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Eine Liebe in Berlin

14.10.15 20:37
Re: Eine Liebe in Berlin
 
regrem патриот
в ответ regrem 07.10.15 20:04, Последний раз изменено 12.11.15 07:55 (regrem)
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Egon von Stucken hatte ursprünglich vorgehabt, den Schmuck der Schwester erst am anderen Morgen zu versetzen. Aber in dem Augenblick, da Stefanie ihm die kleine, mit rotem Saffianleder bezogene Kassette überreichte, hatte ihn eine große Unruhe erfasst. Er konnte nicht länger untätig sein oder sich gleichgültigen Dingen widmen; er musste sein Glück zwingen, so bald wie möglich, noch heute, noch diese Nacht.
Die Gelegenheit war günstig. Seine Eltern hatten sich schon zurückgezogen, als er die Wohnung betrat. Er musste nicht einmal lügen oder sich eine Entschuldigung ausdenken, um wieder verschwinden zu können.
Er klopfte am Zimmer seiner Schwester an und sagte, als sie den Kopf heraussteckte: »Verrate niemandem, dass ich da war, hörst du?«
»Du willst schon wieder fort?«
»Je eher ich es hinter mich bringe, desto besser. Wenn alles gutgeht, hast du deinen Schmuck schon morgen wieder zurück.«
»Ach, das eilt doch nicht so«, sagte sie.
»Mir schon. Und wenn ich mein Glück gemacht habe, dann werde ich auch für dich eintreten, Stefanie, verlass dich darauf.«
Aber sie war fern aller Hoffnung. »Lieb von dir, dass du das sagst«, erwiderte sie. »Warte, ich werde dich hinauslassen.«
Sie zog die Tür ihres Zimmers zu, erschien wenig später wieder auf der Schwelle, mit Pantöffelchen an den Füßen und ganz in einen Morgenrock aus Brüsseler Spitzen gehüllt, das goldbraune Haar schon zur Nacht gelöst.
»Wie hübsch du bist«, sagte er, und sekundenlang überfiel ihn eine Welle heftiger Eifersucht; der Gedanke, dass ausgerechnet der eitle, selbstgefällige Hugo Donnersberg seine zarte Schwester besitzen sollte, war ihm ganz unerträglich. Aber dieser Anfall ging so rasch vorüber, wie er gekommen war, denn seine eigenen Probleme waren ihm doch hundertmal wichtiger.
Nebeneinander liefen die Geschwister durch das kalte, düstere Treppenhaus hinunter, das nur von der kleinen Lampe erleuchtet wurde, die Egon von Stucken trug. Dann schloss Stefanie die Haustür mit dem schweren alten Schlüssel auf, ein flüchtiger Kuss, und Egon stand allein, die Schmuckkassette unter dem Mantel eng an die Brust gedrückt, auf der nächtlichen Straße. An der Ecke Unter den Linden nahm er sich eine Droschke und ließ sich zum Schlesischen Tor bringen. Er sah wohl ein, dass es klüger gewesen wäre, zu Fuß zu gehen, anstatt sein letztes Bargeld für die Fahrt auszugeben, denn wenn es ihm nicht gelang, noch in dieser Nacht Geld aufzutreiben, geriet er in eine sehr unangenehme Lage. Aber seine Ungeduld war zu groß, als dass er sich lange mit vernünftigen Überlegungen hätte aufhalten mögen. Es trieb ihn voran, weiter, er wollte und musste so schnell wie möglich ans Ziel kommen. Er ermunterte den Kutscher, und die Droschke flog nur so durch die leeren Straßen.
Beim Schlesischen Tor stieg er aus, entlohnte den Kutscher und wandte sich nach links, dem eigentlichen Dirnen-und Verbrecherviertel zu.
Obwohl er in Berlin geboren und fast ein Vierteljahrhundert in dieser Stadt gelebt hatte, war ihm dieses Quartier bis vor kurzem noch völlig fremd gewesen. Erst seit ihn das qualvolle Fieber seiner selbstzerstörerischen Leidenschaft für die rothaarige Lolo, die einmal seine geliebte kleine Lotte gewesen war, gepackt hatte, hatten selbst die dunkelsten Gegenden der Millionenstadt ihre Schrecken für ihn verloren.
Unbekümmert schritt er über das rumplige, verfallene Pflaster der düsteren Gässchen, vorbei an den schmalen, baufälligen Häusern, in deren halboffenen Türen Dirnen und Zuhälter auf Kundschaft lauerten. Die Beleuchtung war miserabel und bestand aus nicht mehr als einer Stalllaterne an jeder Straßenecke. Es wäre noch dunkler gewesen, wenn nicht einige der Kaschemmen mit roten Laternen gelockt hätten und manchmal ein mattes Licht durch die Fenster auf die Straße gefallen wäre.
Egon von Stucken marschierte so sicher voran, dass niemand auf den Gedanken kam, ihn anzusprechen oder aufzuhalten. Er kannte sein Ziel und hatte es nach etwa zehn Minuten erreicht, ein niedriges Häuschen, das sich zwischen zwei größeren duckte. Das Tor war geschlossen, und die Fenster waren mit eisernen Läden gesichert. Es lag in absoluter Dunkelheit da. Dennoch schlug er mit beiden Fäusten gegen die Tür, schrie: »Aufmachen! Frau Koltschak, lassen Sie mich ein!« Sein Ruf gellte durch die enge Gasse.
Aus den anderen Häusern trat allerhand Gesindel, aber von drinnen war nichts zu hören als das klägliche Maunzen eines Kätzchens.
Egon von Stucken gab nicht auf. Er polterte weiter gegen die Tür und brüllte, bis ihm die Kehle schmerzte.
Ein Mädchen in einem schmutzigen, ehemals roten Kleid und in ausgetretenen Pantoffeln war hinter ihn getreten und sagte: »Det nützt nichts, Männeken. Wenn die Koltschak mal pennt, denn pennt se. Aber wenn du keen Geld hast, ick lass mit mir reden.«
»Halt den Mund«, sagte er ärgerlich, »kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.«
»Denn nich, liebe Tante. Wer nich will, hat schon jehabt«, sagte die Schlampe und verzog sich mit einem beleidigten Schulterzucken.
Egon von Stucken versuchte es noch einmal, ein letztes Mal, und endlich tat sich etwas. Der Riegel eines eisernen Fensterladens im ersten Stock des Hauses wurde von innen zurückgezogen, dann der Laden aufgestoßen, und ein weißes Gesicht mit wirrem grauen Haar wurde im Schein einer flackernden Kerze sichtbar.
»Frau Koltschak - endlich!« rief Egon von Stucken. »Ich möchte Ihnen etwas bringen.«
Sie hielt die Kerze mit ausgestrecktem Arm weit hinaus, um erkennen zu können, wer denn da mit ihr sprach. »Ach, du bist's, Jungchen...«
»Lassen Sie mich hinein, bitte!«
»Hast du das Geld?«
»Nein, aber dafür etwas anderes, etwas sehr Schönes, Frau Koltschak!«
Wortlos verschloss die Alte erst den Laden und dann das Fenster. Das Haus lag wieder dunkel und tot wie zuvor da. Egon von Stucken war nicht sicher, ob seine Bitten etwas bewirkt hatten oder ob sich Frau Koltschak am Ende einfach wieder ins Bett gelegt hatte. Er wartete in verzehrender Spannung.
Endlich wurde die Tür doch geöffnet, sehr vorsichtig, nur einen Spaltbreit, eben groß genug, dass er hindurch schlüpfen konnte. Er stand der Alten gegenüber, die die Tür sofort wieder hinter ihm verriegelte.
»Die Menschen sind schlecht, Jungchen«, murmelte sie, »man muss vorsichtig sein, besonders bei Nacht.« Sie schlurfte vor ihm her über die ausgetretenen Steine des Ganges in das kleine Kontor.
Er war schon mehrfach hier gewesen, hatte seine goldene Uhr und den schweren alten Siegelring mit dem Wappen derer von Hachwitz versetzt und die Pretiosen bei der nächsten Löhnung, oder wenn das Glück ihm gelacht hatte, wieder ausgelöst. Bei Tag war ihm alles grau, abstoßend, schmutzig erschienen, jetzt aber, zur nachmitternächtlichen Stunde, wirkte die alte Frau mit dem unheimlich weißen Gesicht und dem grauen, verfilzten Haar geradezu unheimlich.
Als ihm etwas um die Beine strich, hätte er beinahe aufgeschrien, so sehr erschrak er, aber dann erkannte er, dass es nur die schwarze Katze der Koltschak war. Liebend gern hätte er das Tier mit einem Tritt weit von sich befördert, aber er wagte es nicht, um ja nicht den Zorn der Alten zu reizen. Dennoch schien die Katze seine Antipathie zu spüren, sie machte einen Buckel, stellte den Schwanz auf und sträubte die Haare.
Frau Koltschak nahm auf einem alten abgewetzten Sessel hinter dem Tisch Platz und wies Egon einen erbärmlichen Küchenstuhl an. »Setz dich, Junge«, nuschelte sie, »lass sehen, was du mitgebracht hast.«
Man musste gut hinhören, um zu verstehen, was sie sagte, denn da sie keinen einzigen Zahn mehr im Mund hatte, artikulierte sie ihre Worte kaum noch.
Egon von Stucken knöpfte den Mantel auf, stellte die Kassette vor sie auf den altväterischen Schreibtisch, zog das Schlüsselchen, das Stefanie ihm zugesteckt hatte, aus der Westentasche und schloss auf.
Frau Koltschak öffnete das Kästchen, nahm die Ringe, Ketten, Armbänder und Ohrringe aus ihrem Bett von blauem Samt und ließ sie durch ihre weißen, spinnendürren Finger gleiten.
»Woher hast du das alles, Jungchen?« fragte sie. »Von einer Freundin?«
»Nein, von meiner Schwester.«
»Dann hast du sicher auch ein Briefchen mit, in welchem sie dir bestätigt, dass du mit ihrem Schmuck tun und lassen darfst, was du willst.«
»Nein«, sagte er, »daran haben wir überhaupt nicht gedacht. Aber ich habe ihr gesagt, dass ich ihn versetzen will, weil ich dringend Geld brauche.«
»Ja, das sagst du, und ich kann es dir glauben oder nicht.«
»Ich nehme es auf meinen Eid, Frau Koltschak... ich beschwöre es bei meiner Ehre!«
»Ja, ja, bei deiner Ehre. Aber wie lange wirst du die noch haben? Wo das Geld fehlt, ist auch die Ehre schnell dahin, Jungchen.«
Er verlegte sich aufs Flehen. »Bitte, so glauben Sie mir doch!«
»Und wenn du mich anlügst? Mag sein, dass der Schmuck von deiner Schwester stammt, sieht ganz so aus wie die kleinen Kostbarkeiten eines braven Mädchens. Aber wer garantiert mir, dass sie ihn dir wirklich freiwillig gegeben hat, Jungchen, und du ihn dir nicht heimlich genommen hast?«
»Ich gebe Ihnen mein Wort...«
»Ja, ja, dein Wort, das soll für alles gut sein. Aber ein Wort bedeutet nichts, gar nichts. Geld, das ist etwas, Besitz, der hat Wert, aber ein Wort?« Sie warf den Schmuck mit betonter Achtlosigkeit wieder in das Kästchen zurück. »Was willst du denn für den Kram haben?«
»Tausend Mark«, sagte er kühn.
Sie klappte den Deckel der Kassette zu. »Komm wieder, wenn du nüchtern bist.«
»Aber ich habe nichts getrunken, ganz gewiss nicht! Der Schmuck ist mehr als tausend Mark wert, mehr als das Doppelte. Tausend Mark hat allein die Kette gekostet, die mein Vater meiner Schwester zu ihrer Verlobung geschenkt hat.«
»Wenn dein Vater ein so reicher Mann ist, dann lass dir das Geld doch von ihm geben.«
»Bitte, Frau Koltschak, haben Sie doch ein Herz!«
»Und wer hat ein Herz für mich alte Frau, wenn die Polizei kommt und das Diebesgut bei mir findet?«
»Frau Koltschak, wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass die Sachen nicht gestohlen sind!«
»Ich gebe dir vierhundertundfünfzig Mark, und du unterschreibst mir, dass du fünfhundert bekommen hast...«
»Vierhundertfünfzig? Das ist viel zu wenig, das ist ja geradezu lächerlich!«
»Mehr kann ich dir nicht geben, und mehr habe ich auch gar nicht im Haus.«
Sie feilschten noch eine Weile hin und her. Egon von Stucken bemühte sich ohne jede Hoffnung, den Preis hinaufzutreiben, und tat es nur noch deshalb, weil er sich nicht so leicht geschlagen geben wollte. Er wusste wohl, dass er der harten, gierigen alten Frau in keiner Weise gewachsen war, aber er hätte noch zu ganz anderen Bedingungen unterschrieben, nur um Bargeld in die Hand zu bekommen.
Die Alte war zu vorsichtig, ihm zu zeigen, wo sie ihr Geld aufbewahrte. Sie verließ das Zimmer, schloss die Tür hinter sich zu. Er hatte den Eindruck, dass sie die Treppe hinaufging, wagte aber nicht, ihr nachzuspionieren. Wenig später kam sie mit dem abgezählten Geld, einem schmalen Bündel schmieriger, abgegriffener Scheine, zurück.
Er steckte es ein, ohne nachzuzählen, unterzeichnete die Quittung, die sie ihm umständlich ausschrieb, und nahm dann ihre Quittung in Empfang.
»Hör auf meinen Rat, Jungchen«, nuschelte die Alte, als sie ihn zur Tür brachte, »geh nach Hause, steck dir das Geld unters Kopfkissen und leg dich schlafen. Morgen früh kannst du es vermehren, heute Nacht wirst du es verlieren.«
Aber er kannte ihre trübsinnigen Redensarten und achtete längst nicht mehr darauf.

 

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