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Eine Liebe in Berlin

14.10.15 20:39
Re: Eine Liebe in Berlin
 
regrem патриот
в ответ regrem 07.10.15 20:04, Последний раз изменено 12.11.15 07:58 (regrem)
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Clementine Hergert war dem Kutscher Otto Jahn seit jenem Zwischenfall im nächtlichen Stall ganz bewusst aus dem Weg gegangen. Sie schämte sich nicht und nahm ihm sein sehr männliches und direktes Vorgehen auch nicht übel, aber sie musste erst mit dem, was ihr zugestoßen war, fertig werden, es passte nicht in das Bild, das sie sich von sich selbst gemacht hatte.
Sie war durchaus überzeugt, dass Jahn es mit seinem Heiratsantrag ernst gemeint hatte. Denn auch ohne dass er wusste, dass sie außer ihren Ersparnissen noch über eine kleine Erbschaft verfügte, war sie für ihn eine gute Partie. Die Frage war nur, ob er für sie auch der richtige Mann war.
Clementine lebte noch nicht lange genug in Berlin, um sich den Maßstäben der Großstadt angepasst zu haben. Für sie war noch immer das Urteil der Provinz, die Meinung Görzens ausschlaggebend. Sie musste selbst zugeben, dass man in ihrem Heimatdorf eine Verbindung zwischen ihr und einem langgedienten Soldaten und künftigen Fuhrunternehmer als vollkommen passend ansehen würde.
Was die Leute sagen würden, konnte sie sich nur zu gut vorstellen: »Weigands Clementine...« so nannte man sie, denn da sie im Lehrerhaus aufgewachsen war, hatten sich die Dorfbewohner nie die Mühe genommen, ihren eigentlichen Nachnamen zu behalten, »... Weigands Clementine hat ja früher einmal große Rosinen im Kopf gehabt, aber jetzt ist sie doch zur Vernunft gekommen. Sie kann von Glück sagen, dass sie noch einen so braven Mann erwischt hat, höchste Zeit, dass ihr jemand den Hochmut austreibt.«
Aber gerade das schmeckte ihr sehr schlecht. Den Mann, den sie gewollt hatte, hatte sie nicht bekommen. Sollte und musste sie deshalb auf all ihre Pläne und Hoffnungen verzichten? Sie war so sicher gewesen, zu etwas Höherem geboren zu sein, aber plötzlich war durch den rücksichtslosen Zugriff eines Jahns alles ins Schwanken geraten. Sollte und musste sie sich dem Mann unterwerfen, nur weil er dieses eine Mal der Stärkere gewesen war?
Sie liebte ihn nicht, dessen war sie ganz sicher, das, was sie für ihn empfand, war etwas ganz anderes als ihr Gefühl für Justus Weigand. Dennoch fühlte sie sich zu dem Kutscher hingezogen, auf eine geradezu animalische Art, die sie noch mehr als alles andere beunruhigte.
Manchmal, wenn sie abends allein in ihrer Mansardenkammer lag, war sie drauf und dran, sich ein Tuch über die Schultern zu werfen und so, wie sie war, zu ihm in die Remise hinüberzulaufen. Sie sehnte sich danach, seine starken Hände auf ihrem Körper zu fühlen, sehnte sich nach seiner Männlichkeit, die so viel Kraft ausstrahlte, weil sie ganz und gar unkompliziert war. War nicht das, was er ihr bot, das Leben, das wirkliche Leben? Waren nicht ihre Träume dagegen schwächlich, unausgegorene Phantasien eines nicht einmal mehr jungen Mädchens?
Seit sie Justus Weigand verloren hatte, blieb ihr nur noch die Wahl zwischen einer Ehe mit diesem einfachen, verlässlichen Mann — eigene Kinder, Geborgenheit, ein Leben voller Arbeit und Sorgen - oder dem Versuch, aus eigener Kraft sich selbst und ihre Bildung zu vervollkommnen. Sie hatte sich schon erkundigt; es gab in Berlin einige Möglichkeiten für intelligente Mädchen, etwas dazuzulernen; zum Beispiel den Lette-Verein, die Abendkurse der Humboldt-Akademie oder der Lessing-Hochschule. Vielleicht würde sie sogar in einen Gymnasialkursus bei Helene Lange aufgenommen werden? Wenn sie nur strebsam genug war, würde sie sogar das Abitur nachholen können, Lehrerin werden, technische Assistentin oder wenigstens Sprechstundenhilfe eines Arztes. Den Görzenern würde sie damit gewiss auch nicht imponieren, denen bedeutete die Karriere eines berufstätigen Mädchens nichts, für die galt eine Frau nur so viel wie der Mann, der sie zum Altar führte. Und in diesem Punkt dachten auch die sonst so aufgeschlossenen und weltoffenen Berliner nicht anders; Frauen gehörten ihrer Meinung nach an den Herd oder, bestenfalls, in den Salon, aber nicht in den Beruf, und ganz gewiss nicht an die Seite der Männer.
Und doch wusste Clementine, dass sie mit ihren Bestrebungen nicht allein stand. Immer mehr Universitäten öffneten auch Frauen ihre Pforten. Man stand am Beginn eines neuen Zeitalters, das möglicherweise auch ihr den Weg zur akademischen Bildung freigab.
Wenn Clementine nur daran dachte, bekam sie heiße Wangen. Sie gestand sich nicht ein, dass ihr Ehrgeiz nicht nur Bildungshunger war, sondern immer wieder von der Hoffnung angefacht wurde, wenn nicht Justus Weigands Liebe, so doch wenigstens seine Hochachtung zu erringen.
Aber sie kam sich dabei selbst ein wenig verrückt vor, und da sie niemanden hatte, mit dem sie darüber reden konnte, verstärkten sich ihre Zweifel von Tag zu Tag. Dies wäre ein Anlass gewesen, zu Justus Weigand zu gehen und ihn um Rat zu fragen. Aber beim bloßen Gedanken daran, dass er die Art ihrer Beziehungen zu Otto Jahn erahnen könnte, schoss ihr das Blut in den Kopf. Nein, unmöglich konnte sie mit diesem Problem vor ihn hintreten.
Als Mamsell Auguste ihr ein Briefchen in die Hand drückte, ahnte sie nicht, dass dieser Brief ihr die Entscheidung bringen würde. Sie riss den Umschlag auf der Stelle auf, nahm den starken weißen Bogen heraus, ohne sich von der Köchin abzuwenden, und las die wenigen Zeilen, die der Kutscher in seiner sauberen, wenn auch ein wenig ungelenken Schrift auf das Papier gesetzt hatte.
»Liebe Clementine«, schrieb er, »ich habe jeden Abend auf Dich gewartet. Glaube nicht, dass ich nur meinen Spaß mit Dir haben wollte. Du bist schon die Richtige für mich. Du brauchst Dich wegen das, was vorgefallen ist, nicht zu schämen, das gehört dazu, auch wenn Du es noch nicht gewusst hast. Komm in den Stall. Ich habe Dir nämlich etwas Wichtiges zu sagen. Dein Otto.«
Sie starrte auf den Brief, und von einer Sekunde zur anderen verflog alle Zuneigung, die sie für Jahn empfunden hatte. Er hatte es fertiggebracht, in diesen gewiss sehr sorgfältig und mit viel Bedacht abgefassten Brief drei Fehler hineinzubringen — den falschen Fall nach wegen, gewusst mit s und nämlich mit h. Das war zu viel. Clementine war nicht kleinlich, sie wäre durchaus imstande gewesen, dem Mann, den sie liebte, sogar ein Verbrechen zu verzeihen. Aber sie konnte sich nicht darüber hinwegsetzen, dass der Mann, der sie heiraten wollte, die deutsche Orthographie nicht beherrschte. Es war zu viel. Über dieses Stöckchen konnte sie nicht springen.
»Na, was schreibt er denn?« wollte Mamsell Auguste, die sie beim Lesen beobachtet hatte, wissen.
»Er wird unverschämt«, sagte Clementine kurz, knüllte den Brief zusammen und ließ ihn in der Schürzentasche verschwinden.
Noch am selben Nachmittag suchte sie Frau Dorothee auf, die in ihrem verdunkelten Boudoir lag, ein Tuch mit Essigwasser auf der Stirn, und an einer Migräne litt.
»Gnädige Frau —«
»Bitte, seien Sie doch nicht so laut, Fräulein!«
Clementine dämpfte ihre Stimme. »Gnädige Frau, ich muss mit Ihnen über Herrn Jahn sprechen.«
»Über wen?«
»Über Otto Jahn, den Kutscher.«
»Ich bitte Sie, quälen Sie mich doch nicht mit solchen Lappalien! Sehen Sie denn nicht, wie ich leide?«
»Ich bedaure unendlich, gnädige Frau, aber der Kutscher muss fort, oder ich kann nicht mehr länger in Ihrem Hause bleiben.« Jetzt wurde Frau Dorothee hellhörig; sie richtete sich auf dem Ellbogen auf, das nasse Tuch rutschte ihr von der Stirn. »Hat er Sie.. .belästigt?«
»Jawohl, gnädige Frau.«
»Dann entlassen Sie ihn. Auf der Stelle. Ich dulde solche Dinge in meinem Hause nicht.«
»Aber, gnädige Frau, ich kann doch nicht so ohne weiteres ...«
»Sie haben meine Ermächtigung. Der Kerl soll nicht eine Stunde länger in meinen Diensten bleiben.«
»Ja, aber wäre es nicht besser, wenn Sie selbst...?«
»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe, und belästigen Sie mich nicht länger. Bitte, lassen Sie mich jetzt allein!«
Clementine begriff, dass sie nicht mehr erreichen konnte. Sie schickte das Stubenmädchen zur Remise hinüber, um den Kutscher zu holen. Sie selbst erwartete ihn im ehemaligen Herrenzimmer hinter dem Schreibtisch. Als er kam, hatte sie seine Papiere schon zusammengesucht, seinen Geburtsschein und sein Militärzeugnis.
Er klopfte an, bevor er eintrat, und nahm, gleich neben der Tür, Haltung an, die Mütze unter dem Arm. Dann erkannte er Clementine, sein breites Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, der blonde, buschige Schnurrbart sträubte sich geradezu vor Vergnügen, und er schlenderte unbekümmert näher, »Ach, du bist es, Liebchen«, sagte er, »und ich dachte schon, die gnädige...«
»Ich habe Sie im Auftrag der gnädigen Frau kommen lassen, Herr Jahn«, erklärte Clementine eisig.
»Nanu? Soll das ein Witz sein?«
»Es ist mir durchaus nicht zum Spaßen zumute, und ich bitte Sie, Ihren Ton mir gegenüber auf der Stelle zu wechseln.«
Sein Gesicht lief rot an. »Donnerlüttjen, was nimmst du dir heraus!?« brüllte er und schlug so heftig mit der geballten Faust auf den Tisch, dass das Tintenfass und die Schreibgeräte tanzten.
»Sie stehen hier nicht vor Ihrer Kompanie, Jahn«, sagte Clementine unerschrocken, »reißen Sie sich zusammen, oder Sie werden etwas erleben!«
Er stemmte beide Fäuste auf die Platte des Schreibtisches und beugte sich vor, sein Gesicht war so nahe vor ihr, dass sie seinen heißen Zwiebelatem riechen konnte. »Was denn?«
Aber sie wich keinen Millimeter zurück. »Ich könnte Sie des Verbrechens der Notzucht anklagen!«
»Ja, tu das nur«, höhnte er »dann werde ich aussagen, dass du selber es so gewollt hast, dass du scharf auf mich warst wie sonst noch was und dich jetzt nur rächen willst, weil...« Er stockte.
»Sprechen Sie sich nur aus«, sagte Clementine. »Erklären Sie es mir nur ganz genau, was für einen Grund ich haben sollte, mich an Ihnen zu rächen.«
»Weil ich dich nicht heiraten wollte!«
»Ach, wirklich? Diese Lüge würden Sie also auf Dir Gewissen nehmen? Sehr ehrenhaft, tatsächlich bewunderungswürdig«, sagte sie mit beißender Ironie. »Nur schade, dass Ihnen dieser Meineid gar nichts hülfe. Sie scheinen den Brief vergessen zu haben, den Sie mir durch die Köchin zustecken ließen und der eine ganz andere Sprache spricht.«
»Du Hexe«, fluchte er, »du verdammte, schwarzäugige Hexe!« Die Ader an seiner Stirn schwoll gefährlich an, aber er zog den Kopf zwischen die Schultern.
»Sie sehen also, es ist besser, Sie lassen es nicht auf ein Renkontre vor Gericht ankommen...«
Er fiel ihr ins Wort. »Du würdest es nicht fertigbringen, mich anzuzeigen, niemals! Das würde dein verdammter Stolz nie zulassen!«
»Wer weiß«, sagte sie und konnte sogar lächeln. »Sie haben mich jetzt schon mehr als einmal falsch eingeschätzt, nicht wahr? Sie sollten sich nicht auf Ihre Menschenkenntnis verlassen, sonst könnten Sie Ehre und Freiheit verspielen.«
Er richtete sich hoch auf, Bauch hinein, Brust heraus.
»Was willst du eigentlich von mir?« fragte er, und seine Stimme klang heiser vor unterdrückter Wut. »Weshalb hast du mich kommen lassen?«
Es war ihr durchaus bewusst, dass er, wie er so in seinen alten Reithosen und dem verblichenen Hemd vor ihr stand, ein prächtiges Mannsbild war, und sie vergrub ihre Nägel in die Handflächen, um sich durch den Schmerz zu ernüchtern und das Spiel durchzuhalten, das sie selbst begonnen hatte. »Nichts, was Sie überraschen könnte«, sagte sie beherrscht. »Ich habe den Auftrag, Sie zu entlassen. Darauf waren Sie ja wohl gefasst.«
»Aber warum? Warum ausgerechnet jetzt? Da steckst doch du dahinter, du verfluchte schwarzhaarige Hexe!«
»Ich sehe keinen Anlass, den Entschluss der gnädigen Frau vor Ihnen zu rechtfertigen. Hier sind Ihre Papiere, den Lohn für diesen Monat haben Sie bereits bekommen. Die gnädige Frau wünscht, dass Sie noch heute Ihre Sachen packen und verschwinden. Adieu!«
»Das wirst du bereuen, du verdammte Hexe, das wirst du...« Er machte eine Bewegung, als ob er um den Schreibtisch herumkommen und sie packen wollte.
Aber blitzschnell, mit einem einzigen Griff, hatte sie die Reitgerte Otto Thielemanns in der Hand, die, zusammen mit seinem Offizierssäbel, die Wand hinter ihr schmückte. »Rühren Sie mich nicht an!« rief sie »Oder...«
Sie hielt die lederne Gerte hoch erhoben. Er sah sie an, wie sie da vor ihm stand, hochaufgerichtet, mit funkelnden Augen, und er fand sie begehrenswerter denn je. Aber er begriff, dass sie entschlossen war, sich ihm zu entziehen, und dass sie nicht davor zurückschrecken würde, ihn tatsächlich zu schlagen.
»Eines Tages«, sagte er mit schwerer Zunge, »wird es dir leid tun, dass du mich so behandelt hast. Aber dann wird es zu spät sein. Viel zu spät.« Er riss die Papiere an sich und stampfte aus dem Zimmer.
Clementine stand regungslos, sah ihm mit fest zusammengepressten Lippen und glühenden Augen nach. Erst nach einer ganzen Weile wurde sie sich bewusst, dass sie die Reitgerte noch immer wie zum Schlag erhoben in der Hand hielt. Mit einer müden Bewegung hängte sie sie an ihren Platz zurück, ließ sich in den Sessel fallen, legte den Kopf auf den Schreibtisch und weinte bitterlich. Aber selbst in diesen Minuten grausamsten Schmerzes kam ihr nicht der Gedanke, Otto Jahn zurückzurufen. So weh es auch tat, sie war sicher, sich richtig entschieden zu haben - für ihre Freiheit und ihre Selbstbestätigung.

 

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