich zu weit vorgewagt.
Wir gingen ein paar Schritte auf einem holprigen Sandstück, sie zog ihre Schuhe aus, ich tat es auch, wir stellten sie neben einen verloren dastehenden Liegestuhl, dann gingen wir weiter auf dem glatten Sand der auslaufenden Wellen, dicht nebeneinander. Ich hatte starke Lust, sie zu berühren, am liebsten hätte ich sie umarmt und wäre in dieser Umarmung mit ihr ein Stück gegangen, das hätte ein sehr strapaziertes Bild ergeben, ich weiß, in jedem zweiten Film umarmten sich heutzutage ja zwei Menschen am Strand, dennoch, ich hätte sie gerne umarmt, und wenn es anscheinend nicht mehr als eine Pose war, dann konnte man auch nicht viel dahinter Liegendes vermuten.
Wir hatten uns einige Schritte voneinander entfernt, sie ging voraus, ich zögerte etwas, ich hatte nachzudenken begonnen, am liebsten hätte ich die Frage, ob umarmen am Meer eine Pose war, an sie weitergegeben, das war aber unmöglich, ich musste allein damit klarkommen. Ich stemmte die Hände in die Hüften und schaute wieder aufs Meer, da wusste ich es, der Anblick des Meeres war einfach zu groß und zu berauschend, als dass man ihn gleichgültig hätte hinnehmen können, im Grunde wollte man vielleicht das Meer umarmen, eine starke Emotion suchte sich einfach einen anderen Halt, daher umarmte man einen Menschen und ging in dieser dichten Umarmung mit ihm am Strand entlang, so hatte man einen Ersatz-Halt gefunden. Im Grunde wäre es also ganz richtig und von der Natur der Sache her gerechtfertigt gewesen, wenn ich sie umarmt hätte, nur hätte das gleich wieder etwas bedeutet, ich hätte ihr damit etwas signalisiert, ein uralter Bildinhalt hatte das Bild eben verdorben und für andere, miese Zwecke missbraucht.
Ganz ähnlich, dachte ich weiter, ist es ja mit dem Sex, wie oft war ich einer Frau einen Abend lang näher gekommen, wie oft hatten wir uns gut verstanden, ein wunderbares Einverständnis, ein Sich-Tragen, hatte gleichsam aus dem Nichts begonnen und endete dann oft ganz unsinnig wieder dort, spätestens nach Mitternacht spukte die Trennung im Kopf, und es ging bergab, ein andermal, vielleicht sieht man sich wieder. Ich war immer der Meinung gewesen, dass ein solcher Abend nach Sex verlangte, die gegenseitige Anziehung lief doch auf natürliche Weise darauf zu, wer würde schon auf den Gedanken kommen, ein köstliches Gericht stundenlang vorzubereiten und zu kochen, um es am Ende dann nicht zu verzehren? Statt aber dem Einfachsten, der natürlichen Anziehung, zu folgen, brach man die Sache meist auf jämmerliche Weise vorzeitig ab, so etwas, fand ich, gehörte in eine frühere Epoche, es war einfach nicht auf der Höhe der Zeit. Mit dem jähen Abbruch des erotischen Austauschs folgte man jahrhundertealten Ritualen, die den Sex und die gemeinsame Nacht mit Bedeutungen aufgeladen hatten, jede noch so kleine Geste war früher Teil eines solchen Rituals gewesen, hinter jedem abgeworfenen Kleidungsstück hatte gleichsam schon ein Paragraph eines juristischen Kontrakts gelauert, Ehen, Kinder, Familien waren die Folge gewesen. Längst waren diese Zeiten vorbei, die Rituale aber hatten ihre Kraft nicht verloren, und so dämpften nach Mitternacht uralte, unbewusst weiter wirkende Traditionen die erotische Spannung, ich hatte so etwas immer verachtet und in besonders drastischen Fällen auch laut gesagt, erstaunlicherweise hatte ich gerade mit dieser Offenheit nicht selten doch noch Erfolg gehabt, wie auch anders, mit welchem Argument hätte man mir widersprechen können?
Sie war in einiger Ferne in die Hocke gegangen, sie fuhr mit einer Hand über den Sand, das Bild erinnerte mich an die vielen einsam am Meer stehenden Männer, die ich vom Zug aus beobachtet hatte, vielleicht schauten Männer häufiger als Frauen allein aufs Meer, vielleicht entzündete dieser Anblick eine Art sexuelles Träumen und beschwor Wünsche oder lockte Ahnungen an, Frauen jedenfalls schauten nach meinen Eindrücken weniger in die Weite, sondern eher an der Küste entlang, ihr Blick hatte etwas Kontrollierendes, während der männliche, vielleicht noch von der Seefahrt geprägt, den Horizont fixierte, dort schien das große Jenseits zu lauern, das andere, die Entfernung von allem, was Heimat bedeutete.
Ich dachte wieder an Rudolf, Rudolf liebte solche Vergleiche, er brachte ganze Abende damit zu und machte daraus regelrecht eine Art Sport, wie rühren Frauen mit einem Löffel in der Tasse, wie machen das Männer, mit welchen Handgriffen beginnt eine Frau die Autofahrt, mit welchen der Mann? Natürlich genügten ein paar zufällige Beobachtungen nicht, es musste einem etwas Scharf-Beobachtetes auffallen, etwas, das noch nie jemand bemerkt hatte, ein jeder aber hätte bemerken können, und dieses Scharf-Beobachtete musste sich auf älteste atavistische Momente zurückführen lassen, auf Ur-Szenen der Geschlechterprägung, dann war Rudolf zufrieden.
Ich gab mir einen Ruck, ich war in ein richtiges Träumen geraten, sie kauerte noch immer am Meer und winkte mir, näher zu kommen. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, sagte sie, etwas ganz Einfaches, wie Sie es sich wünschen. Schauen Sie, wenn die Wellenzungen sich hier über den Sand zurückziehen, wird der überspült gewesene Teil wieder matt, und die Luft kann wieder eindringen. Man könnte glauben, das Wasser werde einfach von oben in den Sand eingefüllt, das ist aber nicht der Fall, es sickert seitlich zwischen den Sandkörnern ein und bildet im Sandkörper eine Art Fülltasche, die mit den Gezeiten immer weiter auf uns zu wandert. Vorn, an ihrer Spitze, bildet sich schließlich der Spülsaum, kleine See Bälle, Blätter, Sand Hüpfer und Flohkrebse, mit bloßem Auge können Sie das nicht erkennen. Wenn Sie das Material aber in einen bestimmten Trichter einfüllen und es von oben mit einer Wärmequelle trocknen, wandern die Tiere nach unten, der Feuchtigkeit nach, und fallen Ihnen schließlich in einer Schale direkt in die Hände. Ist das einfach genug, entspricht es Ihren Vorstellungen? fragte sie. Es ist genau, haargenau das, was ich mir vorgestellt hatte, antwortete ich. Gut, sagte sie, dann hätten wir schon einen geeigneten Ort für Ihren Film gefunden, hier ist der Sand ausgezeichnet, denn Baden ist hier nicht erlaubt, diese schöne Bucht wäre eine ideale Stelle für Ihre Bilder mit unseren dezenten, kleinen Experimenten.
Sie stand auf und ging zum Restaurant zurück, ich ging wieder neben ihr her, ich fand es ganz unmöglich, mich in wenigen Minuten von ihr zu trennen, als sie mich ganz überraschend fragte, was ich am Nachmittag vorhabe. Ich werde mir ein Fahrrad mieten, antwortete ich schnell, und was machen Sie? Ich würde Sie auf meinem Fahrrad begleiten, wenn Sie wollen, sagte sie, ich habe heute Nachmittag frei.
Im Restaurant waren wir die letzten Gäste, wir aßen das Eis schweigend und tranken noch einen Kaffee, jeder schien über das, was vorgefallen war, nachzudenken, vielleicht dachte sie ja etwas Ähnliches wie ich, vielleicht kam es auch ihr in diesem Moment so vor, als seien wir dabei, ein Paar zu werden. Ich ging an die kleine Bar, um dort an der Kasse zu bezahlen, ich beobachtete im Spiegel, dass sie unentwegt, wie gebannt, auf die Tischdecke starrte. Ihr Mund stand leicht offen, sie schien beinahe die Luft anzuhalten, sie dachte ununterbrochen über etwas nach, ich wusste es genau, es schien nicht leicht für sie zu sein, mit diesen Gedanken fertig zu werden.
Ich wartete an der Bar, bis sie aufstand und zu mir kam, der Kellner bot uns einen Averna an, die schweren Gläser tönten hell, als wir sie kurz gegeneinander stießen. Sie sagte, sie müsse noch einmal, für etwa eine Stunde, ins Institut, gegen vier Uhr könnten wir uns treffen, sie erklärte mir, wo ich bis dahin ein Fahrrad auftreiben konnte, und wir vereinbarten einen Treffpunkt mitten in der Stadt. Sie schaute mich einen kurzen Moment prüfend von unten an, sie gab mir einen flüchtigen Freundschaftskuss auf die Wange und bat mich, sie jetzt allein hinausgehen zu lassen, ich wusste nicht, warum sie darauf bestand, aber ich nickte, und als sie hinaus war, bestellte ich noch einen zweiten Averna. Mit Eis oder ohne? fragte der Kellner. Ohne, antwortete ich tonlos und blickte noch eine Zeitlang, ohne mich zu bewegen, auf den blauen Walrücken weit draußen.
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regrem патриот17.02.16 18:31
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ALS WIR UNS gegen vier Uhr trafen, erschien sie sehr unruhig, beinahe nervös, ich hatte nicht gedacht, dass sie so sein könnte. Sie sprach wie getrieben, als hätte sie es eilig, und schlug auch gleich vor, man solle die Stadt verlassen, eine Panoramastraße führe hinauf in die Berge, von dort habe man einen überwältigenden Ausblick auf das gesamte Terrain. Sie wartete aber nicht lange auf meine Antwort, sondern setzte sich gleich in Bewegung, sie fuhr sehr schnell, ich hatte Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Ich fragte mich, was mit ihr geschehen war, vielleicht, dachte ich, hatte sie in Wahrheit kaum Zeit und hätte im Institut bleiben müssen, vielleicht wurde sie dort dringend gebraucht, es war mir nicht recht, sie vielleicht in eine Verlegenheit gebracht zu haben, so fuhr ich nachdenklich hinter ihr her. Wir erreichten eine stark befahrene Ausfahrstraße, von dort zweigte der Panoramaweg in die Höhe ab, es war ein steiler, in Serpentinen ansteigender Weg, wir mussten absteigen und die Räder schieben, ich schloss endlich zu ihr auf und konnte sie daher fragen, ob sie auch wirklich Zeit habe, meinetwegen müsse sie sich nicht bemühen. Ich habe Zeit, antwortete sie, beinahe trotzig, und dann sprach sie davon, dass es, aus ganz anderen Gründen, Ärger im Institut gegeben habe, entschuldigen Sie, sagte sie weiter, dass ich es mir habe anmerken lassen.
Wir erreichten einen kleinen Felsvorsprung, wir befanden uns in wildem, unbebautem Gelände, noch immer war es sehr heiß, aber als wir nach vorn, auf die Spitze des Felsens gelangten, sahen wir den ganzen Küstenstreifen kilometerlang vor uns liegen. Sie deutete hinab, ich erkannte das große Hafenbecken mit den zwei weit ins Meer ausgreifenden Molenzangen, gezackt wie die eines Hummers, daneben die Zone der Pinienwäldchen, dann die lange Strandküste mit ihren bunten Karrees von Liegestühlen und Sonnenschirmen, das Meer dahinter wie ein fein gestaffelter Saum aus hellen Sandtönen, die nur sehr allmählich in Blautöne übergingen. Das ist der Punkt, sagte ich, von hier aus werde ich das ganze Terrain filmen.
Warten Sie ab, sagte sie und fragte mich dann, ob ich ihr noch weiter folgen wolle, es war eine seltsame Frage, was meinte sie, glaubte sie etwa, ich würde wegen der Anstrengung leicht aufgeben, das konnte sie doch nicht ernsthaft glauben, ich sagte, ja, natürlich folge ich Ihnen, endlich lächelte sie, und wir setzten die Fahrt fort. Das größte Stück mussten wir schieben, erst nach geraumer Zeit sahen wir plötzlich das Dorf auf der Höhe, es streckte sich genau von einer Hügelkuppe zur anderen, wie eine sich an den Boden schmiegende Katze. Noch können wir zurück, sagte sie und lächelte wieder. Nein, sagte ich, natürlich nicht, jetzt fahren wir auch ganz hinauf. Wir fuhren das letzte Stück und erreichten das Dorf, die Häuser folgten der auf der Höhe entlanglaufenden Straße und verdichteten sich wabenförmig zu den Hügelkuppen hin. Auf einem Ortsschild las ich, dass wir uns in einer Höhe von etwa 400 Metern über dem Meeresspiegel befanden, wir hatten für die Strecke vom Meer hinauf beinahe zwei Stunden gebraucht.
Wir stellten unsere Räder neben der Bar ab, wir gingen hinein, die Bar war leer, nur der Fernseher lief, wir bestellten bei einer müde blickenden Frau eine Flasche Wasser mit zwei Gläsern und setzten uns nach draußen an einen runden Tisch. Ich schenkte ihr ein, sie war ruhiger geworden, die lange Fahrt hatte sie in eine bessere Verfassung gebracht, auch ich war erleichtert, als ihr Handy klingelte. Sie stand auf, machte eine entschuldigende Geste und entfernte sich, sie ging die Hauptstraße des Dorfes langsam hinab und lauschte in den Hörer, dabei hielt sie den Kopf schräg, eng an den Hörer gepresst, als verfolgte sie eine Ansprache oder eine Rundfunksendung, schweigsam, aber interessiert. Nur in großen Abständen fuhren Autos vorbei, es war sehr still, einige ältere Frauen schlichen manchmal dicht an den Häuserwänden entlang, wahrscheinlich arbeiteten die jüngeren Leute unten am Meer und kamen erst am späten Abend müde und gereizt wieder hinauf.
Sie gestikulierte nicht, sie horchte sehr lange, und als sie dann einige Sätze sagte, blickte sie die ganze Zeit auf den Boden, auf einen Punkt, als sollten ihre Sätze genau dort ankommen. Ich versuchte, nicht hinzuschauen, es war mir peinlich, ich überlegte, ob ich mich etwas weiter entfernen sollte, da beendete sie das Gespräch und kam zu mir zurück. Sie müssen dort unten auch einmal ohne mich auskommen, sagte sie, als wäre damit alles erledigt, kommen Sie, gehen wir weiter, ist es nicht wunderschön hier?
Wunderschön, sie gebrauchte das eigentlich nichtssagende Wort gar nicht so selten, im Grunde passte es nicht in ihr sonstiges Vokabular, das sehr farbig und genau war, wunderschön sagte sie, um etwas einzuleiten oder zu beenden, aus ihrem Mund hörte es sich an wie ein helles Signal, wie eine Aufforderung, sich auf etwas Schönes einzustellen oder das gerade Vergangene als schön zu betrachten, insofern war wunderschön eine Art Siegel und hatte daher eine ganz andere Bedeutung als für andere Menschen. Schönheit selbst, das Schöne an sich oder der schöne Moment, waren in ganz einfachem Sinn aber auch ihre eigentliche Passion, ich konnte sie mir in gewissen alltäglichen Lebensvollzügen gar nicht vorstellen, sie schien geradezu süchtig nach Schönheit, und meist meinte sie damit etwas Bestechendes, Klares, bei Tisch hatte sie davon erzählt, dass die meisten Fische nach ihrer Geburt absolut symmetrisch, diese absoluten Symmetrien aber das Werk einer langen Evolution seien, sie hatte die rechte Hand ausgestreckt und mit dem linken Zeigefinger in die geöffnete Handschale gezeichnet, schauen Sie, der violette Herzigel hat auf seiner nach außen gewölbten Fläche eine Zeichnung in Form eines Blütenblatts, vier Blätter laufen spitz auf einen Punkt zu, und dieser Punkt befindet sich genau, ganz exakt, in der Mitte.
Solche Beobachtungen und Beispiele liebte sie, ihr Vortrag im Museum hatte nur aus solchen Hinweisen und kleinen Epiphanien bestanden, sie erklärte sie nicht, schauen Sie, ist das nicht wirklich schön, fragte sie nur immer wieder, als wäre das Universum noch immer der mittelalterliche Kosmos, von Gott dazu geschaffen, den menschlichen Augen zu schmeicheln.
Wir standen auf und gingen weiter durch den stillen Ort, ich fragte mich, wie sie wohl mit Hässlichem oder mit Krankheit und Tod umgehen würde, ich vermutete, dass sie noch nicht durch viele Schicksalsschläge irritiert war, sie machte den Eindruck einer Person, die auf eine zeitfremde Art lebte,
zeitfremd, aber stimmig, selbstbewusst, stark, es war bestimmt nicht leicht, ihr zu imponieren.
Wir hielten immer wieder ein, sie machte mich auf lauter Kleinigkeiten aufmerksam, den Ruf eines in einem Käfig über uns schwebenden Stars, die winzige, fensterlose sala eines alten Friseurs, die kindliche Dekoration im Fenster einer kleinen Bäckerei, Brotzöpfe, wie Briketts aufeinandergestapelt. Da, sagte sie nur, da, schauen Sie, und wenn ich nicht sofort reagierte, machte sie zu den Sachen eine knappe Bemerkung, wie aus den siebziger Jahren, sehen Sie, das ist ganz bäuerlich, merken Sie, rot-weiße Karomuster in genau dieser Form sind bäuerlich. Ich war dazu bestimmt, ihr zuzuhören, sie erwartete keine Antwort, wie im Museum war es wieder ihre Führung und ganz ihr Stil, sie verwandelte selbst dieses Bergnest in eine attraktive, homogene Kulisse, der nichts anderes zugrunde lag als eine geheime Ästhetik, eine Summe von bestimmten Regeln der Darstellung und des Sich-Zeigens. Auch diesmal funktionierte der Zauber, ich wurde wieder hellwach, es war, als öffneten ihre Hinweise und Worte mir plötzlich auf eine unerhörte Weise die Augen, die Welt war kein Zufall mehr, nichts Peinliches, keine Dekoration, sie war ein Museum, ein Tempel der Anschauung, in dem ich mit verschwinden sollte, ganz und gar. Ich wehrte mich nicht, ich gab mich ihrer Führung willenlos hin, sie schien auch nichts anderes zu dulden, Menschen, die sich dem auf irgendeine Weise entzogen oder sich ihr widersetzten, würden es mit ihr, da war ich mir sicher, sehr schwer haben. Ich konnte mir vorstellen, dass sie von Kindesbeinen an so gewesen war, ein auf sich selbst gestelltes, in den ersten Jahren vielleicht sogar leicht autistisches Kind, sehr eigensinnig, schwer belehrbar, ein Kind, das lange an ein und demselben Platz gesessen und die anderen beobachtet hatte.
Was ist? fragte sie, als ich längere Zeit stumm war, nichts, antwortete ich, es ist sehr schön mit Ihnen, der Satz entschlüpfte mir, ich hatte ihn die ganze Zeit im Kopf gehabt, er musste einfach heraus, ich bemerkte, dass sie kaum merklich errötete, aber sie erwiderte nichts.
Auch auf den Höhen war der Ort beinahe unbelebt, manche älteren Häuser waren nicht mehr bewohnt und zeigten schon Spuren eines gewissen Verfalls, die schmalen, unbefahrbaren Gassen zogen sich wie lange Schläuche durch den dunklen Ortskörper, der aus lauter Ziegelsteinhäusern bestand, deren Rot längst verblasst und in ein Ockergelbrot übergegangen war. Um den Ortskern herum verlief eine sehr hohe Mauer, mächtige Tore waren an einigen Stellen hineingebrochen, von denen aus die Gassen auf das geheime Zentrum des Ortes zuliefen, es handelte sich um ein gewaltiges, mittelalterliches Kastell, von außen sah es vollkommen erhalten und so taufrisch aus, als hätten die Fürsten es erst vor kurzem vollständig renoviert.
Wir gingen hinein, die plötzliche Kühle der niedrigen Gänge tat gut, man musste den Kopf eine Weile einziehen und bewegte sich auf einen großen Innenhof zu, von dem aus man einen der Türme besteigen konnte. Von oben überblickte man die gesamte Region, es war ein phantastischer Rundblick, weit in der Ferne die schneebedeckten, hohen Gipfel der sibyllinischen Berge, unten, zum Meer führend, das Flusstal des Tronto, das die Weinberge und Olivenhaine der Landschaft der Marken durchschnitt, auf den Hügeln
kleine Gehöfte, die Äcker durchzogen von schlangenförmigen Wegen, Zypressenalleen, die auf die verstreuten Dörfer zuliefen, eine einsame Kirche, ein Friedhof, Traktoren auf den ausgefahrenen Landwegen, und direkt unter uns die in einer Fluchtlinie auf der Höhe verlaufenden Dächer des Ortes, wie ein Höhen-Balkon über dem gleißenden Blau des Meeres tief unten.
Es dunkelte schon, hier und da gingen bereits die Lichter in der Umgebung an, das Ganze war ein beinahe unwirklich vielfältiges Bild, die Berge, die bäuerliche Landschaft, das Meer, wir drehten uns laufend im Kreis, ich hatte wieder das große Verlangen, sie zu berühren, wir standen so dicht beieinander, dass es ganz leicht gewesen wäre, ich glaubte sogar, dass sie es erwartete, aber ich war mir nicht sicher, vielleicht war jetzt noch nicht der einzig richtige, große Moment gekommen, den, auf den es, wie ich sie einschätzte, unbedingt ankam, diesen einen Moment einer vollkommenen Übereinstimmung musste ich finden, wenn ich ihn verpasste, war vielleicht alles aus.
Genau von hier müssen Sie die Region filmen, sagte sie, dieser Vogelblick aus der Höhe muss die erste Einstellung sein, natürlich hatte sie Recht, ich hatte ebenfalls längst daran gedacht, es gab keinen besseren Einstieg, ich hörte schon den Text, den ich diesem Blick unterlegen würde, nur ein paar Andeutungen, ein karger Tonfall, die Bilder würden für sich sprechen. Wir sind kaum zehn Kilometer vom Meer entfernt, sagte sie weiter, kaum zehn Kilometer, und doch ist das hier oben eine vollkommen andere Welt. Stellen Sie sich vor, es gibt hier keinen Fisch, Sie können ihn nirgends kaufen, das einzige Fischgeschäft, das hier jemals eröffnet wurde, hat sich nur ein paar Monate gehalten, kein Mensch hier oben isst Fisch. Und was isst man stattdessen? fragte ich, ja, lächelte sie, das ist die Frage, ich werde es Ihnen gleich zeigen.
Wir verließen das Turmplateau und stiegen langsam die vielen Stufen hinab, gerade als wir unten angekommen waren, klingelte ihr Handy erneut. Jetzt reicht es mir aber, sagte sie ruppig und stellte es aus, kommen Sie, gehen wir in das kleine Lokal dort, diesmal sind Sie mein Gast.
Wir liefen zur Hauptstraße, holten die Fahrräder und stellten sie neben dem Eingang des Lokals ab, es war eine bescheidene, einfache Trattoria mit Holzbänken unter einer großen Markise, die Kellnerin begrüßte uns wortkarg, beinahe schroff, und breitete ein buntes Papiertischtuch vor uns aus, Rotwein?, Weißwein?, es gab nur genau diese Alternative. Erschrecken Sie nicht, sagte sie, alles, was wir jetzt essen und trinken, ist von hier, es gibt sehr guten Schinken oder kleine Spieße mit Lammfleisch, es gibt frischen Mozzarella und gutes Weißbrot, in Öl getränkt, es ist bäuerliche Kost, Berg kost, wenn Sie so wollen, der Wein ist schwer und um viele Grade besser als unten am Meer, wir trinken den Rotwein, nur den.
Das Essen und die Getränke standen sehr schnell auf dem Tisch, auch hier wurden die Gerichte auf vielen kleinen Tellern serviert, auch hier wollte der Reigen nicht enden, Gemüse, Wurst, Käse, Pilze und Artischocken, Italiener sind vernarrt in das Tischlein-Deck-Dich, sagte sie, man kommt dem Land nahe, wenn man das Prinzip des Tischlein-Deck-Dich versteht. Ich wollte nachfragen, wieder kam
sie mir mit dem Einschenken des Weins einen Handgriff zuvor, sie wartete aber nicht ab, bis ich fragen konnte, sondern ergriff selbst die Initiative, sagen Sie, wie viele Projekte machen Sie so im Jahr?
Es hörte sich an wie eine harmlose Frage, wie viele Projekte, das ließ sich kurz beantworten, aber ich spürte genau, dass sie nun mehr wissen wollte, am Mittag hatte sie von sich erzählt, nun war ich an der Reihe. Ich sprach von drei bis vier großen Projekten, Filmen von etwa einer Stunde, für die man von der Recherche über die Konzeption und das Drehen bis hin zum Schnitt und zum Texten ein paar Monate brauche, ich erklärte die einzelnen Projektschritte und schilderte einige Beispiele, dann holte ich weiter aus und sprach von München, von meinem kunsthistorischen Studium und dem sich zufällig beim Sender ergebenden Praktikum, die meisten späteren Redakteure, sagte ich, kommen durch einen Zufall zum Fernsehen, kaum einer steuert auf diesen Beruf fest von Anfang an zu, deshalb sind Fernsehsender Laienanstalten.
Sie sind in München geboren? fragte sie, ja, antwortete ich, ich habe fast mein ganzes Leben in München verbracht, ich bin sesshaft, schreckenerregend sesshaft und anhänglich, da ist nichts zu machen. Sie lächelte, ich spürte genau, dass ihr diese Erklärung gefiel, dann erzählte ich ihr von meiner Einzelkind-Kindheit und von der Herkunft meiner Eltern vom Staffelsee, auch wir haben ein Ferienhaus von den Großeltern geerbt, sagte ich, jeden Sommer in meiner Schulzeit habe ich dort verbracht, kennen Sie den Staffelsee, er liegt direkt vor dem Panorama der hohen Alpenkette, er ist von unglaublicher Schönheit.
Ich konnte mich nicht erinnern, von unglaublicher Schönheit je einmal in den letzten Jahren gesprochen zu haben, ihr seltsames Vokabular geht also schon auf Dich über, dachte ich, blendete innerlich aber gleich wieder auf den See über, einen Augenblick lang sah ich eine bestimmte Partie seiner Schilfmatten im Abendlicht, genau an einer solchen Stelle hatte ich schwimmen gelernt, ich werde Dir den See einmal zeigen, hätte ich beinahe gesagt und hielt diesen Satz gerade noch rechtzeitig zurück.
Sie aß nicht viel, sie hatte den ganzen Aufwand der Bestellung nur getrieben, um mir die Berg kost dieser ländlichen Gegend zu präsentieren, la terra marchigiana, hatte sie bereits dreimal in klingendem, hellem Tonfall gesagt, es hörte sich an wie der Refrain eines Volks- oder Kinderliedes, aber natürlich war das nur eine Vermutung. Statt zu essen, trank sie recht viel, sie hielt das Weinglas manchmal sekundenlang in der Rechten, sie betrachtete es, aber sie sagte nichts, sondern lauschte, sie lauschte auf meine Erzählung, ich war an der Reihe, Ihr Part, monsieur, zum Glück hatte ich den Einstieg gefunden und war auch gleich bei den richtigen Szenen gelandet, der Staffelsee, Murnau, der bayrische Winter und die spätere Pubertät in der Großstadt, mein Gott, sagte ich plötzlich, bin ich froh, dass ich diese Jahre in München verbringen durfte, nirgends sonst hätte ich es ausgehalten.
Ich stockte einen Moment, ich war etwas verwundert, war ich wirklich der Meinung, dass diese pubertären Jahre in München so schön gewesen waren, schön., unglaublich schön, äffte eine Stimme in mir etwas nach, aber ja, diese Jahre waren sehr schön gewesen, ich hatte es mir nur noch niemals eingestanden. Jetzt aber war es ganz leicht, die alte Zurückhaltung abzulegen, die ewige Skepsis gegenüber der eigenen Biographie und einem selbst, an diesem Ort hier wirkte sie lächerlich, ich war verblüfft, wie plastisch und genau ich von vielem erzählen konnte, manchmal hatte ich sogar den Eindruck, ich erzählte etwas, das mir im Grunde ganz neu war. Natürlich ließ ich die meisten Freundschaften und Liebschaften aus, gerade das zu erzählen war aber eine große Verlockung, wie ist das eigentlich früher mit dem Verlieben gewesen, dachte ich laufend, ich hatte mich seit diesen ganz frühen Tagen wahrhaftig nicht mehr richtig verliebt. Um das Verliebt sein habe ich später immer einen Bogen gemacht, dachte ich, während ich von etwas anderem weitererzählte, wenn einer der Freunde vom Verliebt sein sprach, ging ich gleich beiseite, ich hatte die Liebe satt, einfach satt, warum war das so, ich muss das später einmal klären, für mich. Auch die Frau an meiner Seite, wie Rudolf sie zuerst genannt hatte, hatte ich nicht geliebt, sie war eine Begleiterin, Weggefährtin, hätte wiederum Rudolf gesagt, gewesen, sie war die eine Frau, die man als Mann nun einmal beim Sender kennenlernte, jeder Mann lernte beim Sender mindestens eine Frau kennen und jede Frau mindestens drei bis vier Männer.
Während ich erzählte und für mich so überlegte, verfolgte ich das Spiel ihrer Finger, sie drehte und berührte das Glas mit beiden Händen und schob es dann mit der Linken zur Seite, sie fuhr mit den Fingerkuppen über das Tischtuch, sie bewegte sie langsam, wie in Trance, verweilte bei einigen Brotkrumen, rollte sie mit der äußersten Spitze des Zeigefingers ein kleines Stück, näherte sich wieder dem Glas, ließ es von der Linken herbeirücken, bis auch die Rechte es wieder zu fassen bekam, dann strich sie mit dem Daumen langsam über seine Rundung bis hinauf zur Öffnung, ohne Unterbrechung war sie mit diesen Spielen beschäftigt.
Ich bemerkte, dass ich meine eigenen Finger ganz still hielt, fast furchtsam still, dachte ich, ich ließ sie auf dem Tisch liegen, als wären sie dort festgeschnallt, wie schaute sich das wohl an, welchen Eindruck machte ich, ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie ich auf sie wirkte, nicht einmal eine kleine Vermutung hätte ich äußern können.
Ich schaute auf die Uhr, kurz vor Mitternacht, so lange also saßen wir bereits hier, vielleicht hatte ich viel zu lange gesprochen, getrunken jedenfalls hatten wir reichlich, auch ich hatte einige Gläser geleert, wenn auch nicht so viele wie sie, anscheinend wollte sie heute Abend vor allem zuhören. Wenn ich einige Gläser getrunken hatte, war Sex sonst oft unvermeidlich, der Schwung eines Gesprächs, gesteigert durch Alkohol, trieb mich meist zu den abenteuerlichsten Offenbarungen, ich wusste also, dass es gefährlich wurde, gefährlich, flüsterte die kluge, ironische Stimme in mir, diesmal aber gab es gewisse Hindernisse und Bremsen, ich konnte mir die Übergänge zum Thema Sex einfach nicht vorstellen, wie sollte das laufen, wie gelangte man mit dieser Frau überhaupt in ein Bett, wie konnte man mit ihr davon sprechen, sie hat vielleicht niemals Sex gehabt, sagte die dreiste Stimme in mir. Natürlich hatte sie Sex gehabt, Sex schon, aber welchen, nein, es war aussichtslos, daran zu denken, dem Thema war nur mit Ironie beizukommen, vielleicht stellt sie auch an den Sex ästhetische Ansprüche, sagte meine ironische Stimme, wie sähe denn das wohl aus, ästhetischer Sex, es wäre nur noch zum Lachen.
Ich begann, sie auf das Thema Sex hin zu betrachten, ihre Ausstrahlung veränderte sich, ihre ganze Figur und ihre Gestik gerieten in ein anderes Licht, zog sie sich aus, aber wie, welches Kleidungsstück zuerst, in welcher Reihenfolge, vielleicht liebte sie auch Sex in dunklen Unterführungen, hastigen Sex im Stehen, es wäre ihr zuzutrauen gewesen, auch das. Ich beobachtete ihre Finger, war es nicht obszön, was sie mit ihnen trieb, obszön, summte es in mir, und das Wort lockte gleich weitere an, hör auf, sagte ich mir, beruhige Dich, es ist die gefährliche Stunde um Mitternacht, Du weißt.
Ich schwieg, ich hielt die Anspannung nicht mehr aus, sie entschuldigte sich und verschwand zur Toilette, die Kellnerin kam noch einmal an unseren Tisch, wie auch am Mittag waren wir wieder die Letzten. Sagen Sie, fragte ich, haben Sie auch Zimmer zum Übernachten?, die Kellnerin schaute mich an, es war derselbe Gleichmut zu erkennen wie den ganzen Abend lang, «, antwortete sie, natürlich haben wir Zimmer, wollen Sie eines sehen? Ja, sagte ich, lassen Sie sehen, ich stand auf, die Kellnerin ging voraus, wir stiegen eine kleine Treppe hinauf, sie öffnete eine Tür, per due, un letto matrimoniale. Ich hätte fast laut aufgelacht, als ich das breite Bett sah und die kleinen Messing-Nachtlämpchen mit den karierten Stoffüberzügen, es war völlig unmöglich, in diesem Bett konnte man mit Dottoressa Franca keinen Sex haben, schon die Vorstellung war lächerlich, wahrscheinlieh quietschten die Federn und waren bei geöffneten Fenstern noch in den Tälern ringsum zu hören, ich konnte das Lachen nicht mehr unterdrücken, mir fiel noch allerhand zu diesem unmöglichen Schlafzimmerbild ein.
Nehmen Sie es? fragte die Kellnerin, ich gab eine ausweichende Antwort, dann gingen wir wieder nach unten. Sie schaute mir direkt ins Gesicht, als sie uns sah, sie wusste genau, wonach ich gefragt hatte, ich ließ ihr keine Zeit, auf irgendwelche Gedanken zu kommen und sagte, ich habe mir ein Zimmer angeschaut, vielleicht werde ich mit meinen Männern beim Drehen hier übernachten. Und, wie hat es Ihnen gefallen? fragte sie. Es passt genau hierher, antwortete ich, ein schönes, großes Zimmer mit breitem Bett, nachts lässt man das Fenster offen, man hört noch eine Weile das Summen des Landes, all diese beruhigenden, kleinen Geräusche, man liegt noch etwas wach, es ist schön, auf dem Land einzuschlafen, ich stelle es mir einfach schön vor, oder was meinen Sie? So wie Sie davon sprechen, hört es sich gut an, sagte sie, ich sah, wie sie wieder mit dem Glas spielte, sie presste den Daumen jetzt gegen den Stiel, sie umrundete ihn, für einen Moment stand alles auf der Kippe, die Kellnerin blickte uns an, ich schaute sie an, sie starrte auf das halbleere Glas, was sollte geschehen, wollen Sie nun das Zimmer, ja oder nein? fragte die Kellnerin, und ich sagte laut, nein, danke, nein, sie beobachtete mich bei dieser Entscheidung, ich sah genau, wie lange ihr Blick auf mir ruhte.
Sie zahlte, der Schwung war verebbt, ich kannte das ja, ich hätte ihr davon erzählen können, von diesen unsinnigen Abstürzen und dummen Momenten, denen sonst mein Hass galt, jetzt aber war ich ganz damit zufrieden, es war unmöglich, mit Dottoressa Franca in dieses weiße gestärkte Linnen zu kriechen, außerdem hatte ich keine Ahnung davon, wie es in ihrem Fall mit dem Sex bestellt war, vielleicht brauchte ich noch eine kleine Weile, um in dieser Sache Gewissheit zu bekommen, vielleicht würde ich es auch nie begreifen.
Wir schwangen uns langsam auf die Räder, wir waren erschöpft, müde, verbraucht, sie fuhr wieder voran, es ging die ganze Panorama-Strecke zurück, eine beinahe ununterbrochene, schnelle Abfahrt, wir brauchten kaum zwanzig Minuten. Als wir wieder die Ausfahrstraße erreichten, verabschiedeten wir uns, ich hielt neben ihr, sie sagte, sie müsse in eine andere Richtung, links ab, wir telefonieren, sagte sie, ja, antwortete ich, rufst Du mich an, fragte sie, ja, sagte ich, ich rufe Dich an.
Sie winkte ganz kurz, dann fuhr sie davon, sie hatte mir ihr Du angeboten, dieses Du, dachte ich, ist ihr erster Kuss.
#13 
regrem патриот17.02.16 18:31
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AM NÄCHSTEN Morgen badete ich wieder sehr früh im Meer und frühstückte dann kurz im Hotel, ich begegnete Carlo, er hatte mich am vergangenen Abend vermisst. Wo waren Sie? fragte er, und ich nannte den Namen des Berg-nests, waren Sie dort oben allein? fragte er weiter, und ich sagte, nein, und begann, ihm von dem Ausflug mit der Dottoressa zu erzählen. Als er ihren Namen hörte, starrte er mich an, als wäre ich von Sinnen oder als leistete ich mir gerade etwas ganz Dreistes, er sagte aber nichts, sondern war-tete, bis ich zu Ende war, Sie sehen, ich habe eine attraktive Bekanntschaft gemacht, sagte ich noch, doch Carlo antwortete nur sehr zurückhaltend, seien Sie vorsichtig, passen Sie auf, die Dottoressa ist alles andere als das, was ich unter einer attraktiven Bekanntschaft verstehe.
Ich hatte keine Lust, am frühen Morgen länger mit ihm über brisante Themen zu sprechen, ich sagte, ich würde gern später einmal mit ihm darüber reden, er zuckte nur kurz mit den Schultern, als wäre es nicht seine Schuld, wenn mir in der Zwischenzeit etwas passierte. Ich holte einige Utensilien, die ich zum Arbeiten brauchte, aus meinem Zimmer und ging wieder hinunter zum Strand, ich setzte mich an einen kleinen Tisch der zum Hotel gehörenden Strandbar und begann, an meinem Filmkonzept zu arbeiten, ich machte eine Aufstellung der bis jetzt feststehenden Drehorte und textete in Stichworten etwas dazu, es war wichtig, alles möglichst genau zu notieren, solange die Eindrücke frisch waren. Ich hatte das Handy neben meine Unterlagen auf den Tisch gelegt, ich vermutete, sie würde zwischen Acht und Neun im Museum sein, bis zehn Uhr war sie sicherlich beschäftigt, also würde ich sie zwischen Zehn und Elf anrufen.
Ich kam gut voran, ich hatte in den letzten drei Tagen kaum Zeit verschenkt, wenn es so weiterging, würde ich schon mit dem Gerüst des halben Drehbuchs zurückkommen. Ich bestellte mir noch einen Kaffee und etwas Wasser, der Strand füllte sich erstaunlich spät, erst gegen Zehn kamen die Familienverbände aus den nahen Strandhotels angerückt, unübersichtliche Trauben mit bereits aufgeblasenen Krokodilen und schwarz-weißen Delphinen, die Älteren sackten meist gleich in die Liegestühle und schotteten sich mit Zeitungen ab, die Jüngeren spielten ein wenig am Strand, bis der erste Streit da war und sie sich in kleinen Gruppen auf mehrere Spielplätze verteilten.
Ich hatte nicht vor, meinen Strandplatz noch einmal zu benutzen, das eingeengte Sitzen inmitten der vielen dösenden Menschen machte einen selbst passiv und schläfrig, ich wollte baden und arbeiten, arbeiten und baden, ich hatte nicht die Absicht, meinen Verstand abzuschalten oder mich in ein sonniges Nirwana zu begeben. So behielt ich meinen Arbeitsplatz bei, einige schauten mich kritisch an, als beginge ich damit, dass ich etwas tat, eine Sünde, aber es scherte mich nicht, ich konzentrierte mich, und das klappte sehr gut, auf das Projekt, erst als weitere wichtige Details notiert waren, blickte ich länger in die Runde, beobachtete das Strandleben und stellte Vermutungen darüber an, wer hier zu wem gehören könnte.
Immer wieder aber ging mir das Gespräch des gestrigen Abends durch den Kopf, ich hatte so lange von meinen Münchener Jahren erzählt und das Wichtigste doch nicht berührt, das Wichtigste waren für mich die Freundschaften und kurzen Lieben gewesen, längst überblickte ich sie selbst nicht mehr, ich wusste nur noch, womit es angefangen hatte, mit einem schlimmen Augenblick im Alter von Siebzehn. Mit Siebzehn hatte ich mich zum ersten Mal richtig verliebt, es war eine Schulbekanntschaft gewesen, Nora, den Nach-namen habe ich vergessen, wahrscheinlich aus Notwehr. Ich liebte Nora mit jener Geduld, mit der Jungen Mädchen damals gerade noch liebten, ich war zurückhaltend, vorsichtig, ein guter Begleiter, Nora schätzte das sehr, wir waren beinahe ununterbrochen zusammen, ein, wie unsere Eltern sagten, sehr liebes Paar. Allerdings hatten wir keinen Sex, wir hatten ihn zwar im Kopf, praktizierten ihn aber nicht, wir waren ein Paar in der Warte- und Orientierungsschleife, das es nur noch für eine Frage von wenigen Wochen hielt, bis es soweit sein würde.
Ich fuhr damals Fahrrad, wir alle fuhren damals Fahrrad, ich begleitete Nora zum Einkaufen, ich holte sie vom Ballett ab, ich wartete vor einem kleinen Reihenhaus, aus dem sie nach ihrer Geigenstunde herauskam.
Der schlimme Augenblick ereignete sich, als ich an einem Abend eine Viertelstunde zu früh war, ich fuhr auf dem Gehweg vor dem Reihenhaus auf und ab, ich wendete immer wieder, fuhr langsam, fuhr schnell, ich hatte mich ganz in eines der selbstvergessenen kindischen Spiele vertieft, die einem Siebzehnjährigen die Zeit noch vertreiben, als ich durch ein offenstehendes Fenster des Hauses Noras Stimme hörte. Ich wusste sofort, dass sie es war, es war ihre Stimme, und doch hatte ich sie noch nie so gehört, es war ein raues, festes und motorisches Stöhnen, ich dachte schon, sie würde geschlagen. Ich ließ mein Rad stehen, öffnete das Gartentor und betrat das Grundstück, ich lief zu dem Fenster und schaute an der nach einer Seite hin beiseitegeschobenen Gardine vorbei hinein in den schwach erleuchteten Raum.
Eine derart drastische Szene hatte ich noch nicht gesehen, Nora lümmelte sich auf einem Tisch, ihre Hose lag auf dem Boden, sie hatte ihr nacktes Becken weit vorgeschoben, der Kopf ihres Lehrers befand sich zwischen ihren gespreizten Beinen. Wie eine Stifterfigur auf einem alten Altargemälde kniete er vor ihr auf dem Boden, manchmal richtete er sich kurz auf und schnappte nach Luft, vielleicht befeuchtete er auch nur seine Zunge, ich wusste es nicht, jedenfalls fiel mir seine leicht zusammengerollte, massiv wirkende Zunge sehr auf, er bog sie spitz nach oben, er massierte sie mit der Oberlippe, er musste ein absoluter Experte in solchen Dingen sein. Ich stand da und stierte hinein, mir wurde unsäglich heiß, ich hätte mich beinahe am Fensterbrett draußen festhalten müssen, ich sah, wie er immer wieder seine Zunge ausrollte, präparierte und dann zum Einsatz brachte, zum Einsatz bringen ist genau die richtige Wendung, denn er machte es beinahe medizinisch, er schaute sich alles an, er beobachtete sich selbst, wie er seine Rindszunge an ihren Schamlippen entlangführte, mit einer Passion, als wollte er Nora langsam zum Bersten bringen.
Ich hatte so etwas noch nie live gesehen, es war Sex, richtiger Sex, Sex pur, alles, was ich mit Nora hatte machen wollen, fiel von vornherein dagegen ab, sie hatte sich kurzerhand einen erfahrenen, trainierten Mann ausgesucht und war von der Primarstufe gleich in die Meisterklasse gewechselt.
Von diesem Nachmittag an verbot ich mir die Liebe, ich stahl mich fort, wenn jemand von Liebe erzählte, ich glaubte nichts mehr, statt dessen begann ich, meine Nachhilfestunden zu nehmen, ich traf mich mit Mädchen ausschließlich, um mit ihnen Sex zu haben, ich machte Kurse in sexueller Gewandtheit. Ich hatte es bald nicht mehr nur auf die Schöneren, Attraktiveren abgesehen, mir ging es ums Studium, ich studierte die Details der Körper und wie er reagierte, ich wollte ein Profi, wie Rudolf gesagt hätte, werden, mein sexuelles Praktikum zog sich in die Länge und dauerte Jahre, ich konnte nicht aufhören damit.
Schließlich war ich besser als die Mädchen, mit denen ich zusammenkam, ich wunderte mich über sie, angeblich hatten sie schon viele Freunde gehabt, sexuell aber waren sie völlig unbedarft, man musste ihnen die Scham nehmen, sie mit jedem Handgriff erst vertraut machen, ihnen zeigen, dass sich ohne Scham erst die wahre Lust einstellte, sie mussten lernen, ihre Wünsche endlich offen auszusprechen, ohne Drumherum, ganz direkt. Viel zu lange Zeit waren sie von einem Bett ins nächste gefallen, hatten ein bisschen gevögelt und nicht einmal daran gedacht, dass es auch hier darum ging, etwas zu lernen, die anderen Jungs hatten ihnen nichts beigebracht, ich begriff nicht, wie sie es mit denen ausgehalten hatten. Dabei sah ich, dass ihnen das sexuelle Training guttat, sie sprachen sogar offener als zuvor von dem, was sie wollten, sie waren zupackender, frischer geworden, vielleicht bildete ich mir das aber auch ein.
So trudelte ich durch die späten achtziger Jahre, es waren die Jahre meines sexuellen Snobismus, inszenierte Treffen, dazwischen schnelle Nummern zur Abwechslung, in kürzester Zeit möglichst oft hintereinander an möglichst vielen verschiedenen Schauplätzen, ich verfeinerte die Sache immer mehr, München und seine Umgebung waren für so etwas geradezu ideal, Ekstase, Obsession waren in meinen Kreisen die häufigsten Worte, ich erlebte diese Zeit wie eine nicht enden wollende Party, mit künstlichen Nebelschwaden in nostalgischen Scheunen und Schuppen, auf Segelschiffen und in Ruderbooten, all die Seen südlich von München waren eine große Kulisse, und im Winter zog ich mit meinen Mädchen hinauf zu den
abgelegensten Hütten, um sie vor knisternden Kaminfeuern zum Orgasmus zu bringen.
Erst Mitte der Neunziger und damit sehr spät, ich war damals schon beinahe Dreißig, ging ich die erste feste Partnerschaft ein, ich glaubte schon nicht mehr daran, mein Studium, zwölf Semester Kunstgeschichte und etwas Philosophie, war eine einzige Sause gewesen, eine Zeit der vollgesprochenen Anrufbeantworter, gehen wir morgen dahin oder dorthin, magst Du mich sehen, kommst Du mit? hatte ich zu hören bekommen, wenn ich sie nachts, nach meinen Streifzügen, abgehört hatte.
Ich lernte die Frau an meiner Seite bei der Arbeit kennen, wir verreisten, wir arbeiteten in Rom zusammen an einem Projekt, schon an unserem ersten Abend hatte ich sie herumgekriegt, von da an war sie jeden Abend und manchmal auch morgens zu kurzen Visiten in meinem Hotelzimmer erschienen, sie hatte mich völlig in Beschlag genommen, manchmal hatte sie mich sogar während der Mittagessen auf die Damentoilette gelotst, ich mochte das sehr, endlich musste nicht immer ich die Initiative ergreifen, ich kam mit Frauen, die sich erwartungsvoll ins Bett legten und darauf warteten, dass das genau Passende geschah, sowieso nicht mehr gut zurecht.
Die Frau an meiner Seite, nun gut, sie hieß Hanna, hatte genau einen wie mich gesucht, sie sagte mir das immer wieder, einen wie Dich wollte ich haben, schon bald zog sie auch bei mir ein, keine Frau wäre je zuvor auf diesen Gedanken gekommen, alle hatten gewusst und akzeptiert, dass ich meine Freiheit behalten wollte und keineswegs treu war, sie selbst wollten im Grunde auch gar keinen treuen Mann, sie redeten nur manchmal davon, dabei waren sie selbst nicht sonderlich treu. Genau zu dieser Zeit wurde ich Redakteur und Hanna in einer anderen Redaktion Redakteurin, die Wohnung war plötzlich zu klein, wahrscheinlich verdienten wir auch einfach zu viel und mussten uns daher einreden, dass die Wohnung plötzlich zu klein war. Wir suchten uns eine große Wohnung direkt am Isarufer, wir waren das erste Paar beim Sender, das so etwas tat, unsere neue Wohnung zog die Freunde an, sie kamen häufig vorbei, sie studierten den neuen Status, einige bekamen sogar vor lauter Aufregung und um uns voraus zu sein, Kinder, wir nicht, Kinder waren für uns nichts, wir verreisten viel, was hätten wir mit Kindern während unserer Reisen machen sollen?
Mit Hanna zusammenzuleben, war schön, wir liebten uns nicht, aber wir verstanden uns, wir hatten viel Sex, manchmal mehrmals am Tag und häufig heimlich, irgendwo draußen, in unmittelbarer Nähe von anderen Menschen und an geradezu überlaufenen Plätzen, wir zelebrierten den Sex und behielten, was wir trieben, für uns, ich war mir sicher, dass Hanna nicht einmal ihren Freundinnen davon etwas erzählte. Mit einem mal war ich sogar treu, meine Streunerei hatte ein Ende, Hanna war nicht genau das, was ich mir immer vorgestellt hatte, aber ich war zufrieden, außerdem verdankte ich ihr wirklich viel, sie hatte es geschafft, aus mir einen ruhigeren Betrachter der Dinge zu machen, der wieder neues Gefallen am Leben fand. Manchmal kam es mir so vor, als wäre ich durch diese Ruhe noch attraktiver geworden, jedenfalls versuchten es meine früheren Freundinnen noch eine Zeitlang mit Anrufen und Einladungen zu allem Möglichen, im Gegensatz zu mir hatten sie den richtigen Absprung verpasst, sie fingen mit Jogging oder Radfahren an, hielten ihre alternden Körper sextauglich, irgendwann wussten sie nicht mehr wofür und ließen sich dann hängen.
Ich griff zum Handy, ich hatte mich lange genug in diesen Träumereien verloren, ich wählte ihre Nummer, aber es war besetzt. Der Strand war jetzt überfüllt, Musik kam von vielen Seiten, niemand schien es zu bemerken, selbst die lauteste Werbung wurde hingenommen, als hörte sie keiner. Die Älteren schliefen auch längst wieder, zwei Strandstücke weiter liefen Animationsprogramme für die mittlere Generation, außer den Kindern ging kaum jemand ins Wasser, dabei war das Meer so nahe, still, unbeweglich. Wenn sie sich aber ein paar Schritte hineintrauten, gingen sie gemeinsam, in kleinen Gruppen, selbst im Meer wollten sie nicht allein sein, sondern in einer Runde, das Alleinsein musste eine geradezu heroische Überwindung kosten.
Ich wählte noch einmal ihre Nummer, das Wahlzeichen ertönte dreimal, dann hörte ich ihre Stimme. Ich zögerte kurz, sie mit Du anzusprechen, ich versuchte, jede Anrede zu vermeiden, doch sie sagte von sich aus gleich, ich wusste, dass Du es bist. Sie sprach leise, als wäre sie nicht allein, sie flüsterte beinahe, sie erwähnte den gestrigen Tag nicht, sondern sprach nur von dem, was sie am Morgen hatte tun oder nachholen müssen, es war ein straffer Bericht, gut gebündelt, als habe sie sich selbst die Reihenfolge vorher überlegt. Ich wusste sofort, dass sie sich für heute ausklinken wollte, sie wollte oder konnte mich heute nicht sehen, sie brauchte Zeit, so legte ich den Bericht aus, seltsamerweise fühlte auch ich mich dadurch befreit, obwohl ich sie liebend gern gesehen hätte, liebend gern.
Ich sagte nicht viel, sie fragte mich, wo bist Du und was tust Du gerade, ich beschrieb meine Position direkt am Strand und versuchte, eine gewisse Komik hineinzubringen, ich hörte sie lachen, sie sagte, ich mag Dein Erzählen so sehr, weißt Du, wie sehr ich Dein Erzählen eigentlich mag? Es war mir beinahe peinlich, so etwas zu hören, ihre Stimme klang sehr liebevoll und ganz intim, ich konnte bei dem hellen Sonnenlicht und inmitten all dieser Musik nicht so antworten, wie ich wollte. Ich fragte sie, und wo bist Du jetzt genau, oben im Museum, oder an einem Ort, den ich kenne? sie antwortete, Du kennst den Raum, ich bin unten im Vortragssaal, ich habe ihn abgedunkelt, ich sitze im Dunkeln, um mit Dir zu telefonieren.
Sie wartete einen langen Moment, es war still, ich hatte wirklich Mühe mit diesem Bild, sie allein in dem verdunkelten Raum, warum tat sie das, ich kam nicht darauf, ich hätte so gern etwas Leichtes gesagt, etwas, das in eine ganz andere Richtung ging und von ganz anderen Dingen handelte, aber mein Hirn war öd und leer.
Bist Du noch da? fragte sie, ja, antwortete ich schnell, ich versuche mir vorzustellen, wie Du in diesem dunklen Raum sitzt, versuch es nicht, antwortete sie, Du kennst mich noch nicht, versuch es in einigen Tagen, dann wirst Du verstehen.
Ich hörte ihr zu, ich schluckte beinahe vor Erregung, sie spielte auf etwas an, das mich scharf machte, aber ich kam nicht dahinter, ich hatte nur einen sehr Ungewissen Instinkt. Heute also nicht, sagte ich, nein, heute nicht, antwortete sie, morgen also, sagte ich, dann auf morgen, wir werden sehen, antwortete sie, wir werden uns sehen, mein Lieber.
Ich wartete nicht länger, ich beendete von mir aus das Gespräch, ich konnte ihr einfach nicht länger zuhören, ihr leises Raunen machte mich unruhig, irgendetwas verheimlichte sie, fast wäre ich sofort zum Museum gerannt. Ich stand auf, ich packte mit zitternden Fingern meine Utensilien zusammen, es war kurz vor Zwölf, noch eine Stunde bis zum Mittagessen, was sollte ich tun?
Ich ging zurück zum Hotel, ich ging auf mein Zimmer, als ich auf dem Balkon stand, sah ich eine einzelne kleine Wolke über den nahen Hügelkuppen, wie ein leichter Luftballon schien sie vom Bergland zu kommen. Ich wollte mich einen Moment hinlegen, aber ich hielt es nicht aus, ich war zu aufgeregt, das Gespräch ging mir immer wieder durch den Kopf. Warum hatten wir für morgen kein Treffen vereinbart, was bedeutete das mir werden uns sehen, und wie sollte ich mein Lieber nun deuten?
Ich nahm nicht den Aufzug, ich lief die vielen Stufen herunter, unten begegnete mir Carlo und fragte, ob ich heute zum Essen komme. Ja, sagte ich, ich komme, ich gehe nur noch ein paar Schritte. Es wird ein Gewitter geben, antwortete er, ein sehr schweres Gewitter, gehen Sie nicht zu weit. Draußen, auf dem breiten Boulevard, schaute ich mich nach dem Wölkchen um, es hatte sich bereits verdoppelt und war in eine leichte Schieflage geraten, hinter ihm läppte ein schmaler, dunkler Streifen hervor, noch immer konnte ich mir nicht vorstellen, dass es hier jemals regnen würde.
#14 
regrem патриот17.02.16 18:32
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14.1
PLÖTZLICH setzte aber der Wind ein, er begann völlig unerwartet und dann gleich so heftig, als habe jemand eine Düse geöffnet. Erste Regentropfen fielen, ganz vereinzelt, wie eine Warnung, ich hörte ein Schreien und Rufen vom Strand her, überall sprangen sie auf und klappten die Sonnenschirme zusammen, sie flohen, wie eine wild gewordene, verrückte Meute setzten sie über den Boulevard, die Kinder kamen nicht hinterher, das Gerenne wirkte übertrieben und völlig hysterisch. Mit Badetüchern über dem Kopf stürzten sie in ihre Autos oder liefen in die Hotels, dabei regnete es noch nicht wirklich, nur der starke Wind machte jedem, der noch keinen Schutz gefunden hatte, zu schaffen.
Ich fand einen Obststand, ich kaufte eine Handvoll Feigen, als ich umkehren wollte, kippte ein kleiner Sonnenschirm gerade vor mir um und rollte seitlich davon, ich lief hinterher und bekam ihn noch zu packen, dann beeilte ich mich, zurück ins Hotel zu kommen.
Beim Mittagessen hielt meine Unruhe an, ich wurde das seltsame Telefonat einfach nicht los, zum Glück war der Nebentisch diesmal leer, das stumme Ehepaar befand sich auf einem Ausflug. Alle Fenster waren verriegelt, die meisten Hotelgäste schauten hinaus, draußen hatte das Drama begonnen, es war, als rückten alle enger zusammen, wie in einem Boot. Auch der Geräuschpegel im Speisesaal war viel niedriger als sonst, man sprach leise, deutete mit dem Kopf hinaus, man kommentierte das Wetter, es handelte sich um eine echte Attraktion, manche genossen vielleicht sogar die Abwechslung.
Ich sah, wie der Wind die grünen Palmwedel schlug, sie duckten sich zu dichten Matten zur Seite, Zeitungsseiten flogen über die Straße, Getränkedosen klapperten hinterher, nur noch wenige Autos fuhren vorbei, dann schäumte der schwere Regen herunter, klatschte gegen die Fenster, so etwas machte Angst, die meisten Hotelgäste waren still geworden und blickten wie hypnotisiert nach draußen, ich fragte mich, ob ich die Kamera holen sollte, aber ich war zu faul. Hier und da traute sich auch einer, stand auf und ging ans Fenster, um dort beinahe entgeistert zu stehen, obwohl sie einen solchen Regen doch schon oft erlebt haben mussten, schien es sie jedes Mal von neuem zu packen.
Ich kümmerte mich nicht allzu sehr um das Geschehen, ich aß langsam und blätterte in meinem meeresbiologischen Fachbuch, Herzigel, las ich, lebten auf Weichböden, sie suchten nachts mit Hilfe ihrer lappigen Extremitäten nach Nahrung, es gab den violetten und den kleinen Herzigel, der kleine sah pelzartiger aus und grub ein Loch ins Sediment, in dem er sich versteckte, nur die langen, gefiederten Füßchen schauten dann noch heraus. Als ich aufschaute, setzte sich Carlo an den Nebentisch,
ich möchte Sie nicht beim Essen stören, sagte er, Sie stören nicht, das wissen Sie, antwortete ich. Ich würde gerne mit Ihnen etwas besprechen, sagte er, etwas Dringendes? fragte ich zurück, nein, nichts Dringendes, sagte er, aber ich möchte gern bald mit Ihnen reden, wann haben Sie Zeit? Wie lange wird das Gewitter dauern? fragte ich. Anderthalb, höchstens zwei Stunden, am Abend wird der Himmel so blau sein wie zuvor, antwortete er. Darf ich Sie dann am Abend einladen? fragte ich. Das dürfen Sie, sagte er, ich schlage vor, wir gehen zusammen ins Pescatore, Sie wollten doch gern einmal in einer dieser Strandburgen essen.
Ich nickte, er stand auf und zwinkerte mir kurz zu, ich beugte mich wieder über mein Buch und studierte weiter die verblüffenden Blütenblatt-Muster der Herzigel-Panzer.

14.2
Nach dem Essen ging ich auf mein Zimmer, der Raum war erfüllt vom süßlichen Duft der Feigen, die wie pralle, aufdringliche Körper auf einem Teller lagen. Ich rückte einen kleinen Tisch direkt vor die Balkontür, ich schob die Gardine zur Seite und blickte hinaus, die dunklen Wolken hatten nun beinahe das Meer erreicht, als wären sie von den Hügeln herabgestürzt, sie schütteten sich aus, der trockene Boden nahm das Wasser nicht auf, es zischte an den Bordsteinkanten entlang. Ich sah, wie der Wind über das Meer fegte, die graublaue Gischt erschien wie gepeitscht, dabei waren die Wellen nicht einmal sonderlich hoch, es sah aus, als blase ein gewaltiger Rachen seinen Atem in dichten Schüben über die Oberfläche.
Ich klappte den Laptop auf und platzierte ihn auf dem Tisch, ich richtete mich etwas ein, dann begann ich, auf dem Laptop zu schreiben, kaum fünfhundert Meter von mir entfernt, spülte die hüpfende Gischt ihren Unrat an Land, wenn ich hinaus und hinab schaute, war es so, als würde dieser Ballast geradewegs in die Rückenpartie meines Geräts gespült werden. Ich wunderte mich wie so oft, wenn ich ein paar Tage nur mit der Hand geschrieben hatte, wie leicht das Schreiben mit dem Computer ging, die Fingerkuppen liefen wie schnelle Klavierfinger über die Tastatur, auf dem Bildschirm entstand ein Schrift-Fluss, der davoneilte, versonnen blickte ich ihm hinterher.
Ich arbeitete am Rohentwurf meines Drehbuchs, bis die Arbeit stockte, ich speicherte alles ab und schrieb Rudolf eine kurze Mail, ich hatte mich die ganze Zeit nicht gemeldet, bestimmt nahm er es mir schon übel. Draußen beruhigte sich langsam das Wetter, der Regen kam jetzt ganz regelmäßig und konzentriert herunter, die ersten Autofahrer machten sich einen Spaß daraus, mit ihren Wagen durch die tiefen Pfützen zu fahren. Plötzlich klingelte das Handy, ich erkannte Rudolfs Nummer auf dem Display, ich meldete mich, er hatte die Mail gerade gelesen und sprach von der Billigflug-Verbindung nach Pescara, er überlege, ob er mich am Wochenende besuchen solle, um die möglichen Drehorte schon einmal, wie er sagte, unter die Lupe zu nehmen. Ich hörte ihn so nah, als säßen wir einander im Sender gegenüber, für einen Moment schloss ich die Augen und glaubte, mich wirklich in den Redaktionsräumen zu befinden, ich sah den grünen Fußboden und die lange nicht angerührten Bücherstapel auf den Regalen, es kam mir alles unendlich fern vor und als liege mein Kontakt mit diesen Dingen nicht erst ein paar Tage, sondern Monate zurück.
Ich könnte es versuchen, sagte Rudolf, die Buchung könnte gleich rausgehen, was meinst Du? Nein, sagte ich, ich halte gar nichts davon, ich hasse Billigflüge, Du weißt es genau. Stell Dich nicht so an, sagte er, es würde die Arbeit immens erleichtern, ich bekäme schon einmal einen Eindruck. Nein, sagte ich, ich will es nicht, ich verbiete es Dir. Spinnst Du? schrie er beinahe, ich glaube, Du spinnst! Ja, sagte ich, ich spinne, ich will einmal ein paar Tage allein sein, völlig allein, verstehst Du, ohne all diese Arbeitsgespräche, es ist sehr schön hier, verstehst Du, es ist wundervoll, wie Du sagen würdest, ich möchte das jetzt mal genießen. Du möchtest genießen, aha, sagte er höhnisch. Ja, sagte ich, eine Woche, höchstens zehn Tage, ich komme mit dem fertigen Drehbuch zurück, wenn es sein muss. Mit Dir stimmt etwas nicht, sagte er, irgendetwas stimmt nicht mit Dir. Du hast Recht, sagte ich, es stimmt etwas nicht, aber ich kann es Dir nicht erklären. Mein Gott, auch das noch, sagte er, was ist es, mach eine Andeutung, sag irgendetwas, dann bin ich beruhigt und begreife. Es ist die große Liebe, sagte ich, das ist es. Was? und jetzt schrie Rudolf tatsächlich, was hast Du gesagt? Die große Liebe, sagte ich, das ist es. Die große Liebe gibt es nicht, das solltest gerade Du wissen, sagte er. Ja, sagte ich, ich weiß, die große Liebe gibt es nicht, das dachte ich vor vier Tagen auch noch. Jetzt sag mal, rief er, soll ich nicht doch lieber kommen, wäre es nicht am Ende besser? Nein, sagte ich, tu mir einmal im Leben einen Gefallen.
Ich hörte ihn leise stöhnen, ich hatte ihn umgestimmt. Ruf mich an, wenn Du nicht klarkommst, sagte er. Ja, sagte ich, ich rufe an.
Ich stand auf, das Strahlen des Bildschirms schien schwächer zu werden, draußen zeigte sich wieder die Sonne, ich öffnete die Balkontür und trat hinaus. Ich schaute hinauf zu den Hügeln, die dunklen Wolkengebilde waren nach allen Seiten zerstreut, das Blau setzte sich langsam wieder durch, es kroch über die Hügel und stürzte dann über ihre angeflammten, bleichen Erhebungen herunter zum Meer, die ersten Sonnenflecken legten sich schon auf die Palmen, sie schienen sich aufzurecken, alles atmete durch, am Strand waren sie schon mit den Aufräumarbeiten beschäftigt, die Sonnenschirme wurden wieder geöffnet, ich schaffte den Laptop beiseite und trug den kleinen Tisch auf den Balkon.
Die große Liebe - wie war ich denn auf diese pathetische Wendung gekommen? Rudolf hatte Recht, ich hatte an die große Liebe nicht mehr geglaubt, seit meinem siebzehnten Lebensjahr hatte ich nicht einmal mehr an sie gedacht, sie war eine Sache für Theologen und Mystiker gewesen, etwas absolut Fernes, mit dem ich nie etwas zu tun haben würde. Acht Jahre lang hatte ich mit Hanna zusammengelebt, der wilde Sex unserer ersten Jahre war von einer gewissen Routine abgelöst worden, Routine aber war nichts für Hanna gewesen, irgendwann, vor etwa einem Jahr, hatte sie dann doch die Panik bekommen. Mit Fünfunddreißig, hatte sie gesagt, muss man sich ein letztes Mal fürs Leben entscheiden, nun gut, sie war praktisch, direkt, unkompliziert und vor allem ehrlich, sie hatte es noch einmal darauf ankommen lassen und sich einen munteren Vogel geangelt, sie hatte es mir gleich erzählt. Er war jünger als sie, vier Jahre jünger, ihre alte Unersättlichkeit meldete sich wieder, ich hielt da nicht mehr mit, verstand sie aber gut, wir trennten uns schnell. Seltsamerweise war ich selbst danach aber nicht rückfällig geworden, am Anfang hatte ich wieder ein paar Anrufe erhalten, einige alte Freundinnen hatten sich ganz harmlos gemeldet, ich hatte aber nicht angebissen, nicht in einem einzigen Fall, auch sonst war ich nicht auf die Suche gegangen, denn ich hatte die Gespräche satt, die langen, den Sex vorbereitenden, dummen Gespräche, die ich noch mehr als in frühsten Jahren hasste.
Die große Liebe - war es also richtig, es so zu nennen? Ich griff zu meinem schwarzen Notizbuch, ich wollte versuchen, es zu fixieren: Zwischen Franca und den Frauen, die ich bisher kannte, gibt es einen Unterschied: Wenn ich mit Franca zusammen bin, bin ich die ganze Zeit ausschließlich mit ihr beschäftigt, damit, was sie sagt und wie sie sich gibt, es gibt keinerlei Ablenkung, nichts sonst, ich bin völlig konzentriert und gespannt (und vielleicht deshalb hinterher, wenn ich wieder allein bin, beinahe leer und erschöpft^). Der gesamte Raum um herum wird durch unsere Begegnung verändert, er erscheint aufgeladen, interessanter, als strahlte unsere Verbindung auf ihn aus, manchmal meine ich sogar, er würde, auch wenn es sich um einen ganz alltäglichen, banalen Raum handelt, »schöner«. In diesem Zustand nehme ich unendlich viel wahr, und diese Wahrnehmung geht ein in unsere Gespräche, noch mit keiner Frau habe ich solche Gespräche geführt. Ich mochte immer die klugen Frauen, Frauen von einer raschen, hellwachen Klugheit, genau das zog mich an, im Falle Francas kommt aber zur Klugheit noch etwas anderes hinzu, eine besondere Art, sich zu bewegen, zu fühlen, zu schmecken, eine Art, die mir über alle Maßen gefällt, oder besser gesagt, eine Art, an der mich nicht das Mindeste abstößt oder irritiert. Meine früheren Verbindungen mit Frauen waren immer durchsetzt von kleinen Kompromissen, oft störten mich völlig unbedeutende Kleinigkeiten, die mit der Zeit eine unsinnige Bedeutung erlangten. Jetzt jedoch habe ich den seltsamen Wahn, ah käme unser Sprechen und Fühlen aus einem gemeinsamen Zentrum oder Kern, ein Wort gibt das andere, wir geraten miteinander, könnte man sagen, in einen Zustand der ununterbrochenen, begeisterten Unterhaltung. Es ist eine Art von Verzückung, eine Hyper-Erregung, ein Paroxysmus, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, vielleicht ist es wirklich etwas Mystisches, dann hätten die alten Theologen eben doch Recht. Schwärmerei, Sprachwollust, Welt-Verwandlung..., wenn ich Rudolf damit kommen würde, wäre er mit Recht empört. Es ist also »Die große Liebe«, ich bin beinahe sicher, die einzige Unsicherheit betrifft unsere Körper, obwohl ich mir bereits jetzt vorstelle, dass sie sich ganz ähnlich gut verstehen, ich weiß nur nicht wie, wir zögern noch, die Probe zu machen, danach aber wird man sie nicht mehr trennen können, »nie mehr«, denke ich jetzt sogar, es ist verrückt... Und was noch, was noch? Ich habe Angst, ich muss hinschreiben, dass ich große Angst habe, ich schreibe es zum dritten Mal hin, ich
#15 
regrem патриот17.02.16 18:32
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ICH VERLIESS das Hotel, ich nahm nichts mit, ich wollte ziellos gehen, ohne mich mit irgendetwas zu beschweren, und schauen, wie sich alles wieder ordnete. Der Verkehr floss langsam wieder, an einigen Stellen wurden die Straßen gereinigt, sie trockneten in der schon wieder einsetzenden Schwüle sehr schnell, nur auf den Kieswegen standen noch große Wasserlachen. Ich blieb nirgends stehen, vielleicht wollte ich mich doch beruhigen, irgendeine dumme Empfindung wollte ich jedenfalls loswerden.
Als ich am frühen Abend im Hotel eintraf, wartete Carlo schon auf mich, er war gut gelaunt, das schlimme Wetter war längst vergessen, einige Hotelgäste feierten noch im Speisesaal, dass das Gewitter überstanden war. Wir machten uns sofort auf den Weg, das Pescatore war nur wenige hundert Meter entfernt, es war bereits schwach erleuchtet, die Glastüren waren zur Meerseite hin geöffnet. Wir nahmen Platz, diesmal kamen die Kellner gleich in kleinen Gruppen, sie kannten Carlo natürlich, einige hatten, wie er sagte, sogar einmal bei ihm gearbeitet und waren jetzt abtrünnig geworden, im Pescatore wurden sie besser bezahlt.
Was wollen wir essen? fragte ich, wir essen scorfano, sagte Carlo, scorfano, gedünstet unter einer Lage stark gesalzener, hauchdünn geschnittener Kartoffeln, den passenden Wein bestelle ich, lassen Sie mich einmal machen. Er rief einen Kellner herbei und beriet sich leise mit ihm, ich schaute nach draußen ins Dunkel, das Meer rauschte dort lauter als sonst, als wäre die Gefahr noch nicht ganz gebannt. Carlo erzählte von den Strandlokalen, er hatte sie noch als kleine Getränkebuden in Erinnerung, jetzt waren sie berühmt in der ganzen Region und Anlaufstellen für Fischorgien am Wochenende. Eine Flasche Weißwein wurde gebracht und entkorkt, wir kosteten beide, ich wollte nicht länger warten und fragte ihn schließlich ganz direkt, was er mit mir bereden wolle. Er rückte seinen Stuhl an den Tisch, er beugte
sich etwas vor, dann sagte er, er wolle mit mir über die Dottoressa sprechen. Über die Dottoressa? fragte ich, was gibt es da zu besprechen? Carlo genoss es, gefragt zu werden, ich erkannte es deutlich, er plusterte sich mit seinem Wissen etwas auf, er wollte mir eine Geschichte präsentieren und hatte sich mit mir auch deshalb verabredet, um sie effektvoll zu erzählen.
Während er sprach, lauschte ich weiter auf das Rauschen aus der Dunkelheit, Carlos Stimme und das leise Dröhnen des Meeres überlagerten sich abwechselnd, meist konnte er das Meer übertönen, manchmal aber verstand ich ihn nicht, weil sich das Meer stärker bemerkbar machte, ich musste den Kopf stillhalten, ich durfte ihn nicht nach einer Seite hin neigen.
Carlo begann beinahe feierlich, eh, ich erinnere mich gut, ich kenne Franca seit ihrer Kindheit, von den ersten Jahren an hatte sie etwas Strahlendes, sie fiel auf, keiner konnte sie übersehen, sie war ein besonderes Kind, beinahe makellos schön, so etwas bringt Gott, der Herr, in jeder Generation nur einmal hervor. Ihr Vater war ein Dottore, ein Kinderarzt, um es genau zu sagen, ein ruhiger, liebevoller Mann mit einer starken musikalischen Neigung, kein Konzert hier war ihm gut genug, mindestens Ancona musste es sein oder besser noch Macerata, jedes Jahr fuhr er zu den dortigen Opernaufführungen im Freien, man munkelte sogar, er habe die Callas gekannt, die Callas der Pescatori di perle, me voila seule, nicht wahr?, das brauche ich Ihnen nicht zu erklären ..
Ich schüttelte den Kopf, nein, er brauchte es mir nicht zu erklären, obwohl ich nicht verstand, was er mir sagen wollte, es machte nichts, ich wollte ihn jetzt nicht unterbrechen. Insgeheim hatte ich auch meine Freude daran, wie er sprach, er holte aus wie zu einer langen Erzählung, ich sah Franca beinahe vor mir, in Gestalt eines bunten Kinderbildchens aus ihren frühen Tagen, die langen blonden Haare vor dem wachen, erstaunten Gesicht, und daneben der Vater, ein stolz lächelnder Mann ganz in Schwarz. Hatte Gianni Alberti mir einen Vortrag gehalten, so schlüpfte Carlo in die Rolle des alten Erzählers, die vielen Jahrzehnte mit seinen Gästen waren eine gute Schule gewesen, Carlo beherrschte das Erzählen, schon während des nächtlichen Austernessens war mir das aufgefallen.
Eh, fuhr er fort, das muss ich sagen, der Dottore war ein angenehmer Gesellschafter, ein nobler, belesener Herr, er liebte seine schöne Tochter über die Maßen, leider hat er den Buben, ihren jüngeren Bruder, das spüren lassen. So zog sich der Junge denn auch von ihm zurück und geriet der Mama in die Hände, o Gott, der Mama!, was soll ich sagen, sie war eine kapriziöse Erscheinung, niemand verstand, was dem Dottore an ihr gefiel, nach Meinung der Leute war sie für ihn nicht die Richtige, sie war ein Fehlgriff, nein, sie war ein Alptraum, aber sie haben es bis heute ausgehalten zusammen, dabei wäre eine Frau wie die Callas, eine Frau mit einem ähnlichen Stolz und einer ähnlichen Noblesse, für den Dottore bestimmt besser gewesen.
Nun gut, ich will von Franca erzählen, Franca wurde schöner und schöner, die Burschen der ganzen Stadt waren hinter ihr her, aber sie gab darum nicht viel, sie lebte ihr eigenes Leben, zurückgezogen, nur in Maßen gesellig, so recht durchschaut hat das keiner. Irgendwann jedenfalls geriet sie uns ganz aus den Augen, sie studierte, Kunstgeschichte natürlich, was konnte eine so schöne junge Frau schon sonst studieren, nur Kunstgeschichte kam da in Frage, nur die Geschichte des Schönen. Rom, Padua, wohl auch Venedig, wir hörten, dass sie an den besten Universitäten studierte, zu sehen bekamen wir sie nicht mehr, schließlich hörten wir sogar von dem Gerücht, sie habe geheiratet, nein, noch genauer, ein portugiesischer Adliger habe sie endlich erobert, portugiesisch und adlig, das passte genau, denn es beschrieb, wie weit sie von uns fort war, verschwunden in irgendeinem Olymp.
Wir hatten sie also vergessen, nein, nicht vergessen, wir hatten sie aufgegeben und glaubten sie in sehr fernen Ländern, da tauchte sie wieder auf, unerwartet, und natürlich strafte sie alle Gerüchte Lügen, sie war nicht verheiratet und sie hatte nach dem kunsthistorischen Studium noch ein zweites Studium absolviert, Meeresbiologie, ausgerechnet nun das. In Neapel, am berühmtesten meeresbiologischen Institut des ganzen Landes, hatte sie ihren Doktor gemacht, und nun bewarb sie sich hier, in San Benedetto, um die Leitung des hiesigen Instituts, was soll ich sagen, sie machte das Rennen, wir hatten auch mit nichts anderem gerechnet, eine wie sie konnte man sich auf einem zweiten Platz doch nicht vorstellen, es war einfach unmöglich.
Nur eine Frage, ganz kurz, sagte ich und sprach rasch, um Carlo nicht allzu lange zu unterbrechen, das heißt, man hat ihr gegenüber Dottore Alberti den Vorzug gegeben?
O nein, antwortete Carlo, das doch nicht, Dottore Alberti ist einer der besten Meeresbiologen des ganzen Landes, eine Kapazität. Damals war er zweiter Direktor am Institut von Ancona und wartete darauf, der erste Direktor zu werden, in Ancona aber gab es die Regel, einen Mann aus den eigenen Reihen nicht zum Direktor zu wählen, man drängte, um sich nicht untreu zu werden, darauf, dass er für kurze Zeit woanders hingehen solle, deshalb wechselte er für einige Zeit hierher, nach San Benedetto. Diese Zeit ist wohl bald um, er wird nach Ancona zurückgehen und dort das werden, was er immer werden wollte, erster Direktor und Leiter aller Institute dieser Provinz, Sie verstehen?
Ich nickte, die Geschichte war interessanter, als ich vermutet hatte, immerhin erhielt ich durch sie einige Aufschlüsse über Zusammenhänge, die ich sonst nur mühsam herausgebracht hätte. Bevor Carlo aber weitererzählte, wurde der scorfano serviert, der gebratene Fisch war wirklich unter einer leicht angebräunten Kartoffelkruste aus sehr dünnen Scheiben verborgen, wir machten uns daran, sie zu zerteilen, Carlo hatte bereits die zweite Flasche bestellt, er rückte seinen Stuhl noch etwas näher an den Tisch, er beugte sich weit zu mir vor, jetzt würde er, da war ich sicher, die Pointe auftischen, eine Pointe, auf die er sich freute, etwas Überraschendes, das auch mich vielleicht sprachlos machen würde.
Eh, begann er beinahe hinterhältig langsam, Franca war also Direktorin hier in San Benedetto, und Gianni Alberti war auf dem Sprung, erster Direktor in Ancona zu werden, so standen die Dinge, und diese Konkurrenz hätte böse ausgehen können, beide entschärften jedoch den drohenden Streit und begruben jeglichen Neid dadurch, dass sie sich verlobten.
Ich hörte auf zu essen, ich glaubte an einen Scherz, Sie wollen sagen, sie hat sich mit ihm verlobt, mit Gianni Alberti, ausgerechnet mit ihm? Aber ja, sie hat sich mit ihm verlobt, und sie ist noch immer mit ihm verlobt, wussten Sie das nicht?
Ich legte die Gabel beiseite, ich horchte wieder hinaus auf das Meer, irgendwo hatte ich die Pescatori di perle auch einmal gehört, wo bloß war das gewesen? Ist Ihnen nicht gut, fragte Carlo, nein, antwortete ich, mir ist nicht gut, vielleicht habe ich in den letzten Tagen zu viel Fisch gegessen. Er schüttelte den Kopf, es schien ihm ausgezeichnet zu schmecken, er konnte nicht ahnen, wie seine Erzählung auf mich wirkte.
Carlo, sagte ich nach einer längeren Pause, warum erzählen Sie mir das alles? Er aß weiter, er zerlegte den Fisch in kleine Stücke und belegte sie mit Teilen der Kartoffelkruste, ich konnte nicht hinschauen, so kindlich kam es mir vor. Ich erzähle es Ihnen aus einem ganz einfachen Grund, sagte er und blickte dabei ununterbrochen auf seinen Teller, ich erzähle Ihnen die Geschichte der Dottoressa, um Sie zu warnen. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, nichts sonst, ich will nicht, dass Ihnen etwas zustößt. Sie dürfen sich der Dottoressa jedenfalls auf keinen Fall nähern, Sie dürfen nicht einmal den leisesten Verdacht in dieser Hinsicht erregen, sonst bekommen Sie es nicht nur mit Gianni Alberti und seiner Familie zu tun, sondern mit der männlichen Bevölkerung der halben Stadt.
Carlo, sagte ich, warum glauben Sie, dass ich versuchen könnte, mich ihr zu nähern? Eh, sagte er und wendete ein Fischstück in Öl, eh, Sie waren mit ihr allein in den Bergen, im Grunde ist das schon ein Schritt zu weit, Sie mit der Dottoressa allein, mit einer verlobten Frau, so etwas geht nicht, hier in San Benedetto gehört sich so etwas noch immer nicht.
Er sprach jetzt wie ein Lehrer, ganz stur, wie einer, der mir eine Lektion erteilen wollte, er war sich der Wirkung seiner Worte sehr bewusst, vielleicht machte er sich sogar ein Vergnügen daraus, den Sittenwächter zu spielen. Natürlich wusste er nichts Genaues, er hatte nur auf Verdacht hin geplaudert, solche Rituale, sagte ich mir, sind in Italien beliebt, Du kennst so etwas aus anderen Fällen. Wenn Du klein beigibst, dachte ich weiter, verlierst Du seine Achtung, das genau ist jetzt die Minute, in der Du Dich entscheidest, Du wirst nicht um die Sache herumreden, nicht in der Manier, die er Dir hier vorgibt, es geht nicht um die Ehre von San Benedetto oder etwas ähnlich überholt Traditionelles, es geht um etwas viel Elementareres und Einfacheres.
Ich danke Ihnen, Carlo, sagte ich und sah, dass er aufschaute, noch hatte er ein Gesicht, das zu seinem Überlegenheitsgefühl passte, ich danke Ihnen, aber es ist wohl zu spät, Ihre Warnungen können mich nicht mehr erreichen, denn es ist die große Liebe, Carlo, die große Liebe, nur und genau das.
Ich sah, wie er die Augen zusammenkniff, als sähe er in ein blendendes Licht, ich sah, dass er mir erst nicht glauben wollte, dann diesen Gedanken verwarf und plötzlich zu ahnen schien, was uns allen bevorstand.

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regrem патриот17.02.16 18:32
NEW 17.02.16 18:32 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 22.02.16 13:18 (regrem)
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ICH GING erst spät auf mein Zimmer, ich baute mein kleines Büro wieder auf und schaltete den Laptop ein, sein leises Summen gefiel mir anfangs, es schien mich zum Schreiben zu drängen, als habe das Gerät mitbekommen, dass ich unbedingt schreiben wollte. Ich wollte es, das war richtig, ich spürte geradezu ein Verlangen, etwas zu notieren, aber ich stockte, es wollte mir kein passender Einstieg gelingen. Bei jedem Beginn kam mir schon die Wortwahl verdächtig vor, ich griff zu sehr in die Vollen, ich wollte zu viel sagen, daher korrigierte ich mich und versuchte es einfacher, das aber hörte sich spröde an, als traute ich mich nicht, von meinen Gefühlen zu sprechen.
Eine Zeitlang hockte ich auf der Bettkante, ich war auf dem Sprung, ich zerkaute die Sätze, ich probte sie durch, ich wollte etwas Klares, Bestechendes aufschreiben, etwas, das mir wirklich half, die Situation zu durchschauen, aber was eigentlich? Im Grunde wusste ich bloß nicht, wie ich mit Carlos Nachricht umgehen sollte, ich konnte ihre Bedeutung nicht abschätzen, nie hätte ich geglaubt, dass Gianni Alberti für Franca eine Attraktion hätte sein können. Ich überlegte, ob er es vielleicht gewesen war, der sie während unseres abendlichen Aufenthalts in dem kleinen Bergdorf laufend angerufen hatte, er ist es gewesen, dachte ich, leicht erschrocken, er ist es bestimmt gewesen, aber was hast Du davon, dass Du es jetzt weißt? Plötzlich fiel mir auf, dass ich mich eingeschlossen hatte, ich hatte mich eingeschlossen, um mit mir ins Reine zu kommen, offensichtlich hatte ich erwartet, mich in diesem Hotelzimmer geradezu zwingen zu können, zu klaren Gedanken zu finden.
Ich stand auf und kehrte dem Laptop den Rücken, ich musste noch einmal hinaus, in diesem Zimmer hielt ich es nicht länger aus.
An Land hatte sich alles beruhigt, der Wind war kaum noch zu spüren, nur im Meer schien es weiter zu toben, die Wellen klatschten laut auf den Strand. Ich zog die Schuhe aus und ging einige Schritte hinein in die Gischt, was tust Du, dachte ich, irgendetwas, antwortete ich mir, ich tue etwas, um nicht weiter daran denken zu müssen. Die Wellen packten aber gleich energisch nach mir, meine Hose war bald durchnässt, ich machte ein paar Schritte zurück, zog sie aus und warf dann auch die andere Kleidung beiseite. Dann lief ich schnell hinein, es war, als legte ich es auf einen Kampf mit diesem tobenden Chaos an. Ich ließ mich fallen und wurde gleich zurückgeschleudert, eine starke Welle presste mich wie ein lose obenauf tanzendes Stück Holz vor sich her, ich ruderte nur noch hilflos mit den Armen, ich hatte die Kraft der Wogen völlig unterschätzt. Ich kniete mich hin, eine zweite Welle näherte sich aber und erwischte mich, bevor ich mich ganz aufgerichtet hatte, ich fiel zur Seite und geriet in einen nicht enden wollenden Strudel, dann kollerte ich wie bloßes Gerumpel an Land.
Weiter unterhalb war aus den Diskotheken am Strand noch laute Musik zu hören, ich starrte dorthin, während ich mich mit einem Hemd notdürftig trockenrieb. Ich sagte mir, dass ich mich verrannt hatte, ich war in eine Geschichte geraten, die mir letztlich ganz fremd war, noch war aber Zeit, ihr zu entkommen, ich brauchte bloß den nächsten Zug nach München zu nehmen. Dann zwängte ich mich in die nasse Kleidung und schlich zurück ins Hotel, zum Glück war die Rezeption längst geschlossen, so dass ich ungesehen mein Zimmer erreichte.
Ich duschte und kleidete mich neu an, ich setzte mich noch einmal an den Laptop, Rudolf hatte mir eine Mail geschrieben, ich öffnete sie und begann zu lesen. Es war ein langer Text, und er wirkte auf mich wie ein Narkotikum, Schritt für Schritt versuchte Rudolf, mir den Unsinn der Liebe vor Augen zu führen, einiges erinnerte mich an die mürrische Gereiztheit, die mich früher bei diesem Thema jedes Mal selbst überfallen hatte. Ein Mann auf die Vierzig zu machte sich lächerlich, wenn er die Liebe nicht exakt als das durchschaute, was sie war, ganz so direkt hatte Rudolf seine Botschaft nicht formuliert, mehrfach war von Neuro-peptiden und emotionalen Systemen die Rede, ich hätte wissen müssen, dass Liebe der Anbahnungszustand der arterhaltenden Partnerwahl war, nichts anderes also als ein vorübergehender biologisch erfassbarer Zustand, eine Art Gemütsverschiebung, die die Welt ausblendete, um alles Interesse und alle Neigung auf die eine Auserkorene zu richten, Verbundenheitsgefühle, Gefühle von großer Nähe, ja sogar von Verschmelzung waren nichts anderes als Ergebnisse eines Hormonüberschwangs.
Ich las den Text ganz gelassen, ich wunderte mich nur darüber, wie ausführlich Rudolf auf alle Symptome einging, er hörte nicht auf, bis er alles durchdekliniert hatte, Besessenheit, Eifersucht, die Furcht, zurückgewiesen zu werden, die Sucht zu gefallen, das Streben danach, den anderen nur für
sich zu haben, ihn zu besitzen, das Ganze stand dort und las sich wie ein Krankheitsbild, sehr detailliert, ich konnte nicht einmal behaupten, dass es nicht stimmte. Jahrelang war es in unseren Kreisen Mode gewesen, sich zu verlieben, immer wieder hatten wir einen der Freunde bei diesem Gebaren erwischt, verschwommenes Reden, Apathie mit träumerischen Akzenten, dazu eine gewisse Weichheit und Nachgiebigkeit sowie das Ignorieren der Zeit, im Grunde spielte nichts mehr eine Rolle außer dem Reden darüber, dass dem ebenso war. In den letzten Jahren hatte auch ich mich oft darüber lustig gemacht, wir hatten den ewig gleichen Ablauf dieser Prozesse einfach nicht mehr ertragen können, schließlich war doch sehr leicht zu durchschauen, was vor sich ging, ja, sagte ich, als ich daran dachte, ja, es ist klar, schon gut, ist doch klar, wusste aber sofort, dass diese Erklärungen mich nicht erreichten.
Erst Carlo, jetzt Rudolf, von allen Seiten wurde ich also gewarnt, Du warst längst über so etwas hinweg, hatte Rudolf zum Schluss sogar geschrieben, als redete er voller Mitleid mit einem Kind, ich konnte nur nicken, ich war über das alles hinweg gewesen, jetzt hatte es mich aber ereilt, vielleicht und sehr wahrscheinlich zum letzten Mal in meinem Leben.
Ich löschte die Mail, ich schaltete den Laptop ab, ich wollte mir jetzt einfach keine Gedanken mehr machen, sondern abwarten, was morgen geschah. Morgen, morgen, flüsterte ich leise, als spräche ich mit jemand in der Ferne, dann zog ich mich rasch aus und legte mich zu Bett. Eine Zeitlang glaubte ich, die Wellen noch rauschen zu hören, dann schlugen die versprengten, starken Geräusche zu einem einzigen Klang zusammen, Ur-Ton, dachte ich noch und regte mich nicht mehr, Ur-Ton, ein letztes Mal, dann glaubte ich, auf dem Rücken zu treiben, immer ruhiger, still, endlich schlief ich ein.

#17 
regrem патриот17.02.16 18:33
NEW 17.02.16 18:33 
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Als ICH am Morgen ins Hotelfoyer kam, bedeutete mir Carlo mit einer einzigen, kurzen Geste seines Kopfes, dass jemand draußen, im kleinen Vorhof des Hotels, auf mich wartete. Einen Moment dachte ich, es könnte sich um Rudolf handeln, ich ging auch beinahe angriffslustig zur Tür, blieb dort aber sofort stehen, als ich sie an einem der runden, grünen Tische sitzen sah. Sie saß dort mit dem Rücken zu mir, das lange, im Sonnenlicht noch rötlicher als sonst scheinende Haar hing weit über die Stuhllehne, sie hatte das linke Bein über das rechte geschlagen und blätterte langsam in einer Morgenzeitung, Seite um Seite umschlagend, als habe sie nicht ernsthaft vor, darin zu lesen.
Ich blieb beinahe erschrocken stehen, so schnell hatte ich nicht mit einer Begegnung gerechnet, ich schaute mich nach Carlo um, als könnte er mir jetzt helfen, Carlo aber stand weit hinten im Raum, im Dunkel der Hotelbar, er hatte mich beobachtet, das war zu erkennen, jetzt aber hob er nur beide Schultern, als wollte er mir signalisieren, dass ihm auch nichts Passendes einfalle. Ich drehte mich wieder um und betrachtete sie, sie trug ein weißes, langes Kleid mit blauem Gürtel, dazu leichte Sandalen mit ockerfarbenen, sehr dünnen Riemen, zum ersten Mal sah ich, wie tief gebräunt ihre Haut war, eine Sonnenbrille lag auf dem Tisch. Am liebsten wäre ich wieder hinauf auf mein Zimmer gegangen, um diesen Anblick von oben zu filmen, es war ein einfaches, aber vollkommenes Bild, das Weiß ihres Kleides wirkte in Verbindung mit der minimalen Blau-Andeutung des Gürtels wie ein starker Akzent gegen das dunkle Grün der Tische und Stühle, die zahlreichen Palmwedel bildeten mit ihren laufend wechselnden Hell-Dunkel-Reflexen so etwas wie eine Kulisse, während gegenüber, auf der anderen Seite des Boulevards, das blasse Aquarellblau des Meeres auftauchte, wie eine Antwort auf ihre Kleidung.
Ich stand noch immer in der Tür, als sie sich umdrehte, sie erkannte mich sofort und legte die Zeitung zur Seite, dann sprang sie beinahe auf, da bist Du, hörte ich sie rufen, es klang etwas lauter und höher als sonst. Ich ging auf sie zu, ich überlegte wahrhaftig kurz, ob ich sie küssen sollte, nein, sagte ich mir, doch nicht hier, jetzt nicht und vor allem nicht hier, ich gab ihr nur die Hand, und sie gab mir die ihre, während sie mit der Linken noch zusätzlich meinen Oberarm leicht berührte. Sie wirkte sehr frisch und beinahe schwungvoll, als freute sie sich auf eine Reise oder sonst einen Aufbruch, ich wollte Dich sehen, noch vor dem Frühstück, sagte sie, Du hast doch nicht etwa bereits gefrühstückt? Nein, antwortete ich, habe ich nicht, gut, sagte sie, dann komm, wir frühstücken nebenan in der Bar, hier ist es zu laut und zu voll. Wir verließen den Vorhof, ich dachte darüber nach, was sie wohl meinte, es war weder zu laut noch zu voll, sie hatte sich angewöhnt, mich beiseite zu führen, vielleicht, dachte ich, will sie hier nicht mit Dir gesehen werden, vielleicht ist sie aus diesem Grund mit Dir auch in das Bergnest gefahren. Wir gingen dicht nebeneinander, es hätte nur einer kleinen Überwindung bedurft, den Arm um ihre Schulter oder die Hüfte zu legen, tu es, sagte eine Stimme in mir, so tu es doch endlich, aber so früh am Morgen war ich dazu einfach noch nicht in der Lage.
Die Bar befand sich an dem breiten Boulevard kaum hundert Meter vom Hotel entfernt, sie ging rasch hinein und begrüßte die schwarzhaarige Frau hinter der Theke, das ist Carla, sagte sie, zu mir gewandt, wir kennen uns seit ewigen Zeiten, nicht wahr, Carla?, und das ist Giovanni, ein Freund aus München. Carla reichte mir über die Theke die Hand, sie musterte mich dabei genau, ich war schlecht vorbereitet auf einen so prüfenden Blick, ich trug eine dunkelblaue Hose und ein weißes T-Shirt, dazu meine einfachen, schon etwas abgetragenen Turnschuhe. Mich selbst hätte das alles nicht weiter gestört, wenn ich nicht meine blasse Haut in einem der großen Spiegel hinter der Theke bemerkt hätte, neben Franca wirkte eine solche Blässe beschämend, ich schaute sofort weg, als ich ihr dunkles Braun zum zweiten Mal an diesem Morgen gewahr wurde.
Sie bestellte für jeden von uns einen Cappuccino und ein Cornetto, dann lud sie mich mit einer kurzen Geste nach draußen, setzen wir uns doch vor die Tür, Carla bringt uns das Frühstück. Draußen rückte sie zwei Stühle zurecht, sie platzierte sie eng nebeneinander, wir konnten auf den breiten Boulevard schauen und weiter aufs Meer. Wir setzten uns, wir schwiegen einen Moment, sie schaute mich an, ich versuchte etwas zu lächeln, dauernd hatte ich das Gefühl, als müsste sie mir anmerken, wie ich die Nacht verbracht hatte, in ewigen Skrupeln, mit tausend Gedanken und sogar dem der sofortigen Abreise beschäftigt. Jetzt aber, neben ihr in der morgendlichen Sonne, zerstreuten sich wie von selbst die Bedenken, am liebsten hätte ich ihr gesagt, wie wohltuend das war.
Das kleine Frühstück wurde serviert, wir blickten beinahe zugleich zu Carla auf, die alles noch einmal benannte, einen Cappuccino und einen zweiten, ein Cornetto, bitte sehr, und ein zweites, Carla hatte diese typisch südliche Vorliebe für Rhetorik, anscheinend liebte sie das Litanei hafte und setzte es gerne spielerisch ein. Ich trank einen Schluck, ich sagte etwas darüber, wie sehr ich es am Morgen genoss, einen und wenig später einen zweiten Cappuccino zu trinken, ich hoffte, dass Franca meine leichte Verlegenheit nicht bemerkte, ich sprach davon, wie belebend ein Cappuccino sein konnte und wie der starke Kaffee sich auf dem Weg über die aufgeschäumte Milch in den Mund schlich, ich erstaunte selbst, wie poetisch und beredt ich plötzlich wurde, ich ertrug unser Schweigen nicht, das steckte dahinter. Sie hörte mir zu und lehnte den Kopf ein wenig zurück, gegen die Hauswand, wir saßen jetzt ganz dicht nebeneinander, als hätten wir soeben unser gemeinsames Hotelzimmer verlassen, nach einer wilden Nacht, dachte ich und nahm einen zweiten, größeren Schluck. Sie trank aber noch nicht, sie hob nur den Arm und legte ihn beiläufig auf die Lehne meines Stuhls, ein Passant hätte denken können, sie umarmte mich jetzt, so eindeutig erschien diese Geste.
Ich wusste, dass sie bald etwas sagen würde, ich trank meine Tasse leer und wartete, du weißt, sagte sie dann, ich muss gleich ins Institut, am Nachmittag möchte ich dich aber mitnehmen zu einer Messstation weiter nördlich. Ich schaute sie an, ich wollte genau mitbekommen, wie sie nun loslegte, es war nicht zu glauben, wie aufgedreht und entschlossen sie wirkte, als könnte sie nichts davon abbringen, mit mir am Nachmittag zu dieser Untersuchungsstation zu fahren. Sie schilderte knapp, was mich dort erwartete, anscheinend konnte es sich für mich lohnen, die Arbeit dieser Station kennenzulernen, ich konnte den Blick gar nicht von ihr abwenden, so begeistert sprach sie von dem, was ich dort sehen würde.
Ich nickte nicht, ich reagierte überhaupt nicht, sie hatte längst alles geplant, wir fahren Fünfzehn Uhr drei mit dem Regionalzug, sagte sie, ich hasse Autofahren, und außerdem kommen wir mit dem Auto auf der Küstenstraße nur sehr langsam voran. Während sie so feste Verabredungen traf, erinnerte ich mich an ihr Wort von der »Außenvisite«, anscheinend handelte es sich jetzt genau darum, der Besuch der Messstation weiter nördlich war doch wohl eine »Außenvisite«, wieso wollte sie mich nun aber begleiten, wo sie das vor einigen Tagen noch als Aufgabe von Dottore Alberti angesehen hatte? Ich dachte also »Außenvisite«, ich bekam das Wort nicht aus dem Kopf, ich dachte »Außenvisite« und Dottore Alberti, und plötzlich war nicht nur dieser Name, sondern auch Albertis Gestalt wieder da, es reizte mich geradezu, diesen Namen ins Spiel zu bringen.
Wird Dottore Alberti uns zu dieser Außenvisite begleiten? fragte ich, ich musste die Frage stellen, sie hatte mit den Überlegungen und Quälereien der letzten Nacht zu tun, ich konnte es ihr nicht ersparen. Sie reagierte nicht, sie stockte nicht eine Sekunde, nein, antwortete sie, Dottore Alberti ist im Aufbruch nach Ancona, er übernimmt dort in knapp einem Monat die Stelle des ersten Direktors. Im Aufbruch nach Ancona, was bedeutete das?, es hörte sich so selbstverständlich und elegant an, im Aufbrach, nach Ancona, ich zerlegte den Satz noch einmal im stillen, ich überflog ihn, zwei-, dreimal, aber ich kam damit nicht weiter.
Er ist ein As, Dottore Alberti, nicht wahr? fragte ich nach, ich musste leicht grinsen, als ich eine Spur von Rachsucht verspürte, ich konnte es ihr nicht einfacher machen, ich wollte, dass sie das Thema nicht so unberührt hinter sich ließ. Ja, antwortete sie aber nur und wiederum schnell, ja, er ist ein As, woher weißt du so etwas? Ich weiß es von Carlo, sagte ich, er hat mir gestern Abend von Dottore Alberti erzählt.
Sie antwortete nicht mehr sofort, sie war plötzlich erstarrt, ich beobachtete sie dabei, wie sie das Cornetto auf die Tasse legte und ein paar Krumen zusammenstrich. Einen langen Moment wurde es vollkommen still, ich spürte es bis in die Poren, es war eine bedrückende Stille, dabei zogen längst die ersten Familien mit all ihrem Strandgepäck über den Boulevard hinüber zum Meer. Ich hörte sie aber nicht, ich hörte gar nichts, es war ein wenig wie das Tauchen in einiger Tiefe, nur dass die Lautlosigkeit jetzt lahmte. Sie holte kurz Luft, ich zuckte beinahe zusammen, dann sagte sie, Gianni Alberti ist im Grunde kein Meeresbiologe, er ist Physiker, Mathematiker, er ist blendend in der Analyse, und er ist sehr schnell, weißt Du? Er ist hier geboren, nicht wahr? fragte ich ganz nüchtern zurück. Ja, antwortete sie, ich kenne ihn seit meiner Kindheit. Ich trank aus, ihr Zögern und Ausweichen war mir nicht recht, ich wollte hören, dass sie von der Verlobung sprach, warum machte sie ausgerechnet darum einen so weiten Bogen? Ich blickte zur Seite, ich schaute sie direkt an, ich versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu wirken, dann sagte ich, es hat mich erstaunt, dass Du mit ihm verlobt bist.
Sie schaute zurück, ebenfalls ganz direkt, sie lächelte nun wirklich, das weißt Du also auch? sagte sie. Seit gestern Abend, sagte ich, ah, murmelte sie, seit gestern Abend. Sie schaute mich weiter an, sie ließ nicht von mir ab mit diesem Blick und dem leichten Lächeln, ich ahnte, dass sie jetzt darüber nachdachte, dass ich das alles seit gestern wusste, sie überlegte, was das bedeutete, ich sah, wie sie im Stillen alle Möglichkeiten durchging, es musste anstrengend, aber auch eine Kunst sein, den sich jagenden Gedanken mit so scheinbarer Ruhe zu folgen.
Ich tat aber nichts, ich schwieg nur und wartete, hätte sie jetzt mit den Schultern gezuckt und sich zur Seite gewandt, wäre ich aufgestanden und vielleicht aus Enttäuschung sofort gegangen, ich gehe, dachte ich sogar bereits, ich gehe, hörst Du?, wenn Dir jetzt nichts einfällt, gehe ich wirklich. Sie beendete aber ihr Zögern mit etwas, das ich nicht erwartet hätte, plötzlich nahm sie meine Hand in die ihre, sie hielt meine Hand, sie fuhr mit ihren Fingern langsam die Verzweigung der Adern entlang, zu meinem letzten Satz aber sagte sie nichts, nicht ein einziges Wort.
Ich hielt still, ich war von ihrer Geste völlig überrascht, ich schaute ihr mit leicht geöffnetem Mund zu, wie sie die Fingerkuppen über meine Hand gleiten ließ, es hatte etwas Beruhigendes, aber auch Kindliches, einen Augenblick dachte ich, sie will Dich trösten. Es tat mir leid, von Gianni Alberti gesprochen zu haben, ich hatte sie in große Verlegenheit gebracht, anscheinend wollte sie ja um keinen Preis über ihn reden, ich hatte es aber erzwingen wollen, ich hatte sie zu erpressen versucht. Ich beugte mich etwas zu ihr vor, ich sah, was ich angerichtet hatte, der schöne Schwung und die Begeisterung von vorhin in der Eingangshalle des Hotels waren verflogen. Ich räusperte mich, ich nahm nun von mir aus ihre Hand, ich sagte, wir fahren also um Fünfzehn Uhr drei. Ja, antwortete sie und schreckte etwas hoch, komm bitte direkt zum Bahnhof, Du brauchst keine Fahrkarte, Du reist einfach mit mir, auf Instituts kosten.
Sie stand auf, sie versuchte, so sicher wie anfangs zu lachen, sie fragte, was wirst Du tun, bis Fünfzehn Uhr drei? Ich werde mich vorbereiten, sagte ich, ich setze mich an den Strand und studiere mein meeresbiologisches Fachbuch, Fauna und Flora des Mittelmeerraumes, Kapitel Sechs, Lebensräume und Lebensgemeinschaften, Abschnitt drei, Beobachtungen und Experimente zur Lebensweise von Sedimentbewohnern. Ach nein, rief sie, lass das, ich erkläre Dir alles viel besser und auch genauer, Du verstehst es sofort. Sie beugte sich zu mir herab, sie gab mir einen ihrer flüchtigen Freundschaftsküsse, sie winkte wieder kurz mit der Rechten, dann ging sie ein paar Schritte zu ihrem Fahrrad und stieg sofort auf, Fünfzehn Uhr drei!, rief sie, und noch einmal: Fünfzehn Uhr drei!, es hörte sich an wie ein Signal.
Ich blieb noch einen Augenblick sitzen, ich starrte auf den Teller mit den nicht aufgezehrten Cornetti, dass sie nicht über Alberti reden wollte, musste ich hinnehmen, ich hatte kein Recht, von ihr eine genauere Auskunft zu verlangen. Ich stand auf, vor Erleichterung begann ich plötzlich zu pfeifen, ich pfiff etwas vor mich hin, ich schlenderte langsam zum Hotel zurück. Willst Du wahrhaftig zum Strand? fragte ich mich und antwortete gleich, natürlich nicht, niemand bringt mich jetzt an den Strand, um unfreiwilliger Zeuge all der dortigen Morgenrituale zu werden. Ich betrat das Hotelfoyer, es hatte sich längst geleert und Scharen von Gästen Richtung Strand ausgespuckt, nur Carlo stand noch hinter der Theke der kleinen Bar und sammelte Kaffeetassen in der Spüle. Als er mich erkannte, grinste er, Sie sehen ja ganz mitgenommen aus. Tue ich das? entgegnete ich. Was war denn, fragte er, was war denn mit ihr, was wollte sie denn so früh schon von Ihnen? Eh, sagte ich und ahmte seinen Tonfall unabsichtlich nach, eh, sie wollte frühstücken mit mir. Unangemeldet? fragte er schnell. Ganz und gar unangemeldet, sagte ich und bemerkte, dass ich seinen Tonfall sehr gut beherrschte. Dann ist es Liebe, sagte er und setzte hinzu, als bedürfe es für diese Mitteilung auch einer besonderen Feierlichkeit, dann glaube ich beinahe, dass Franca Sie wirklich liebt.
Ach was, rief ich, hören Sie auf!, jetzt hören Sie aber auf! Carlo hob beide Hände, als wollte er die Waffen strecken, dann fragte er, was haben Sie vor, haben Sie Lust, mich auf den Markt zu begleiten, heute ist großer Markttag, ich werde Fisch einkaufen und noch dies und das für die Küche. Ich drehte mich um, ich schaute noch einmal zum Meer, ich überlegte, ob es nicht doch besser wäre, die Stunden völlig reglos am Strand zu verbringen, um zumindest zu versuchen, etwas Klarheit in den erhitzten Kopf zu bekommen. Überlegen Sie nicht so lange, sagte Carlo, kommen Sie mit mir, ich sage Ihnen, es ist besser für Sie. Gut, sagte ich schließlich, wann brechen Sie auf? In zehn bis fünfzehn Minuten, antwortete er, wir nehmen den Lieferwagen, ich fahre damit draußen vor.
Ich nickte kurz, dann ging ich auf mein Zimmer, um meinen Rucksack und einige Utensilien zu holen. Als ich wieder im Hotelvorhof ankam, erkannte ich, dass der Tisch, an dem sie auf mich gewartet hatte, noch genauso dastand wie vor knapp einer Stunde. Ich nahm Platz, ihre Zeitung lag noch zusammengerollt auf der Tischplatte, daneben entdeckte ich ihre Sonnenbrille, sie hatte sie anscheinend vergessen. Ich zog sie an, sie passte genau, ich begann, Seite für Seite umzuschlagen, ich hatte nicht ernsthaft vor, in ihr lange zu lesen.

#18 
regrem патриот17.02.16 18:33
NEW 17.02.16 18:33 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 22.02.16 13:20 (regrem)
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DER MARKT von San Benedetto war viel größer, als ich erwartet hatte, mit all seinen bunten Ständen und Verkaufsbuden füllte er die halbe Innenstadt. Er schloss an die kleine Gemüse- und Fischmarkthalle an, er belegte einen weiten Platz, auf dem sonst die blauen Busse in die Umgebung abfuhren, und er zog sich dann weiter durch einige der parallel verlaufenden Straßen, so dass kaum noch ein Durchkommen war. Carlo durchstreifte mit mir den zentralen Platz, es gab Stände mit Kleidung und Schuhen, mit Küchengeräten und sogar mit Möbeln, Carlo zeigte mir, wo ich einkaufen könnte, zu besonders günstigen Preisen. Wir taxierten und schauten, gingen aber recht rasch, ich konnte ihm oft nur mit Mühe folgen, das Gedränge in den schmalen Gängen zwischen den Ständen war groß, erst in der Fischmarkthalle verweilte er länger.
Die frische Ware wurde immer wieder mit Wasser besprengt, die silbernen und weißgrauen Leiber glänzten im tief hängenden Licht der Verkaufsstände, ich sah Aale, Sardinen und Tintenfische, auf dem zerstoßenen Eis einer Kiste war ein einzelner Rochen drapiert, der lange kräftige Schwanz stemmte das ganze Gewicht, die winzigen Bauchflossen stützten den sich aufreckenden rautenförmigen Körper, ich starrte auf die weißen Hautfalten des Bauches, unter denen sich ein großes Loch auftat, aus dem die blutigen Innereien hervorschauten. Carlo verhandelte, aber ich hörte nicht zu, ich konnte den Blick nicht von den Fischen abwenden, manche bereits enthäutete Leiber hatten nichts mehr von der früheren Fischgestalt und erschienen wie feine rot rosa Farbstreifen, die sich als bloße Dekoration von Kiste zu Kiste wölbten, während die Sardinen in Lagen ausgerichtet waren, winzige Todeskompanien mit einem erschreckenden Weiß in den Augen. Carlo deutete immer wieder auf die einzelnen Arten, er nannte die Namen, er erklärte, woran der Frischezustand zu erkennen sei, mit knappen Worten kaufte er ein, der Moment, in dem die Ware in das wasserundurchlässige Papier eingeschlagen wurde, gefiel mir besonders. Ich holte die kleine Digital-Kamera hervor, ich trat etwas zur Seite, um Carlos Einkauf aus einiger Entfernung zu filmen, da erkannte ich plötzlich, recht weit noch entfernt, aber doch deutlich im Hintergrund der Szene, Gianni Alberti.
Er trug ein blaues, sehr enganliegendes Strickhemd mit kurzen Ärmeln, ein goldenes Emblem schmückte die rechte Seite, seine schmalen Arme waren dunkel gebräunt und wirkten wie die muskulösen Arme eines erfahrenen Seglers. Er trug eine große Einkaufstasche aus Korb, er hatte den genießerischen, schlendernden, immer wieder verweilenden Gang in die Jahre gekommener Männer, die sich etwas leisten konnten. Ich machte einige Schritte zurück, hin zur Wand, Carlo stutzte und kam zu mir, er hatte Gianni Alberti nicht bemerkt, er war zu sehr mit seinen Einkäufen beschäftigt. Ich möchte Ihnen nicht mehr zur Last fallen, sagte ich, lassen Sie mich ruhig hier etwas filmen, ich möchte Sie nicht aufhalten. Er betrachtete mich einen Moment wieder mit seinem abwägenden, skeptischen Blick, immer wenn er mich so anschaute, kam ich mir wie der Junge vor, der sich einer Prüfung des Älteren ausgesetzt sah. Kommen Sie heute Mittag zum Essen? fragte er. Nein, antwortete ich, ich werde hier essen, hier auf dem Markt. Er wollte sich von mir trennen, da beugte ich mich noch einmal zu ihm herunter, ich führte meinen Mund ganz dicht an sein Ohr, dann fragte ich, nur noch eins, Carlo, wohnen die Dottoressa und Gianni Alberti zusammen? Er blickte mich irritiert und stirnrunzelnd an, dann sagte er, so laut, als wolle er demonstrieren, dass es nichts zu verschweigen gab: Vor der Heirat zusammen?, wo denken Sie hin?, er wohnt noch bei seinen Eltern, und sie, einen Augenblick, ja, wo wohnt sie eigentlich, eh, ich weiß nicht, wo sie wohnt, so etwas weiß man von ihr eben nicht. Ich beugte mich wieder zu ihm und flüsterte, als gehe es um ein großes Geheimnis, danke, Carlo, Sie haben mir sehr geholfen. Mein Flüstern behagte ihm nicht, er bekam etwas leicht Gereiztes und antwortete: Nehmen Sie sich in acht, ich bitte Sie! Um ihn zu beruhigen, berührte ich ihn sacht an der Schulter, er machte eine kurze schroffe Bewegung, dann verschwand er im Einkaufs Getümmel.
Ich schaute ihm nicht hinterher, ich fixierte den Hintergrund, Gianni Alberti stand vor einem Gemüsestand und hielt einen kleinen Strauß Zucchiniblüten in der Hand, er beäugte sie, er sprach mit dem Verkäufer, wahrscheinlich gelang es ihm spielend, aus Zucchiniblüten ein Thema zu machen. Ich näherte mich ihm auf wenige Meter und postierte mich seitwärts, hinter einer langen Flanke von Ständen, so konnte ich ihm folgen, ohne dass er mich bemerkte. Ich schaltete die Kamera wieder ein, ich führte sie ganz leicht in der Rechten, ich wollte versuchen, Albertis Streifzug über den Markt von San Benedetto in kurzen Sequenzen zu filmen.
Sein Gang war beinahe feierlich-schwer, er legte keinen Wert darauf, voranzukommen, anscheinend hatte er vor, sich ein wenig treiben zu lassen, jedenfalls musterte er die Umgebung so, als überlegte er sich jedes Mal von neuem, ob er etwas kaufen sollte. Dabei bezog er die kleinen Geschäfte rings um den Markt mit in seine Aufmerksamkeit ein, er blieb vor einem Hut Laden stehen und betrachtete die Ausläge, an einem Marktstand mit Krawatten ließ er fast ein Dutzend durch seine Finger gleiten, er wich in einen Tabakladen aus und erschien mit einer Packung Toscanelli, in einer Eckbar trank er einen Kaffee und unterhielt sich mit zwei Männern, er kannte sie aber anscheinend nur flüchtig.
Schnitt, dachte ich immer wieder, Schnitt, ich drehte seinen Gang in Sequenzen von genau zehn Sekunden, es war nicht leicht, ihm so geschmeidig zu folgen, außerdem musste ich auf der Hut sein. Als er die Eckbar verließ, hatte er eine Toscanelli im Mund, sieh mal an, sagte ich, er raucht, rauchen hatte ich ihm nicht zugetraut und erst recht nicht das Rauchen von Toscanelli, ich hatte Mühe, ihn mit dem Dottore Alberti, den ich im Museum kennengelernt hatte, zur Deckung zu bringen, hier auf dem Markt gefiel er mir besser.
Er behielt die Zigarre im Mund, er bewegte sie je nach Rauchausstoß hin und her, er war darin nicht nur geübt, es bereitete ihm sogar sichtlich Vergnügen. In der Nähe des Fischmarkts begrüßte er einen Schuhhändler, ich sah, wie der Mann in seinem Lieferwagen verschwand und mit einem Karton wieder erschien, anscheinend hatte er für Alberti ein besonders rares Paar Schuhe zurückgelegt, der Händler stellte es direkt vor ihn hin auf das Pflaster, Alberti lächelte und entledigte sich rasch seiner Schuhe, um in das neue, glänzende Paar zu schlüpfen. Einen Moment drehte er sich wie ein Geck vor einem auf dem Boden stehenden Spiegel, dann klatschte er theatralisch mit beiden Händen, ich konnte nicht weiterfilmen, so verhasst war er mir nun wiederum.
Ich fragte, was es war, das mich so schwanken ließ, sympathisch war er mir, wenn er ganz unauffällig in der Menge verschwand und nichts anderes darstellte als einen einkaufenden Mann in mittleren Jahren, diese Rolle spielte er jedoch nicht konsequent, vor allem in Gesellschaft zeigte er Attitüden und gab das Einzelkind, das man auf teure Schulen geschickt hatte. Er behielt die neuen Schuhe gleich an, er bezahlte mit einem einzigen Schein und steckte das Wechselgeld beiläufig in die Hosentasche, an einem Grillstand ließ er sich eine Scheibe Spanferkelfleisch abschneiden, er hielt sie mit zwei Fingern, drehte sie vor seinen Augen, ging leicht in die Knie und schnappte danach mit dem Mund. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, die kleinen Papierservietten wehrte er ab, ich hörte ihn schnalzen, mit dem Nagel des kleinen Fingers versuchte er, eine Fleischfaser zwischen den Zähnen hervorzupulen, er war durstig geworden und unternahm auch sofort etwas dagegen, in einer Bar ließ er sich Wasser reichen und bestellte ein Glas Prosecco.
So wie er jetzt dastand, in einer Ecke der Bar, auf sich bezogen und nachdenklich, war er mir wieder angenehm, ich erkannte den analytischen Menschen, der nicht aufhören wollte, an ein und dieselbe Sache zu denken. In solchen Momenten erschien er mir jünger und umgänglicher, ich konnte ihn mir dann leise redend vorstellen, zögernd auch, sich von einem Gedanken zum ändern vortastend. Er ist auf dem Sprung nach Ancona, so hatte Franca noch vor wenigen Stunden von ihm gesprochen, und genau diesen Eindruck machte er, den Eindruck eines Mannes, der nur noch zu Besuch da war, auf dem Sprung nach Ancona.
Als er an seinem Glas nippte, überlegte ich, ob ich nicht zu ihm hineingehen sollte, ich hatte Lust, mich mit diesem Mann kurz zu unterhalten, wenn es Franca nicht gegeben hätte, hätte ich es auch sofort getan. Ich selbst hatte jetzt ebenfalls Durst und auch etwas Hunger, es wäre ein Vergnügen gewesen, mit ihm über den Markt zu schlendern, hier ein Stück Wurst und dort ein paar schwarze Oliven zu essen, die Lebensmittel verführten auf diesem Markt, sie sofort zu verzehren, man hatte Lust, sie zu betasten und dann gleich zu essen, das eine ging hier mühelos über ins andere, überall bewegten sich Menschen, die kauten und aßen und gleichzeitig einkauften, alle Momente des Konsums spielten zusammen, wobei die sinnlicheren dominierten.
Ich schaute zu, wie er trank, ich spürte wieder die enorme Versuchung, mit ihm ein paar Worte zu wechseln, und überlegte, wie ich eine Begegnung herbeiführen könnte, wo war es günstig, wo behielt ich das Heft in der Hand? Am besten wäre es, dachte ich weiter, wenn wir uns in der Mitte eines schmalen Gangs zwischen den Ständen wie zufällig über den Weg liefen, eine solche Begegnung würde ihn nicht weiter wundern, und wir könnten uns nach einem kurzen Gespräch leicht wieder trennen.
Er ließ sich etwas Zeit, er trank das Glas genießerisch langsam aus und blickte in den Pausen fast unausgesetzt auf einen einzigen Punkt auf dem Boden, als malte er sich etwas aus. Als ich sah, wie er sich davon losmachte, schlich ich davon, ich begleitete ihn einige Schritte in einem parallel verlaufenden Gang, dann bog ich um die Ecke und ging geradewegs auf ihn zu. Ich schaute zur Seite, als musterte ich die Auslagen der Stände, ich schritt ihm entgegen, vielleicht hatte er mich schon gesehen, ich hatte beinahe das Gefühl, wie in einem Western zu einem Duell anzutreten, nur dass ich statt der Pistole in der Rechten die Kamera hielt. Ich behielt meine Blickrichtung bei, ich schaute weiter zur Seite, ich wollte nicht als erster von uns auf den anderen aufmerksam werden, als ich sein buon giorno hörte. Ich schaute zu ihm hin, ich tat erstaunt und als überlegte ich kurz, wen ich vor mir hatte, da stellte er sich auch schon vor, Dottore Alberti, Gianni Alberti, wir sind uns neulich im Museum begegnet. Entschuldigen Sie, antwortete ich, ich habe Sie nicht sofort erkannt, Sie haben sich seit unserer Begegnung verändert.
Er ging nicht auf meine Bemerkung ein, er wurde etwas steif und auch förmlich, es gelang ihm nicht, einen zur Umgebung passenden lockeren Ton zu finden, stattdessen fragte er, ob ich mit meiner Arbeit vorangekommen sei. Ich bin, antwortete ich, im Gespräch mit der Dottoressa, das Projekt nimmt Konturen an. Inwiefern? fragte er, ich hatte mit einem solchen Nachhaken nicht gerechnet, ich entwickle gerade ein Konzept für die Außenaufnahmen, antwortete ich, ich sprach entschieden und sicher, ihm konnte nicht auffallen, dass sein Fragen mich überrascht hatte. Darf ich Sie zu einem Glas einladen, Dottore? machte ich weiter, ich sah, wie er sich etwas streckte, die ganze Zeit musste er zu mir aufschauen, meine Frage hatte ihn an etwas erinnert, es war ihm anzumerken, dass er das Gespräch beenden wollte, tut mir leid, sagte er, ein andermal, ich bin auf dem Sprung, ich werde am Nachmittag in Ancona erwartet.
Ich lächelte freundlich, aber ich wollte ihm die kleine Angeberei nicht durchgehen lassen, außerdem ärgerte mich sein »ich bin auf dem Sprung«, er hatte kein Recht, diese Wendung zu benutzen, diese Wendung war für Franca und mich reserviert. Sie haben rasch noch etwas eingekauft, für Ihre Lieben? fragte ich und lächelte weiter, ich sah, dass ich ihn aufhielt, er wollte davon, anscheinend fand er es auch unpassend, nach seinen Einkäufen gefragt zu werden, ich erledige das Notwendigste für meine Eltern, antwortete er schnell. Armer Bub, Sie armer Bub! hätte ich am liebsten laut gerufen und ihm übers Haar gestreichelt, aber ich sagte nur, sprechen wir uns noch einmal, was meinen Sie? Bis Sonntagabend bin ich in Ancona, antwortete er, ich habe das ganze Wochenende zu tun, am Montag stehe ich Ihnen im Museum gern zur Verfügung. Ich sagte, dass ich mich melden werde, dann verabschiedeten wir uns, er ging sehr rasch davon, ich blieb noch dort stehen, wo ich mit ihm gesprochen hatte, ich wollte so tun, als setzte ich meine Marktbesichtigungstour fort.
Ich hielt die Kamera weiter in der Rechten, ich stierte etwas benommen auf die Auslagen, Gianni Alberti war also wirklich ganz konkret auf dem Sprung nach Ancona, er hatte keine Zeit für »Außenvisiten«, musste Franca also für ihn einspringen, damit ich keine Zeit verlor? Ich hielt die Kamera fest in der Hand, ich presste die Finger gegen das glatte Gehäuse, bildete ich mir etwa am Ende alles nur ein? Vielleicht war Franca einfach nur freundlich, höflich und aufmerksam, vielleicht hatte sie ihren Ehrgeiz dareingesetzt, einem deutschen Filmemacher so gut es eben ging zu helfen? Nach dem heutigen Morgen konnte das aber
nicht gut möglich sein, dennoch, ich schluckte ein wenig, mir war nicht wohl, ich redete mir ein, jetzt starken Hunger und noch stärkeren Durst zu haben. Was war wirklich in den letzten Tagen geschehen? Lebte ich am Ende in einer Geschichte, die ich mir nur selbst ausgedacht hatte, während die Mitspieler sich auf ein ganz anderes Stück verständigt hatten? Ich nahm mir die Kamera vor, ich hielt sie etwas höher, ich wollte mich durch die Arbeit ablenken, als ich aus den Augenwinkeln die Gestalt Gianni Albertis bemerkte.
Ich erwischte sein Bild nur für den Bruchteil einer Sekunde, er musste irgendwo weit im Abseits zwischen den letzten Ständen stehen, aber ich erkannte ihn, und ich sah, dass sein wacher, konzentrierter Blick auf mich gerichtet war, ich war nun derjenige, der streng fixiert wurde, er wollte mich wohl einer genauen Analyse unterziehen.
Ich beschäftigte mich mit der Kamera, ich veränderte einige Einstellungen, dann ging ich weiter, ich war sicher, dass er mir folgte, nun war ich an der Reihe, meine Rolle zu spielen. Ich stieg auf einige Obstkisten und filmte den Markt aus erhöhter Position, ich schlängelte mich durch die dichten Reihen, ich dirigierte einige Verkäufer für eine Gruppenaufnahme zusammen und nötigte sie, ihre Waren in Händen zu halten, schnell geriet ich in einen Aufnahmefuror, ich kam mir vor wie ein Kamera-Kaspar, der sich bemühte, den Profi zu spielen. Ich ahnte nicht, wie das alles auf Alberti wirkte, ich wollte ihn nur von meinem Vor-haben überzeugen, er sollte fest glauben, dass ich mit nichts anderem als dem Film beschäftigt war, mit absolut nichts anderem.
Mehr als zwanzig, beinahe dreißig Minuten verfolgte er mich, ich bemerkte genau, wie stümperhaft er hinter mir her war, ich interessierte ihn, das war klar, etwas an mir interessierte ihn sogar sehr, ich hätte etwas darum gegeben, zu wissen, was genau es wohl war.
Schließlich sah ich ihn davonziehen, er wirkte müde und verbraucht, er schleifte seinen Einkaufskorb beinahe neben sich her, nichts mehr war geblieben von dem genießerischen Gang des in die Jahre gekommenen Mannes, längst war er auch nicht mehr »auf dem Sprung«, er war nur noch eine Gestalt, deren Abgang man mitleidig verfolgte.
Ich packte die Kamera sofort weg, ich wich in die leeren Seitenstraßen aus, plötzlich überfiel aber auch mich eine starke Erschöpfung, als hätte ich mit Gianni Alberti mein eigentliches Kraftfeld verloren. Ich hatte keine Lust, zurück ins Hotel zu gehen, ich trabte eine Weile durch die nüchternen Straßen, kaum ein Mensch begegnete mir, in einem Tabakladen beschaffte ich mir eine Packung Toscanelli, ich setzte mich vor eine Bar, ich begann zu rauchen, als der Kellner erschien, bestellte ich mir einen Aperitif.
Während ich trank und rauchte, hatte ich immer mehr das Gefühl, mich allmählich von dem ganzen Liebesdrama zu trennen, ich kümmerte mich nicht mehr um die Dramaturgien, nichts beunruhigte mich mehr, ich saß da und schaute die schmale Straße entlang: Die Radfahrer, meist ältere Männer, mit ihren langsamen, verzögerten Bewegungen, die Blumenkübel vor den Hauseingängen, die grünen Fensterläden wie seit Ewigkeiten geschlossen, die Katze, die die Straße überquerte und ihr Fell an der Wand einer Mauer rieb, etwas Radiomusik aus einem der wenigen geöffneten Fenster - es war der Stillstand des Lebens, ein durch nichts gebrochener Alltag, das Leben in nuce, Tag für Tag, mit seinen Wochenenden und Feiertagen, mit seinen Rad fahrenden älteren Männern und tropfenden Blumenkästen unterhalb der geschlossenen Fensterläden, mit seinen Frauen, die dabei waren, die Straße zu kehren, mit Hunden auf der Suche nach Abfällen, mit dem Duft des Brotes und der metallenen Kühle der Metzgereien, provisorisch war alles und doch von unveränderlicher Gleichförmigkeit.
Ich spürte, wie sich eine tiefe Melancholie in mir absetzen wollte, ich stand auf, nichts da! murmelte ich und gab mein Glas an der Theke zurück. Ich ging noch einmal in die Marktgegend, ich schaute den Händlern zu, die ihre Stände zusammenräumten und die Waren, Tische und Stände in ihre Lieferwagen verstauten, die Müllabfuhr war längst hinter ihnen her, Schwärme von Möven kreisten über dem weiten Gelände, ich suchte nach einem Lokal, in dem man sich jetzt noch traf, ich erkannte es auch auf den ersten Blick, es war ein winziges Ecklokal, ich hörte die lauten Stimmen der Verkäufer, die von drinnen heraus-drangen, frittura, las ich, mit Kreide war es auf eine große Tafel am Eingang geschrieben, frittura, erfuhr ich drinnen, war das einzige, was man hier zu einem Glas Wein servierte.
Ich setzte mich, ich bestellte, eine junge Frau brachte das Glas und die goldgelbe Frittura, sie lag verstreut auf einem dünnen Papier, das ihr Fett sofort aufsog. Ich griff mit den Fingern danach, ich aß frittierte Tintenfische und zupfte die Spindeln von den frittierten Garnelen, frittura, dachte ich laufend, es kam mir vor wie ein Kommentar zu diesem Morgen.
Als ich gegessen hatte, nahm ich mein schwarzes Notizbuch hervor, ich hatte noch etwa eine Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Ich trank einen Schluck Wein, dann schrieb ich: Ich bin Gianni Alberti begegnet, ich konnte nicht feststellen, was er empfand, ich durchschaue ihn nur für kurze Momente, und jedes Mal ergibt das ein anderes Bild. Etwas an ihm lässt ihn undurchsichtig erscheinen, vielleicht ist er sich selbst sogar fremd, auf mich macht er jedenfalls den Eindruck eines alle möglichen Rollen spielenden Mannes, der sich noch für keine wirklich entschieden hat. Er ist Dein Rivale, dachte ich mehrmals und musste doch über das lächerlich dröhnende Wort grinsen. Seim Männlichkeit ist mir zuwider, seine Alltäglichkeit stößt mich ab, er ist ein rigider, narzisstischer Typ, solche Typen verabscheue ich. Irgend-wann werde ich Franca fragen, warum sie sich gerade für ihn entschieden hat, nach dem ersten Satz ihrer Antwort werde ich Genaueres wissen über Gianni Alberti, über sie und vermutlich auch über mich.

#19 
regrem патриот17.02.16 18:33
NEW 17.02.16 18:33 
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 22.02.16 13:21 (regrem)
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ICH TRAF eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges im Bahnhof ein, sie wartete bereits in der Vorhalle. Sie trug noch immer das weiße Kleid mit dem blauen Gürtel, dazu eine schwarze Umhängetasche, unter den linken Arm hatte sie zwei Zeitungen geklemmt. Wie am Morgen kam sie sehr rasch auf mich zu, und wie am Morgen sagte sie: da bist Du, sie hatte wieder dieses Beflügelte, beinahe Rauschhafte, sie hielt keinen Augenblick inne, sondern lief mit mir die Treppen hinunter und wieder hinauf auf den Bahnsteig, wo sie leicht ungeduldig begann, die Zeitungen in die schwarze Tasche zu stecken.
Als der Zug einfuhr, ging sie an ihm einige Schritte in Fahrtrichtung entlang, wir stiegen ein, wir setzten uns einander gegenüber in ein leeres Abteil, sie legte die Tasche zur Seite und schaute gleich hinaus aus dem Fenster. Der Zug setzte sich in Bewegung, er fuhr sehr langsam am Meer entlang, sie sprach von den kleinen Stranden und den Auflagen, die den Besitzern gemacht worden waren, Größe, Instandhaltung, Pflege, alles war seit einigen Jahren genau geregelt. Sieh Dir das an! rief sie ab und zu, und manchmal nur: schau!, sie wollte, dass auch ich genau die Bilder bemerkte, die sie gerade wahrnahm, ich schaute zusammen mit ihr hinaus, ich rückte näher heran an das Fenster, dabei hätte ich mich viel lieber zurückgelehnt, um nur sie zu betrachten. Sie hatte die langen Beine wieder übereinander-geschlagen, in den leichten Schuhen wirkten ihre Füße sehnig und schmal, manchmal fuhr sie sich mit der Rechten durchs Haar und warf es nach hinten, dann glitt ihre Hand über das Knie, das ganze Schienbein hinab beinahe bis zu den Schuhen, es war eine wiederholt vorkommende Geste, die eine gewisse Anspannung verriet.
Nach kaum zwanzig Minuten Fahrt stiegen wir aus, es gab keinen Bahnhof, sondern nur einen Halt, wir überquerten die Bahngleise und erreichten sofort den Strand. Schon von weitem sah man die kleine Forschungsgruppe, sie erklärte mir, dass es sich um Studenten handelte, um eine bunt zusammengewürfelte Gruppe aus mehreren Universitäten, die Leiterin war eine junge, schmächtige Frau, die auf uns zukam, als sie uns erkannte. Wir begrüßten uns, die Frauen sprachen eine Weile miteinander, ich setzte mich auf einen Felsen und filmte die Gruppe aus der Distanz, bis Franca zu mir kam und mich näher heranführte.
Sie sprach leise mit mir, sie raunte mir ihre Kommentare beinahe zu, wir umkreisten die Gruppe, von der kaum einer aufschaute. Ich begriff, dass es zum einen um die Untersuchung der Artenvielfalt in einem markierten Strandstück ging, von »Organismen« war immer wieder die Rede, sie wurden mit einer chemischen Lösung betäubt und aus dem feuchten Sand geschlämmt, sie schwebten in sehr dünnen Netzen, wo sie mit winzigen, haarfeinen Pipetten aufgenommen wurden, es handelte sich um Wimpertierchen und Strudelwürmer, am besten gefiel mir das Wort »Kleinturbellarien«, mit bloßem Auge waren all diese Lebewesen kaum zu erkennen. Landeinwärts aber war ein kleines Zelt aufgeschlagen, Franca führte mich hin, wir duckten uns in die beinahe tropische Schwüle, auf einem großen Tisch waren drei oder vier Mikroskope aufgebaut, ich hatte so etwas erwartet, Mikroskope entsprachen genau meiner Vorstellung von dem, was hier vor sich ging. Als ich durch eines von ihnen schaute, musste ich beinahe grinsen, denn vor meinen Augen bewegten sich in gleichmäßigen rhythmischen Zuckungen jetzt große, obszöne Gebilde mit darmartigen Windungen, sie wanderten unaufhörlich durch das Bild, ließen den Wimpernpelz zittern, rollten sich zu einer Spirale zusammen oder streckten die kleinen Saugnäpfe der Füße weit von sich.
Wir gingen wieder hinaus, Franca sprach ununterbrochen, sie beschrieb, welche Schlüsse man aus dem Vorhandensein welcher Art ziehen konnte, anscheinend qualifizierten sich die Strände durch eine bestimmte Zusammensetzung all diesen Gewürms. Weiter abseits aber steckten in kurzen, regelmäßigen Abständen lange Stangen mit roten Fähnchen wie Stangen einer Skipiste im Sand, Franca hatte eine Zeichnung zur Hand, auf der die zylindrischen Geräte in der Tiefe, die ein Kabel miteinander verband, zu erkennen waren, ich erfuhr, dass mit Hilfe dieser Apparaturen die Geschwindigkeiten der Strömung gemessen wurden, genaue Ergebnisse erforderten allerdings eine Geduld von einigen Wochen.
Am meisten aber gefielen mir die Ablagestellen der Fundstücke, sie waren auf großen, feinmaschigen Sieben zum Trocknen gelagert, Franca zeigte mir Pilz- und Fächerkorallen, Möveneier, Schnecken und Seeigel, einige besonders schöne Muscheln mit schmalen, gezähnten, längs verlaufenden Schlitzen hatten einen beinahe lackartigen Glanz, ich ging mit der Kamera so nahe heran, dass nur noch ihre Muster zu erkennen waren.
Zum Schluss des Rundgangs erhielt ich eine Mappe mit Unterlagen, Franca bat mich zu fragen, wenn ich bestimmte italienische Worte nicht sofort verstand, ich sagte ihr, dass ich versuchen werde, die Texte in Ruhe zu lesen, sie lächelte mir zu und ging dann wieder hinüber zur Gruppe, die mit einer Art hartnäckiger, stummer Passion vor sich hin arbeitete. Ich setzte mich auf einen kleinen Schemel neben einem größeren, stark bemoosten Felsen, ich gab mir Mühe, in den Texten zu lesen, und begann, sie Seite für
Seite vorzunehmen, sie waren nicht schwer zu verstehen, ich empfand sie aber als eintönig, die haarspalterisch dargestellten Details der Experimente interessierten mich nicht, mir ging es ausschließlich um die Schönheit der Fundstücke, für den lackartigen Glanz einiger Muscheln hätte ich sofort sämtliche zylindrischen Strömungsmesser hergegeben.
Während ich blätterte, beobachtete ich von Zeit zu Zeit die Arbeit der Gruppe, die junge Leiterin hatte sich schon bald nach unserem Erscheinen wieder unter die Arbeitenden gemischt, die meisten knieten auf dem Boden, ein wenig ähnelten sie einer steinzeitlichen Horde, der die Nahrungsmittel ausgegangen waren und die verbissen nach neuen suchten. Franca hatte sich seitwärts zu der Linie der roten Fähnchen begeben, sie kontrollierte anscheinend die Messergebnisse, mit einem Stift fuhr sie über die Blätter eines kleinen, handlichen Ordners, ich stellte mir lauter Tabellen mit Verweisen auf seltsame Gleichungen vor, ich hatte nicht geahnt, welchen Aufwand man mit dem Luxus der Verschiedenheit von Meer und Land treiben konnte.
Mit der Zeit bekamen die Seiten, die ich in Händen hielt, jedoch etwas Fades, all die Bärtierchen und Gastrotrichen hatten zwar etwas Kurioses, aber auch Einfältiges, ich nahm mein Notizbuch hervor und wollte mich zwingen, die Untersuchungen kurz festzuhalten, aber ein starker Widerstand regte sich in mir. Ich schlug das Notizbuch auf, ich blickte hinüber zu der den Strand verlesenden Gruppe, ich schaute zu Franca, die sich in die Tabellen vertieft hatte, wahrscheinlich nahmen jetzt alle an, dass auch ich mich mit
den Forschungen beschäftigte und erregt lauter Details notierte. Ich nahm jedoch meinen Stift und schrieb weiter, als säße ich noch immer in dem kleinen Ecklokal nahe am Markt von San Benedetto, noch immer hatte ich den Geschmack der Frittura im Mund, es war eine gute Frittura mit einer hauchdünnen, hellen Panierschicht gewesen, ich hätte etwas darum gegeben, jetzt eines von den Gläsern Wein trinken zu können, die dazu serviert worden waren: Diese Fahrt hier hinaus ist unsere erste kleine gemeinsame Reise, mir kommt es so vor, als werde auf dieser Reise etwas geschehen, ja, als stehe ein bestimmtes Ereignis unmittelbar bevor. Das alles versetzte mich schon im Zug in eine starke Anspannung, ich war unruhig, und ich bin es noch, jetzt, wo ich sie aus der Ferne bei ihren Arbeiten am Strand beobachte. Kurz erinnerte ich mich auch noch einmal an Gianni Alberti und daran, dass er sich zur selben Zeit auf dem Weg nach Ancona befand, vor Sonntagabend wird er, wie ich seit unserer Begegnung weiß, nicht zurück sein. Ich denke laufend daran, dass sie also nun mehrere Tage allein ist, denn ich glaube nicht, dass sie ihm nach Ancona folgt. Glückliche Umstände, dachte ich im Zu? immer wieder, immer wieder venau diese Wendune: glückliche Umstände ..., ah wollte ich mich nötigen. Albertis Abwesenheit so gut wie möglich zu nutzen. Ich ahne, dass ein Moment kommen wird, der über die konkrete Gestaltung dieser
glücklichen Umstände entscheidet, ich werde darauf achten und Francafür ein längeres Zusammensein zu gewinnen versuchen ... Manchmal denke ich, dass ich noch viel zu zurückhaltend bin, Zurückhaltung ist sonst gar nicht meine Art, aber in diesem Fall bin ich vorsichtig, weil ich auch von ihrer Seite noch keine eindeutigen Zeichen bekam. Als sie beim Frühstück meine Hand nahm, dachte ich, es handle sich um ein solches Zeichen, war mir danach aber nicht mehr völlig sicher, wie auch immer, die nächste Gelegenheit muss ich nutzen, ich darf nicht länger zurückschrecken ... Ich bin hingerissen von ihren Bewegungen, von ihren schnellen und präzisen Kommentaren, sie hat überhaupt nichts Verstocktes und nicht einmal eine Spur von langsamer Schwere, statt dessen gibt es nur ein >Voran<, ein Sich-Umschauen, Wahrnehmen, Begreifen, sie besitzt eine so grenzenlose Neugier und Lebenslust, dass es einen mitreißt ... Ich notiere dies hier, ohne dass sie weiß, was ich tue, dabei ist sie kaum zwanzig Meter von mir entfernt. Sie beugt sich immer wieder zum Boden, sie fährt mit der offenen Hand über die Sandflächen oder presst sie sekundenlang auf eine Stelle, wie eine Ärztin, die einen Patienten abtastet. Manchmal steht sie eine Weile still in der Gischt der auslaufenden Wellen, die Hände in die Hüften gestützt, den Kopf zum Boden gesenkt, als beobachtete sie den Strömungsverlauf an ihren bloßen Füßen. Der untere Saum ihres weißen Kleides ist längst nass, zweimal schon hat sie ihn mit einer kurzen Bewegung ausgewrungen, ich hielt den Atem an, ah ich sah, wie sie das Kleid zur Seite hin anhob ...
Als sie sich umdrehte und auf mich zukam, holte ich rasch ihre Unterlagen hervor und markierte mit meinem Stift einen Absatz. Was notierst Du denn alles, fragte sie, Du hörst ja gar nicht mehr auf!, ich erklärte ihr, dass ich bereits dabei sei, für den Film etwas zu texten, texten, wiederholte sie, nennt man das bei Euch so, texten?, ja, sagte ich, ich texte, Du textest, wir texten, ich texte meist schon am Drehort, vor den Dreharbeiten oder während sie ablaufen, was Du mir eben zum Beispiel erklärt hast, bringe ich schon in einer Woche nicht mehr zusammen. Habe ich gut getextet? fragte sie, sehr gut, sagte ich, präzise, anschaulich, einfach, Deine Texte sind ein Genuss, ist das Dein Ernst, fragte sie, und ich sah, dass sie wirklich erstaunt war, ja, sagte ich, mein völliger Ernst, aber hat Dir noch keiner gesagt, wie gut Du erklärst? Nein, sagte sie, keiner.
Sie schaute mich einen Moment beinahe nachdenklich an, dann gab sie sich einen Ruck und sagte, gehen wir noch etwas am Meer entlang, die Gruppe ist gleich fertig für heute, ich habe aber keine Lust, mit ihr zurück nach San Benedetto zu fahren, nichts lieber als das, antwortete ich, ich habe jetzt lange genug hier gesessen.
Die Gruppe beendete ihre Arbeit und räumte einige Geräte ins Zelt, wir verabschiedeten uns und machten uns auf den Weg, wir machen uns auf den Weg, dachte ich wirklich, ich hatte das Gefühl, als bahnte sich nun etwas an, ich spürte es daran, wie wir uns auf den Weg machten, es hatte etwas Entschlossenes, Endgültiges und wirkte auf mich so, als wollten wir gar nicht mehr zurück.
Während wir am Strand entlanggingen, bückte sie sich immer wieder, sie hob etwas auf und zeigte es mir, ihr ganzer Instinkt war noch von ihrem Forschungsinteresse besetzt, sie hatte eine enorme Fähigkeit, etwas zu entdecken, mir jedenfalls fiel kaum etwas auf, sie aber filterte anscheinend aus den blassen Strandbildern lauter Details, sie erkannte Spuren von Möven, Reihern und sogar Kormoranen, sie las die seltsamsten Muscheln auf, die sich im Geröll der Kiesel versteckten, wie machst Du das bloß? fragte ich, ich erkenne nicht mal die Hälfte der Fundstücke, die Du jetzt aufliest, ich habe eine jahrelange Übung darin, antwortete sie, vielleicht ist aber auch mein Farbsinn stärker entwickelt, ich reagiere auf Farben nämlich besonders empfindlich, wir haben das sogar im Institut einmal getestet, die Werte waren unglaublich.
Wir gingen immer weiter, es dämmerte schon, ich wagte nicht zu fragen, wohin der Weg führte oder ob sie ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte.
Wir befanden uns längst in einer Gegend, die auf mich vollkommen entlegen wirkte, der Strand war felsig geworden, so dass wir nur langsam vorankamen, dann erreichten wir menschenleere, verwaiste Strandflächen mit hohen, wie entrückt im Wind schaukelnden Gräsern, dichte Bestände von Stranddisteln mussten wir überwinden, wir tanzten zwischen den Pflanzen hindurch und scheuchten Scharen von Seeschwalben auf, die kreischend landeinwärts flogen.
Wir sprachen nicht mehr miteinander, manchmal gingen wir wegen des beschwerlichen Wegs auch in großer Distanz, ich fragte mich, was sie vorhatte, sie ließ sich nichts anmerken, sondern ging, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, voraus, als wüsste sie genau, wohin es gehen sollte.
Endlich gelangten wir in eine kleine Bucht, dort steckte ein längst zerborstenes Boot noch im Sand, daneben stand eine einzelne Umkleidekabine aus Holz, ich ging hin und öffnete die Tür, alles wirkte intakt, nur dass das bleiche Holz sich gegen die grüne Farbe durchgesetzt hatte, ein paar schwache Grünspuren waren auf der kleinen Bank gerade noch zu erkennen, sonst war das Holz blass und grau, als habe das Meer es immer wieder bespült.
Ich wollte die Tür wieder schließen, als sie an mir vorbei hineinschlüpfte, komm! sagte sie, komm!, ich folgte ihr, wir zogen die Tür von innen zu, sie zog ihr weißes Kleid sofort aus, sie zog es über den Kopf und warf es beiseite, sie entledigte sich mit einigen Handgriffen aller Kleidung, komm! sagte sie immer wieder, ihre starke Erregung übertrug sich auf mich, wie in Trance begann ich, mich ebenfalls zu entkleiden, ich spürte förmlich, wie die Enge des Raums die Sehnsucht der beiden Körper verstärkte. Ich zog sie an mich, wir schmiegten uns eng aneinander, ich hörte, wie sie tief ausatmete, und auch ich begann, tief, aber gleichmäßig zu atmen, langsam, allmählich fanden diese Rhythmen zusammen, dann atmeten wir in einem Rhythmus, wir bewegten uns nicht, wir standen vollkommen still und hielten uns eng umschlungen, es war wie eine Erlösung. Ich schloss die Augen, ich hörte die nahen Wellen, durch eine kreisrunde Öffnung in der Hinterwand der Kabine drang etwas Wind in den Raum, wir standen bewegungslos, minutenlang wie ineinander verwachsen, dann küsste ich ihre Stirn, die Schläfen, den Mund, unsere Lippen trafen ganz weich aufeinander und öffneten sich fast zugleich, ich machte einen kleinen Schritt zurück zur Bank und setzte mich, ich zog sie zu mir, sie setzte sich auf meinen Schoß und stemmte sich mit den Füßen vom Boden ab, ich spürte, wie sie langsam auf mich sank, es war eine einzige, stille Bewegung, als fiele ein Tuch, sich langsam im Wind drehend, zur Erde, ich sah ihr Gesicht über mir, sie hatte die Augen geschlossen, ich hatte das Gefühl, als stehe die Zeit plötzlich still und als entfernten sich unsere beiden Körper in dieser Kapsel nun in die Tiefe, ich hielt sie fest, ich umschlang sie mit meinen Armen, ich hörte, wie sich ihre Atmung beschleunigte, wie schlank sie ist, dachte ich noch, und wie leicht, dann bewegten sich unsere Körper allmählich schneller, ich schloss wieder die Augen, wir trieben davon, ich sah uns als Paar und wie das Paar-Bild abtauchte, langsam drehten wir uns in der Tiefe des Meeres, keine Geräusche mehr, wir sanken, nur noch das Dunkel, die Nacht.

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