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Eine Liebe in Berlin

11.10.15 08:38
Re: Eine Liebe in Berlin
 
regrem патриот
в ответ regrem 07.10.15 20:04, Последний раз изменено 10.11.15 14:36 (regrem)
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Als Justus Weigand die Kreuzung Unter den Linden-Friedrichstraße erreichte - zu Fuß, denn seine gewohnheitsmäßige Sparsamkeit ließ ihn die Ausgabe für eine Droschke scheuen, und Pferdeomnibusse und Straßenbahnen fuhren in dieser Stunde zwischen Nacht und Morgen noch nicht oder nicht mehr —, fühlte er sich zwar müde, aber noch nicht schläfrig. Trotz allem, was sich an der Wende des Jahrhunderts für ihn ereignet hatte, war sein Erlebnishunger nicht gestillt. Ein Rest Erwartung war in seiner Seele zurückgeblieben, hatte sich in ihn eingebrannt und hielt ihn munter. In diesem Zustand, dessen war er sicher, würde er keinen Schlaf finden.
Er wollte und musste noch etwas unternehmen, nur über das Was und Wie war er sich nicht schlüssig. Noch herrschte Betrieb auf den Straßen der Innenstadt; die halbe Bevölkerung Berlins schien auf den Beinen zu sein.
Aber während Justus sich noch den Kopf zerbrach, hatten sich seine Beine schon entschieden. Statt die Friedrichstraße hinauf, wandten sie sich hinab, und als er es bemerkte, wurde ihm klar, dass alle seine Überlegungen doch nichts als Spiegelfechtereien gewesen waren. Noch an Clementines Seite hatte er sich bereits nach Amalie Hentschel gesehnt.
Mit raschen, beschwingten Schritten, die keine Spur von Ermattung verrieten, eilte er vorwärts, und erst als er in die kurze Nebenstraße einbog, wurde ihm die Möglichkeit bewusst, dass Amalie nicht zu Hause oder nicht allein sein könnte. Jetzt lief er fast, glaubte von weitem die »Bei Etage«, den zweiten Stock, dunkel vorzufinden und atmete auf, als er vom gegenüberliegenden Trottoir aus den schwachen Lichtschein vom Flur her durch das Wohnzimmerfenster schimmern sah.
Er eilte über die Straße, läutete im zweiten Stock. Die Haustür hätte verschlossen sein müssen, aber sie war es nicht. Er gelangte in das dunkle Treppenhaus, tastete sich hoch, erkannte jede Stufe unter den Füßen und mit den Händen jeden Schnörkel des eisernen Geländers, erreichte den zweiten Stock und hämmerte mit der Faust gegen die Tür zur Rechten.
Sie wurde aufgemacht, nur einen Spalt breit, mit vorgelegter Kette.
»Ich bin es«, sagte er, »Justus Weigand.«
»Komm herein, Junge!« Die Kette rasselte, die Tür wurde weit geöffnet und Amalie Hentschel flog in seine Arme.
Sie presste sich an ihn. Sie rief glücklich: »Ich wollte gerade ins Bett gehen!«
»Daran«, sagte er, »will ich dich durchaus nicht hindern.«
Sie kicherte, ihre gebrannten Löckchen kitzelten seine Nase, er fühlte ihr festes kühles Fleisch und roch den vertrauten Duft von Puder und Veilchen.
»Du Schlimmer!« Sie erschauerte, als seine Lippen ihren üppigen Arm hinaufwanderten.
Er trat die Tür hinter sich zu. »Ich hatte schon gefürchtet, du wärest nicht zu Hause.«
»War ich auch nicht, bin gerade erst gekommen.« Sie bedeckte sein Gesicht mit vielen kleinen schmatzenden Küssen. »Hm, hm, hm... Aber jetzt komm endlich herein! Wir trinken noch eine Flasche Schampus zusammen, ja?«
»Ich möchte nicht...«
Sie unterbrach ihn. »Ich weiß schon, was du möchtest, du Schlingel!« Sie wand sich aus seinen Armen. »Geh schon ins Boudoir, mach es dir bequem!«
Was Amalie Hentschel als ihr Boudoir bezeichnete, war das Schlafzimmer, das sie ehedem mit dem verstorbenen Waldemar Hentschel, Kurzwaren en gros, geteilt hatte. Er war, wie Justus Weigand aus ihren Erzählungen wusste, dreißig Jahre älter gewesen als sie, aber durchaus noch imstande, seinen Mann zu stehen, so dass sie sich nach seinem Tod doppelt verlassen gefühlt hatte. Die schöne Wohnung und das Zinshaus in der Taubenstraße boten ihr ebenso wenig Trost in ihrer Einsamkeit wie das nicht unbeträchtliche Barvermögen, das er ihr vererbt hatte.
Überall - außer im Schlafzimmer, da hatte Justus Weigand auf ihre Entfernung bestanden — blickten einem Fotografien von Waldemar Hentschel entgegen; sie zeigten einen vierschrötigen Mann mit eulenhaftem Blick und einem Vollbart, der ihm bis zum Nabel reichte. Die Lichtbilder ähnelten einander alle, sie waren alle von ein und demselben Künstler aufgenommen, der Hentschel stets im Cutaway hatte posieren lassen, eine Hand unter den Bart geschoben, die andere spielerisch au^ ein sechseckiges Tischchen gestützt.
Im Schlafzimmer jedoch wachte Waldemar Hentschel nun nicht mehr über seiner Amalie, und Justus Weigand war froh darüber, denn es war ihm immer unbehaglich gewesen, sich unter den gestrengen Blicken dieses Herrn auszukle den. Auch der braunsamtene Hausmantel, den er in den intimen Stunden seiner Besuche bei Amalie zu tragen pflegte, stammte ohne Zweifel vom Verstorbenen; diese Tatsache wurde zwischen ihnen jedoch niemals ausgesprochen.
Justus Weigand holte ihn aus dem Schrank, zog ihn an und überlegte, ob er schon in das verlockend aufgeschlagene Bett schlüpfen sollte, nahm aber dann doch in dem breiten, behaglichen Sessel vor Amalies Frisiertoilette Platz.
Jetzt kam sie selbst ins Zimmer, rosiger und runder als jedes ihrer Püppchen, Grübchen in Kinn und Wangen, Grübchen überall. Sie schleppte einen silbernen, mit halbgetautem Eis gefüllten Eimer, in welchem eine Flasche Champagner steckte, und stellte ihn neben Justus auf den Boden.
Er wollte sie auf den Schoß ziehen, aber sie entglitt ihm und trippelte wieder hinaus, kam gleich darauf mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Gläser und ein Körbchen mit Gebäck standen.
Amalie Hentschel trug einen violetten Morgenrock, dessen Rüschen und Spitzen ihren Hals und ihre Gelenke umflossen. Justus Weigand wusste nicht genau, wie alt sie war — sie hütete ihr Geburtsdatum als ein Geheimnis, und er hatte bisher nur im Scherz den Versuch gemacht, es ihr zu entreißen —, aber er schätzte sie auf fünfunddreißig. Dennoch waren ihr Gesicht und ihr Hals faltenlos wie die eines jungen Mädchens, nur dass sie besser gepolstert waren, und er wusste, dass gerade diese reiche Fettunterschicht ihr den trügerischen Anschein von Jugendlichkeit verlieh.
Sie legte den Arm um ihn und küsste ihn hinters Ohr. »Bitte, Junge«, sagte sie, »mach du die Flasche auf.«
»Mit Vergnügen!« Er schlang seinen Arm um ihre Taille.
Sie kicherte glucksend. »Hu, lass das! Du weißt, ich bin kitzlig!« Als sie zappelte, vibrierte ihr Fleisch so, dass er die Augen schließen musste, um nicht schwindlig zu werden.
Sie benutzte diesen Augenblick, um sich ihm zu entziehen, bückte sich über den Sektkübel, zog die Flasche heraus und reichte sie ihm. »Sie ist bestimmt kalt genug... ich hält's nicht mehr aus, ich muss es mir endlich bequem machen!«
Während er mit dem Verschluss der Flasche kämpfte, beobachtete er fasziniert, wie sie ihren Morgenrock öffnete und sich an den Schnüren, Haken und Ösen ihres Korsetts zu schaffen machte.
»Soll ich dir nicht helfen?« fragte er.
»Kümmere du dich um den Schampus! Eine alleinstehende Frau wie ich wäre ja verloren, wenn sie ihr Mieder nicht aufbekäme!«
Es gelang ihr fast im gleichen Augenblick, als er den Champagnerpfropfen knallen ließ. Geschickt ließ er die schäumende Flüssigkeit in die Gläser laufen, ohne einen Tropfen zu vergießen. Das Korsett fiel zu Boden. Sie rieb sich Taille, Bauch und Hüften unter dem Morgenrock und stöhnte vor Behagen.
»Junge, du ahnst nicht, was das für eine Wohltat ist!«
»Ich kann es mir vorstellen.«
»Kannst du nicht, du bist ja ein Mann!«
»Ich bin Mediziner«, sagte er, »und weiß, dass Frauen an den Folgen eines zu eng geschnürten Korsetts schon elend gestorben sind.«
Sie erschrak, schüttelte sich und lachte, um ihr Entsetzen zu überspielen. »Das ist nicht wahr!«
»Glaub es oder glaub es nicht. Als junges Semester habe ich eine Frauenleiche seziert, bei der die Leber mitten durchgeschnitten war, und zwar durch das Korsett.«
Sie machte große Augen. »Ganz sicher? Schwindelst du mich nicht an?«
»Ganz, ganz sicher.«
»Aber das hätte das dumme Mädchen doch merken müssen!«
»Sicher hat sie das gemerkt, Amalie. Aber ihr Frauen seid ja bereit, zu leiden, wenn es um eure Schönheit geht... mit der ihr euch die Männer ködert.«
Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und trank ihm zu. »Hast du das Gefühl, dass ich dich ködern will, Schlingel?«
»Oja«, sagte er lächelnd, nahm einen tiefen durstigen Schluck, stellte das Glas fort und breitete beide Arme nach ihr aus, »mit Schampus und hundert kleinen Tricks!« Er nahm sie auf den Schoß, grub sein Gesicht in ihr duftendes kühles Fleisch. »Aber das hattest du gar nicht nötig«, murmelte er, »ich habe mich die ganze Nacht nur auf diesen Augenblick gefreut!«
Sie legte den Kopf zurück, bot ihre weiße runde Kehle seinen Küssen. »Ich auch, du Schlimmer... oh, ich wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn du nicht gekommen wärst!«
Er stand auf, schwankend unter ihrer Last, und trug sie zum Bett. »Habe ich dich je enttäuscht, Mädchen?«
»Nie!« flüsterte sie. »Nie! Du bist doch mein großer, starker Schlingel!«
Sie zog ihn mit geschlossenen Augen zu sich herab, und in den kühlen Wogen ihres Fleisches fand er die Erlösung, die er suchte.
Als Justus Weigand aufwachte, fiel ein schmaler Streifen grauen Winterlichts durch die schweren Portieren. Er wusste sofort, dass es noch früh war und dass er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Aber er war wach und ausgeruht. Da er oft bis in den Morgen hinein studierte, war er es gewohnt, mit einem kurzen Schlummer auszukommen.
Amalie Hentschel schlief neben ihm, das Gesicht auf dem dicken Arm. Ihr Mund war halb geöffnet, die Wangen hingen schlaff, und ihr Doppelkinn bebte bei jedem ihrer Atemzüge. Sie wirkte jetzt so alt, wie sie war. Ihre gebrannten Löckchen hatten sich aufgelöst; das dunkle Haar klebte glanzlos und strähnig an Schläfen und Stirn.
Sie hatte keinen Reiz mehr für ihn; er betrachtete sie nachsichtig, mitleidig und nicht ohne Dankbarkeit.
Dann rollte er sich zur Seite, wollte sich rasch und lautlos erheben, aber das alte Bett knarrte und knackte.
Amalie tastete mit geschlossenen Augen auf sein Kopfkissen hinüber und fand es leer. »Was ist?« murmelte sie verschlafen. »Musst du schon fort?«
Er war in seine Unterhose geschlüpft. »Ja, Malchen«, sagte er, »aber lass dich nicht stören.«
Sie richtete sich auf dem Ellenbogen hoch und riss die Augen auf. »Aber ich kann dich doch nicht ohne Frühstück gehen lassen!«
»Und ob du das kannst.« Er trat zu ihr hin und drückte sie in die Kissen zurück. »Schlaf noch ein bisschen, du hast ja viel Zeit.« Aber als sie die Arme nach ihm ausstreckte, trat er rasch zurück. »Ich muss wirklich gehen, Malchen.«
Sie tastete nach ihrem Morgenrock, zog ihn über, schlüpfte in ihre Pantöffelchen, lächelte ihm mühsam zu, mit schlaftrunkenen Augen und aufgedunsenem Gesicht, taumelte aus dem Zimmer.
Er nahm sich gelassen Zeit zum Ankleiden, wusch sich gründlich im Bad - ein Komfort, den er bei der Witwe Göbern nicht hatte - und rasierte sich mit dem Messer des seligen Hentschel. Dann schlüpfte er in sein zerdrücktes Hemd und warf sich in den für diese Stunde ganz und gar unpassenden schwarzen Anzug.
Amalie hatte indessen die Brötchen hereingeholt, Kaffee und Eier gekocht und im Wohnzimmer den Frühstückstisch gedeckt. Frisiert und gewaschen, sah sie jetzt wieder durchaus appetitlich aus. Sie bediente Justus, goss ihm Kaffee ein, reichte ihm Sahne und Zucker, und er aß mit Heißhunger. Sie selbst trank nur schwarzen Kaffee.
Justus tätschelte ihre Hand und sagte mit vollem Mund: »Ich glaube, es war doch eine gute Idee von dir, aufzustehen. Es schmeckt mir großartig!«
Sie lächelte. »Und dieses Vergnügen könntest du täglich haben.«
»Wieso?« fragte er überrumpelt,
»Aber — das weißt du doch! Gib deine Studentenbude auf und zieh zu mir. Ich mach' dir diesen Vorschlag ja nicht zum ersten mal!«
Er zog seine Hand zurück und griff zur Kaffeetasse. »Sehr ehrenvoll für mich, aber leider unannehmbar.«
»Das verstehe ich nicht.« Sie beugte sich vor, und er konnte unter Rüschen und Spitzen den Ansatz ihres Busens sehen. »Du könntest das Geld für dein lächerliches möbliertes Zimmer sparen und hättest es zudem viel bequemer.«
»Du würdest es bald bereuen«, sagte er voll Unbehagen.
»Bestimmt nicht! Es würde wunderbar werden mit uns beiden, davon bin ich überzeugt. Ich würde dir das Herrenzimmer einrichten und...«
Er fiel ihr ins Wort. »Amalie, und wenn du einen ernsthaften Heiratskandidaten findest, was dann?«
Sie hob die runden Schultern. »Dann könntest du ja immer noch verschwinden.«
Er lachte, wischte sich den Mund mit der Serviette ab und stand auf. »Du bist entwaffnend ehrlich, mein Schatz.«
»Bist du mir böse, weil ich dich nicht heiraten will, Junge? Das ginge doch nicht, schon der Leute wegen, und dann, mein Waldemar hat immer gesagt...«
»Nimm dir nie einen jüngeren Mann«, ergänzte er, »der würde dir nur Kummer bereiten und dein Geld durchbringen!« Er lachte, beugte sich über sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss. »Nein, ich bin dir überhaupt nicht böse, du hast ja ganz recht. Ich finde es wunderbar, wie es mit uns beiden ist, wir wollen es dabei bewenden lassen. Besser könnten wir es gar nicht haben.«
Sie stand auf und folgte ihm auf den Gang hinaus, sah ihm zu, wie er sich den Paletot nahm, den weißen Schal um den Hals band; den Chapeau claque klappte er zusammen und klemmte ihn sich unter den Arm.
»Wenn du hier wohnen würdest...«, versuchte sie es noch einmal.
Er ließ sie nicht aussprechen. »Leb wohl, Malchen, darüber reden wir ein andermal, natürlich nur, wenn es sein muss. Heute habe ich es furchtbar eilig. Ich muss noch zur Charité hinaus.«
»Am Neujahrsmorgen?«
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ihr gar nichts von der Geburt der kleinen Senta und den anderen Ereignissen der vergangenen Nacht mitgeteilt hatte, wie er ja überhaupt nie das Bedürfnis fühlte, ihr etwas von sich und seinem Leben zu erzählen. »Ja, denk dir«, sagte er auch jetzt nur und küsste sie, während er die Wohnungstür schon geöffnet hatte. »Bis dann, Malchen!«
Er war erleichtert, dass sie keinen Versuch unternahm, eine feste Verabredung mit ihm zu treffen.
Er äugte ins Treppenhaus und trat erst aus der Wohnung, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, denn er wollte Amalie nicht kompromittieren. Auf dem nächsten Treppenabsatz drehte er sich noch einmal um und warf ihr eine Kusshand zu. Dann eilte er leichtfüßig die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Schon nach wenigen Schritten hatte er Amalie vergessen.

 

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