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Eine Liebe in Berlin

11.10.15 17:49
Re: Eine Liebe in Berlin
 
regrem патриот
в ответ regrem 07.10.15 20:04, Последний раз изменено 11.11.15 07:25 (regrem)
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Das Arbeitszimmer des Professors lag einen Stock höher als die Säuglingsstation. Es war ein nicht eben kleiner Raum, der jedoch durch die schweren, dunklen Möbel, die sich in ihm drängten, eng und Luft los wirkte. Ein verglaster Bücherschrank enthielt die Standardwerke der Medizin, auf dem Schreibtisch, auf den Stühlen und auch auf dem abgetretenen Teppich, der fast den ganzen Boden bedeckte, türmten sich ganz oder teilweise aufgeschnittene Broschüren.
Das Zimmer war überheizt, der Gasofen zischte, und die abgestandene Luft roch nach Tabak, Staub, Papier und Angst — nach der Angst all jener Studenten, die hier dem Professor gegenübergesessen hatten und seinen bohrenden Fragen und seinem unerbittlichen Urteil ausgeliefert gewesen waren. Als Professor Hübner sich zwischen Bücherschrank und Schreibtisch durchzwängte, hoffte Justus Weigand schon, er werde das staubblinde Fenster öffnen oder die Gasheizung kleiner stellen.
Aber nichts dergleichen geschah. Dem Professor schien die höllische Atmosphäre dieses Zimmers so vertraut, dass er nicht einmal den Versuch machte, sie auch nur zu mildern.
Er setzte sich hinter seinem Schreibtisch nieder, rieb die langen, ausdrucksvollen Gelehrtenhände gegeneinander, betrachtete Justus Weigand durch die blitzenden Gläser seines Zwickers und sagte endlich, als der junge Mann schon spürte, wie ihm der Schweiß zwischen den Schulterblättern herablief: »Setzen Sie sich!«
Justus hatte kaum Platz, sich umzudrehen. Er nahm einen Stapel Broschüren von einem Stuhl, türmte sie sorgfältig auf den Boden und nahm dem Professor gegenüber Platz, in gerader Haltung, mit sorgsam nebeneinandergestellten Füßen.
»Ich habe Ihre Dissertation gelesen«, begann Professor Hübner ohne Umschweife.
Justus Weigands Mund war plötzlich ausgetrocknet; er hätte keinen Laut hervorbringen können, auch wenn er tatsächlich etwas zu sagen gehabt hätte. Seit Wochen, seit er seine sorgfältig mit der Hand geschriebene Doktorarbeit dem Professor zur Begutachtung übergeben hatte, hatte er dieser Minute entgegengefiebert, und jetzt, da sie gekommen war, empfand er nicht mehr die erwartete Erleichterung, sondern nur noch die nervenzerreißende Gewissheit, versagt zu haben.
»Sie enthält«, fuhr Professor Hübner fort, »einige fundamentale Fehlerquellen.«
Justus Weigand fühlte sich so mürbe und innerlich zerstört, dass ihn diese vernichtende Feststellung kaum noch erschütterte.
»Sie stellen da eine Theorie auf, Weigand, nach der, wenn ich Sie richtig verstanden habe, warten Sie mal...« Der Professor schlug das Manuskript an einer Stelle auf, die er durch ein zwischen die Seiten geschobenes Notizblatt gekennzeichnet hatte. »Aha, hier haben wir es schon! Sie schreiben wörtlich ...« Der Professor unterbrach sich, reichte Justus Weigand das Manuskript über den Schreibtisch hinweg zu: »Da, lesen Sie selber! Die angestrichene Stelle.«
Justus Weigands Stimme klang heiser, als er jetzt die Sätze herunterstotterte, die ihm, als er sie niederschrieb, wie ein echter Geistesblitz erschienen waren, jetzt aber hohl und leer in seinen Ohren dröhnten: »Entscheidend für das Gedeihen des Säuglings ist nicht nur eine sachgemäße Pflege und eine dem kindlichen Organismus entsprechende Ernährung, sondern es gilt auch, eine ganz persönliche zwischenmenschliche Beziehung herzustellen. Das ist vor allem dann unumgänglich, wenn die Mutter nicht nähren kann und auf eine Amme verzichtet werden soll. Ein Säugling, der jedes Mal am Tag von einer anderen Schwester hochgenommen, frisch gewickelt und gefüttert wird, und das häufig noch, ohne je ein liebevolles, lobendes oder anspornendes Wort zu hören, muss und wird seelisch verkümmern. Diese seelischen Mangelerscheinungen werden sich auch auf das Körperliche ausdehnen. Gerade bei einem Säugling also, der aus der Flasche ernährt wird, ist darauf zu achten, dass nicht nur sein Hunger, sondern auch sein Bedürfnis nach Liebe und persönlicher Anteilnahme gestillt wird, weil sonst schwere, sogar bleibende Schäden eintreten, die ohne organische Ursachen zum Tod fuhren können.«
»Genug!« Professor Hübners Stimme klang wie ein Peitschenknall. Justus Weigand, der gerade hatte umblättern wollen, ließ das Manuskript sinken und starrte ihn an.
»Wie kommen Sie dazu, solche Behauptungen aufzustellen?« donnerte der Professor.
»Ich... gewisse Beobachtungen...« stotterte er mühsam hervor.
»Was für Beobachtungen? An wie vielen Kindern? Unter welchen Umständen?«
Justus Weigand musste die Antwort schuldig bleiben.
»Reden Sie schon! Was für Untersuchungen haben Sie hinter meinem Rücken in meinem Institut angestellt?«
»Keine, Herr Professor.«
»Wie können Sie es dann wagen...?«
Jetzt endlich hatte Justus Weigand sich von seinem Schock erholt und war wieder imstande, zusammenhängend zu sprechen. »Es ist eine Theorie«, erklärte er. »Sie sagten ja vorhin selbst: eine Theorie, und ich könnte sie ganz gewiss untermauern, wenn ich Zeit und Gelegenheit dazu hätte...«
»Und warum haben Sie nicht, bevor Sie sie niederschrieben, mir diese Theorie vorgetragen und mich um Rat gebeten?«
»Ich wollte Sie ganz gewiss nicht hintergehen, Herr Professor, mir kam dieser Gedanke tatsächlich ganz plötzlich.«
»Und da haben Sie ihn unbekümmert zu Papier gebracht, so als ob es sich um das Ende einer Kette sorgfältiger Überlegungen und nicht um einen schwachen Anfang handelte!«
Justus Weigand konnte den Anblick des Zwickers, der an einer schwarzen Kordel wie rasend um den Zeigefinger des Professors rotierte, nicht mehr länger ertragen, und er zwang sich, einen mächtigen Aschenbecher aus Messing zu fixieren, der mit nackten, nach hinten gebogenen Mädchengestalten geschmückt war. »Ich sehe ja ein, dass es ein Fehler war«, gab er zu.
»Sie begreifen das Fragwürdige Ihrer Theorie?«
»Nein, das nicht, nur... ich habe nicht genug Material, um sie zu stützen.«
»Sehr richtig.« Professor Hübners Stimme klang jetzt milder, der Zwicker begann gemächlicher zu werden. »Sie sind lange genug mein Schüler, um zu wissen, dass man im Bereich der Wissenschaft keine Behauptungen aufstellen darf, solange man außerstande ist, entsprechende Beweise vorzubringen. Ja, ich möchte noch weitergehen und sagen: in der Wissenschaft kann es keine Behauptungen, sondern nur bewiesene Tatsachen geben und sonst gar nichts.«
Justus Weigand hatte das Gefühl, dass es jetzt besser wäre, den Mund zu halten und dem Professor stillschweigend recht zu geben. Aber das wäre ihm zu erbärmlich erschienen. »Meine Theorie«, sagte er starrsinnig, »würde immerhin eine Erklärung dafür bieten, warum die Kindersterblichkeit in den Spitälern und auch in den Findelhäusern immer noch so hoch ist, obwohl es den Kleinen, rein medizinisch gesehen, an nichts fehlt.«
»Dafür, mein lieber Weigand«, parierte der Professor, »gibt es noch eine andere, sehr viel näherliegende Erklärung, nämlich, dass wir rein medizinisch doch noch etwas übersehen haben.«
»Aber das kann ich mir nicht denken, ich habe alles überprüft ... Gerade das macht den Hauptteil meiner Dissertation aus, und ich bin auf keinen Fehler gestoßen, der...«
Professor Hübner ließ seinen Zwicker in der Außentasche seines schwarzen Gehrocks verschwinden und beugte sich vor. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Weigand«, sagte er fast väterlich, »und strengen Sie Ihren Kopf an. Es gibt für Sie nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie ziehen Ihre Dissertation zurück, stellen neue Untersuchungen an, bis Sie so weit sind, dass Sie Ihre Theorie beweisen oder fallenlassen müssen...«
»Dazu würde ich bestimmt noch ein gutes Jahr brauchen« platzte Justus Weigand erschrocken heraus.
»Na eben. Nutzen Sie lieber die andere Möglichkeit, überarbeiten Sie Ihr Manuskript noch einmal, streichen Sie alles heraus, was nicht hieb- und stichfest ist, und geben Sie es in Druck!« Justus Weigand sprang auf. »Herr Professor, Sie meinen... Sie wollen sagen, dass Sie, abgesehen von diesen Kleinigkeiten, mit meiner Dissertation einverstanden sind?«
Professor Hübner hüstelte hinter der vorgehaltenen Hand. »Was hatten Sie denn erwartet? Haben Sie denn wirklich so wenig Selbstvertrauen?«
»Im allgemeinen nicht, nur gerade in diesem Fall...«
»Sie können zum nächsten Termin zur Prüfung antreten, und nachher, Weigand — doch darüber haben wir, glaube ich, schon gesprochen —, fangen Sie als bezahlter Assistent bei mir an, das heißt natürlich, falls Sie keine anderen Pläne haben.«
»Nein, Herr Professor, ich danke Ihnen, Herr Professor«, versicherte Justus Weigand und sein markantes, hohlwangiges Gesicht glühte geradezu vor Erleichterung.
»Sie brauchen mir nicht zu danken, Weigand, Sie wissen ja so gut wie ich, dass Sie als mein Assistent nicht reich werden, nicht einmal eine Familie ernähren können. Ich bin mindestens so sehr auf die Mitarbeit idealistisch denkender intelligenter junger Leute angewiesen wie umgekehrt.« Professor Hübner zog seinen Kneifer aus der Tasche, setzte ihn sehr nachdrücklich auf den schmalen Nasenrücken und blickte den jungen Doktoranden durch die blitzenden Gläser an. »Aber Sie werden in dieser Stellung Gelegenheit haben, die notwendigen Untersuchungen zu dem von Ihnen, angeschnittenen Thema anzustellen; wenn Sie Glück haben, reicht es vielleicht sogar zur Habilitation.«
»Herr Professor, Sie halten es also nicht für ganz und gar ausgeschlossen?«
»Nicht, solange mir nicht ein überzeugender Gegenbeweis erbracht wird.« Professor Hübner erhob sich und reichte ihm seine schmale, knochige Hand über den Schreibtisch. »Und
nun klemmen Sie sich Ihre Dissertation wieder unter den Arm und machen Sie sich noch einmal an die Arbeit.«
Justus Weigand ergriff die Hand des ebenso verehrten wie gefürchteten Mannes, verbeugte sich tief, tastete sich rückwärts zur Tür und hielt dabei sein Manuskript krampfhaft umklammert.
Aber er war noch nicht endgültig entlassen.
»Moment mal«, sagte Professor Hübner, »da war doch noch etwas ...?« Er griff sich an die Stirn. »Ach ja, Ihr Wunderkind! Es kann auf keinen Fall mehr noch länger auf der Station bleiben, es ist zu groß geworden.«
»Aber Senta stört doch niemanden«, wagte Justus Weigand .zu widersprechen.
»Doch. Mich. Und nicht nur mich, auch die Schwestern. Jaja, ich weiß, was Sie sagen wollen, die Kleine ist allen ans Herz gewachsen. Gerade deshalb muss sie verschwinden. Sie erweckt mütterliche Gefühle in unseren Diakonissen, und das ist nicht gut. Sie müssen für jeden Säugling da sein und gleichzeitig bereit sein, ihn auch wieder herzugeben. Für private Bindungen ist auf meiner Station kein Raum.«
»Ja, Herr Professor«, sagte Justus Weigand niedergeschlagen.
»Sie haben wohl noch keinen Pflegeplatz gefunden? Kann ich mir lebhaft vorstellen, das dürfte wohl auch nicht so einfach für einen mittellosen jungen Mann sein. Hören Sie auf meinen Rat: Befreien Sie sich von diesem Kind. Es zu behalten, wäre ein Luxus, den Sie sich nicht leisten können!«
»Ja, Herr Professor«, wiederholte Justus Weigand scheinbar gefügig, obwohl er nicht eine Sekunde daran dachte, sich endgültig von seinem Schützling zu trennen. Aber er wusste, dass er sich über dieses Thema eine Auseinandersetzung mit seinem Professor einfach nicht erlauben konnte.

 

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