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Eine Liebe in Berlin

11.10.15 20:25
Re: Eine Liebe in Berlin
 
regrem патриот
в ответ regrem 07.10.15 20:04, Последний раз изменено 11.11.15 07:38 (regrem)
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Als Justus Weigand sich am nächsten Nachmittag durch das eiserne Drehkreuz in das Gelände des Zoologischen Gartens schob, wurde ihm mit leiser Beschämung bewusst, dass er in all den Jahren, die er schon in der Hauptstadt lebte, diese moderne Errungenschaft, auf die die Berliner so stolz waren, bisher nur ein einziges Mal, und zwar als grüner Provinzjunge, besucht hatte. Seitdem hatte es ihm stets an Zeit, Geld und auch — er musste es sich ehrlich zugeben — an Interesse gefehlt, das Tiergehege zu besichtigen.
Dabei, dachte er jetzt flüchtig, wäre es vielleicht ganz lohnend gewesen, die Lebensgewohnheiten wilder Tiere zu studieren und sie mit dem Verhalten ihrer menschlichen Verwandten in entsprechenden Situationen zu vergleichen. Gerade zwischen den von der Zivilisation noch kaum berührten Neugeborenen und den Tieren mussten doch Ähnlichkeiten bestehen, die der ärztlichen Wissenschaft vielleicht weiterhelfen konnten. Untersuchungen oder gar Experimente an Kindern sind aus moralischen, aber auch aus praktischen Gründen immer misslich. Vielleicht würden sich durch exakte Beobachtung von Tieren ganz neue Wege eröffnen...
Aber er vergaß diese Idee so rasch, wie sie ihm gekommen war. Er fühlte sich im Moment zu sachlichem Denken ganz und gar unfähig. Er hatte keinen Blick für den Wapiti Hirsch, der mit seiner Herde ziemlich lethargisch hinter den eisernen Gittern seines Geheges stand, ebenso wenig für das riesige Elefantenhaus, das mit seinen ornamentalen Mosaiken stark an eine islamische Moschee erinnerte, und er achtete nicht auf die Giraffen, die Zebras oder den Königstiger; er war ganz von dem Gefühl beherrscht, das ihn Stefanie von Stucken entgegendrängte.
Je weiter er vorwärts schritt, desto größer wurde seine Angst, Stefanie würde ihr Versprechen vielleicht nicht wahrmachen oder durch ein Machtwort ihrer Eltern verhindert sein, zu kommen. Aber dann sah er sie und erkannte sie sofort, obwohl sie mit dem Gesicht zum Schimpansen käfig stand. Das helle braune Gelock, mit einer schwarzen Samtschleife am Hinterkopf gebändigt, fiel ihr über den Rücken. Darüber thronte der unerlässliche kleine Hut, diesmal in Weiß, mit gerafften Schleiern garniert und mit kleinen bunten Früchten geschmückt.
Leise, um das Bild so lange wie möglich genießen zu können, trat er näher und stellte mit plötzlicher Beklemmung fest, dass die Schimpansen, deren Tun sie so aufmerksam beobachtete, Dinge trieben, die keineswegs für das Auge einer wohlerzogenen jungen Dame geeignet sein konnten. Völlig schamlos gaben sie sich ihrer frühlingshaft erwachten Sexualität hin, so geil und unbekümmert, dass selbst ein Müllkutscher bei diesem Anblick errötet wäre.
Justus Weigand jedenfalls wurde rot, nicht um seiner, sondern um Stefanies willen, und er wäre liebend gerne in den Erdboden versunken, falls das möglich gewesen wäre. Er bemühte sich, sich zu fassen, überlegte krampfhaft, was er jetzt sagen könnte, um die Situation zu entschärfen, und räusperte sich.
Erst jetzt wurde ihr seine Anwesenheit bewusst. Stefanie wandte sich zu ihm und sah ihn mit klaren Augen lächelnd an. »Sind sie nicht possierlich?« rief sie arglos.
Erleichtert begriff er, dass ihr das Wesen dieser äffischen Vergnügungen gar nicht aufgegangen war und sie die teilweise geradezu perversen Paarungen für harmlose Spielereien hielt.
»Ja, sehr«, bestätigte er mit gepresster Stimme.
Sie reichte ihm die Hand zum Gruß, er ergriff sie und zog Stefanie rasch mit sich fort, weg vom Affenhaus und hin auf die breite Allee, die das Freigelände in weitem Bogen durchzog.
»Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind, Justus«, gestand sie ohne jede Koketterie und schwenkte dabei die Notenmappe in ihrer Linken.
»Mein kleines Schulmädchen«, sagte er zärtlich.
Der leise Anflug eines Ärgers huschte über ihre runde glatte Stirn. »Ich bin kein Kind mehr.«
»Ich weiß. Leider. Wir hätten uns schon als Kinder kennen sollen, da hätten wir wunderbar zusammen gespielt.«
»O nein! Ich weiß, wie große Jungens sind. Sie hätten mich kleines dummes Mädchen gar nicht beachtet.«
»Ich fürchte eher, Sie hätten Ihr Naschen über mich gerümpft. Sie wären die kleine verwöhnte Prinzessin gewesen, ich nur der schlecht angezogene, linkische Junge aus dem Hinterhaus.«
Sie lächelte zu ihm auf, und in ihren braunen Augen tanzten die kleinen goldenen Funken, die er so sehr liebte. »Sie müssen also zugeben, es ist doch besser, dass wir uns jetzt erst kennengelernt haben.« Dann senkte sie die dichten, seidigen Wimpern, und indem sie den obersten Knopf seines Mantels fixierte, fügte sie hinzu: »Allerdings heißt es ja, dass Sie eine besondere Vorliebe für ganz, ganz kleine Mädchen haben....«
Er wusste sofort, worauf sie anspielte. »Sie tun recht, mich danach zu fragen, Stefanie, ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig.«
Sie fiel ihm ins Wort. »Aber nein! Eine Erklärung schuldig! Wie steif und unfreundlich Sie sich manchmal aus-drücken. Sie sind mir gar nichts schuldig, Justus. Nur ich — ich bin nun einmal furchtbar neugierig. Das ist ungezogen von mir, ich weiß. Sie müssen mir das verzeihen.«
»Ich bin ja froh, dass Sie mir Gelegenheit geben, alles zu sagen... Ihr Vater schien ganz überzeugt, dass ... und ich war so wütend, dass ich ihn dabei gelassen habe«, stotterte Justus Weigand, ehe es ihm gelang, sich zu fassen. »Tatsächlich ist Senta nicht meine leibliche Tochter, aber sie bedeutet mir sehr viel. Ich habe ihr ans Licht der Welt geholfen, unter sehr dramatischen Umständen. Sie verdankt mir ihr Leben, verstehen Sie? Und deshalb fühle ich mich für sie' verantwortlich. Ich konnte doch nicht einfach sagen: So, jetzt lebst du! Sei dankbar dafür und sieh zu, wie du zurechtkommst! - Ich musste mich doch auch weiterhin um sie kümmern, da ihre Mutter nichts von ihr wissen wollte. Aber es ist nicht etwa nur Mitleid, was ich für das Kind empfinde, sondern ... es bedeutet mir eben sehr viel.«
»Ja, das verstehe ich gut«, sagte Stefanie sehr ernsthaft, aber wahrscheinlich hätte sie, wenn er ihr einen Mord gestanden hätte, genau dasselbe gesagt.
Sie waren indessen ein gutes Stück die Hauptallee hinuntergeschlendert. Jetzt blieb er stehen und rief: »Ich wusste es! Ich wusste, dass Sie mich begreifen würden, Stefanie! Sie ahnen nicht, wie glücklich mich das macht.«
»Ich habe es erst jetzt richtig verstanden, nachdem Sie es mir erzählt haben«, gestand sie, »aber ich habe nie daran gezweifelt, dass nur edle Beweggründe Sie zu dieser Anteilnahme getrieben haben konnten. Zu etwas Schlechtem oder Niedrigem sind Sie gewiss nicht fähig.«
Ein Glücksgefühl überfiel ihn, wie er es noch nie zuvor gekannt hatte.
»Wie ich dich liebe, Stefanie!« sagte er aus tiefstem Herzen. Er hatte niemals vorgehabt, ihr dieses Geständnis zu machen, das doch, wie er ganz klar begriff, zu nichts führen und ihnen beiden die Situation nur erschweren konnte. Aber nun, da er es einmal gesagt hatte, fühlte er sich erleichtert wie nach einer körperlichen Erlösung. Selbst wenn sie empört oder gekränkt gewesen wäre, er hätte es nicht bereut.
Doch sie hob nur ihr reines, offenes Gericht zu ihm auf, wie eine Blume, die sich der Sonne zuwendet. »Ich dich auch, Justus«, sagte sie einfach, »vom ersten Augenblick an... beim großen See im Tiergarten!«
»Ich bin glücklich und verzweifelt zugleich. Wir haben keine Chance, Stefanie — nicht die geringste.« Er wartete ab, und erst, als weder Widerspruch noch Zuneigung von ihr kam, fuhr er fort: »Dein Vater würde uns niemals seine Einwilligung geben. Und selbst wenn ich dich entführte...«
»Ich würde dir folgen, bis ans Ende der Welt.«
»Aber nicht einmal dort könnte ich dich ernähren!«
»Wenn du nur ahntest, wie wenig ich esse«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns.
»Selbst das wenige kann ich dir nicht bieten. Ich bin ein ganz armer Hund, Stefanie. Ich kann gerade mich und die kleine Senta durchbringen, vielleicht nicht einmal das. Es kann durchaus passieren, dass ich mich eines Tages doch von ihr trennen muss.«
»Wenn ich arbeiten würde...« begann sie, unterbrach sich dann aber selbst. »Nein, sag nichts, du hast natürlich recht. Ich habe nichts gelernt außer ein bisschen Französisch, Klavierklimpern, Kochen, Haushaltsführung, aber daraus kann
man keinen Beruf machen. Gibt es denn gar keinen Ausweg?«
»Ich habe mir den Kopf zerbrochen... ich habe keine Lösung gefunden. Vielleicht wenn ich deinem Papa gegenüber diplomatischer gewesen wäre...«
»Mach dir deshalb keine Vorwürfe«, sagte sie rasch, »ich kenne Papa. Du darfst nicht denken, dass ich ihn nicht liebhabe, aber ich weiß, wie er sein kann. Es ist seine Spezialität, den Gesprächspartner jederzeit ins Unrecht setzen zu können, und er wendet diese Fähigkeit stets an, wenn er etwas erreichen will, auch uns, seiner Familie gegenüber. Egon ist niemals gegen ihn angekommen. Wie solltest du es dann?«
»Im Gegenteil. Ich gehöre wahrscheinlich zu den wenigen Menschen, die ihm einmal gründlich die Meinung gesagt haben. Aber gerade das wird er mir nie verzeihen.«
Sie hatten das Ende der Hauptallee fast erreicht und schlugen jetzt einen Nebenweg ein. Beiden war das Herz sehr schwer, und sie wussten nichts mehr zu sagen, weil sie fürchteten, dass jedes Wort ihren Kummer nur noch vertiefen würde.
»Aber eines Tages«, sagte sie endlich, »wirst du Professor sein, ein berühmter Mann...«
»Vielleicht. Aber das kann noch zehn Jahre dauern, und es gehört eine tüchtige Portion Glück dazu.«
»Ich wäre dann gerade achtundzwanzig ... wäre ich dir zu alt?«
Er blieb stehen und nahm ihre beiden Hände, er konnte einfach nicht anders. »Ich werde dich immer lieben, Stefanie, mein ganzes Leben!« schwor er.
»Dann werde ich auf dich warten.«
»Nein, Stefanie, tu das nicht! Vergeude nicht deine Jugend! Warte nicht auf ein Glück, das vielleicht nie kommen wird. Niemand kann dir garantieren...«
Sie sah ihm gerade in die Augen. »Wie kommst du darauf, dass ich von dir oder vom Schicksal eine Garantie erwarte?«
»Stefanie!«
Er war nahe daran, sie. — aller Vernunft und Vorsicht zum Trotz — nun doch in die Arme zu schließen... aber da traf ihn ein heftiger Stoß gegen das Knie. Er ließ Stefanie los, fuhr zurück und brauchte unverhältnismäßig lange, um zu begreifen, dass der Stoß durch einen Ball verursacht worden war, der jetzt, rot und sich noch ein wenig drehend, vor dem Saum von Stefanies langem Rock lag. Justus bückte sich und stieß mit einem kleinen Jungen zusammen, der im selben Augenblick nach dem Ball grapschte.
Beide sahen einander verblüfft an. Justus Weigand hatte den Ball erobert, und der kleine Junge rieb sich den schmerzenden Kopf. Er trug einen weißseidenen Anzug, dessen enge Hosen bis zu den Waden reichten und dort mit Perlmuttknöpfen geschmückt waren, unter dem Kinn war ein breites dunkelblaues Band zu einer riesigen Schleife gebunden, und sein braunlockiges Haar war so lang, dass es ihm fast bis auf die Schultern reichte.
Es war der kleine Fritz Thielemann, aber Justus Weigand kannte ihn nicht und war weit davon entfernt, auch nur zu ahnen, was in den nächsten Minuten auf ihn zukommen sollte.
»Guten Tag, Fritz«, sagte Stefanie gefasst und reichte dem Jungen die Hand.
Fritz machte einen tadellosen Diener. »Guten Tag, Tante Stefanie!« Dann blickte er zu ihrem Begleiter auf. »Kann ich meinen Ball jetzt bitte wiederhaben?«
Justus Weigand versuchte, die Folgen dieser unverhofften und unerwünschten Begegnung abzuwenden. »Nur wenn du mir versprichst...« begann er.
Aber da entdeckte er — über Fritzens Kopf hinweg — seine Cousine Clementine Hergert. Sie stand, die beiden kleinen Mädchen an der Hand, am Gitter des Eisbärkäfigs und blickte starr zu ihm herüber, hochaufgerichtet, die schwarzen Augen flammend vor Zorn, die Lippen fest aufeinandergepresst. Sie war in diesem Moment geradezu schön, manchen Maler hätte ihr Anblick begeistert: die stolze Haltung, das hocherhobene Haupt mit dem aufgesteckten tiefschwarzen Haar, die üppigen und doch festen Formen ihres Körpers.
Justus Weigand sah das alles nicht; sie war ihm viel zu vertraut, als dass er ihren weiblichen Reiz empfunden hätte. Er spürte bei ihrem Anblick nichts als ein würgendes Unbehagen und das heftige Bedürfnis, Stefanie zu schützen. »Hallo Clementine«, sagte er, und dann: »Gnädiges Fräulein, darf ich Ihnen meine Cousine Clementine Hergert vorstellen.«
Stefanie trat auf Clementine zu, ihrem damenhaft beherrschten Gesicht war nicht anzusehen, wie unangenehm ihr die Begegnung war. »Wir kennen uns«, sagte sie und reichte Clementine liebenswürdig die Hand, »das Fräulein betreut die Thielemannschen Kinder.«
Clementine war, obwohl sie, wie es ihrer dienenden Stellung entsprach, keinen Hut trug, doch um gut einen Kopf größer als Stefanie. Sie ergriff die ihr dargebotene Hand nicht, streifte Stefanie nur mit einem funkelnden Blick und wandte sich dann zu Justus. »Hier vertrödelst du also deine Zeit«, sagte sie mit leidenschaftlich bebender Stimme, »und deiner guten Mutter und mir machst du vor, dass du weiß Gott was zu arbeiten hättest!«
Stefanie meisterte die peinliche Situation, indem sie die ausgeschlagene Hand erst Marie reichte und sich dann zu der kleineren Schwester hinabbeugte und sie auf die Wangen küsste.
»Was fällt dir ein?« gab Justus Weigand, mindestens so wütend wie seine Cousine, zurück. »Wer gibt dir das Recht, mir Vorhaltungen zu machen?«
»Ich habe deiner Mutter versprochen...«
»Ach was, meine Mutter kann niemals so etwas von dir verlangt haben!«
»Ich habe es freiwillig getan, weil ich mich für dich verantwortlich fühle.«
»Sie hätte nie im Traum daran gedacht, mir eine Aufpasserin wie dich zuzumuten!«
Stefanie von Stucken trat neben ihn. »Entschuldige, bitte, Justus, aber ich muss mich beeilen...«
»Stefanie!«
Sie lächelte ihn an, aber in ihren Augen war jeder Stern erloschen. »Leb wohl, Justus... mach's gut!« Sie eilte davon.
Er stand wie angewurzelt, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Stefanie zu begleiten, und der Verpflichtung, mit Clementine ins Reine zu kommen.
»Ihr duzt euch also«, sagte das Mädchen voll Bitterkeit, »und mir wolltest du vormachen...«
»Ja, weil ich deine verdammte Eifersucht, deine Rechthaberei und deine Anmaßung nur zu gut kenne!« Erst jetzt merkte er, dass er den roten Ball noch immer in der Hand hielt, und schleuderte ihn voll Zorn von sich.
Der kleine Thielemann stob los und versuchte ihn wieder einzufangen.
»Habe ich denn keinen Grund zur Eifersucht?«
»Du hast kein Recht dazu!«
»Das ist keine Antwort.«
»O doch, das enthält alles. Aber wenn du nicht verstehen willst, muss ich wohl deutlicher werden. Ich liebe Stefanie von Stucken.«
Clementine zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb, und ihre braunen, gesunden Wangen färbten sich plötzlich noch röter.
»Weil ich dir gleichgültig bin.«
»Nein, sondern weil ich dich nicht liebe. Zwischen Gleichgültig sein und Nichtlieben ist ein gewaltiger Unterschied.
Aber wahrscheinlich tröstet es dich, zu erfahren, dass Stefanie von Stucken für mich so unerreichbar ist wie die Mond Fee. An eine Verbindung zwischen uns ist überhaupt nicht zu denken.«
»Warum trefft ihr euch dann?« fragte Clementine, ebenso logisch wie hartnäckig.
»Um uns für alle Zeiten adieu zu sagen. Das müsste dich doch freuen, wie? Also mach nicht so ein Gesicht, du hast allen Grund zum Lachen.«
»Ja, ich war selten so vergnügt«, sagte Clementine ätzend und nahm die beiden kleinen Mädchen fester an die Hand. »Komm, Fritz, wir wollen weiter!«
Justus Weigand vertrat ihr den Weg. »Wenn du einem Menschen ein Wort von Stefanie und mir erzählst oder auch nur den Kindern erlaubst, dass sie darüber plaudern...«
Sie warf den Kopf in den Nacken und sah ihm unerschrocken in die Augen. »Was dann?«
Ihm wurde klar, dass Clementine keinen Grund hatte, Stefanie zu schonen, und weit davon entfernt war, sich einschüchtern zu lassen. »Dann würdest du mein Leben aufs Spiel setzen«, behauptete er. »Du solltest wissen, dass Fräulein von Stuckens Bruder Offizier ist. Wenn er von dieser Begegnung erfährt, wird er mich fordern müssen.«
Die Verkrampfung ihrer Züge löste sich sofort. »Um Gottes willen, Justus, wäre das tatsächlich möglich?«
»Und ob! Aber es würde dir ja kaum etwas ausmachen. Vielleicht würde es dich sogar freuen, mich sterbend auf dem Boden zu sehen.«
»Wie boshaft du bist«, sagte sie, »und wie wenig du mich kennst.«
»Verzeih mir, irgendwie muss ich meinen Zorn ja auch losbekommen, nicht wahr? Natürlich weiß ich, dass du zu so etwas nicht fähig wärst, du bist ein gutes Mädchen, und deshalb vertraue ich dir auch.«
Er tat, was er bei Stefanie nie gewagt hätte: er nahm sie in die Arme und küsste sie auf beide Wangen. »Übrigens habe ich ganz vergessen, dir zu danken.«
»Wofür?«
»Ach, du weißt schon. ..«
Die Glocken der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche verkündeten die fünfte Stunde. Justus nahm es zum willkommenen Anlass, sich zu verabschieden. »Tut mir leid, altes Mädchen, ich muss sausen«, sagte er, »mein Professor erwartet mich zu einer Besprechung« Er lief davon, noch ehe er ganz ausgesprochen hatte.
»Wann ...?« rief sie ihm nach. Aber das jetzt heftig einsetzende Glockengeläute verschlang ihre Frage.
Justus Weigand wendete sich nicht ein einziges Mal mehr um. Er bog in die Hauptallee ein und rannte das letzte Stück, bis er den Eingang erreichte. Aber er sah Stefanie von Stucken nirgends mehr.

 

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