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17.02.16 18:35
Re: Почитаем?
 
regrem патриот
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 14.03.16 12:14 (regrem)
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23.1
ALS ICH aufwachte, stand das Fenster noch offen, und der Wind wehte wie in der Nacht schwach herein, ich sah das Rechteck des Himmelsblaus, das einige weiße Schleier umrahmten, ich lag allein im Bett, anscheinend war sie schon längst wieder unterwegs, ich hatte mich bereits daran gewöhnt, dieses frühe Aufstehen und Verschwinden passte zu ihr und zu ihrer Neugier, die hohe Lichtempfindlichkeit ihrer Augen hatte sie auch in anderem Zusammenhang einmal erwähnt, sie war anscheinend der Grund dafür, dass sie mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte.
Ich dagegen blieb noch einen Moment liegen, ich dachte an den gestrigen Abend und die gestrige Nacht, an unseren endlosen Reigen durch die Bars und Cafés, ihre Erzählungen von der Tiefsee gingen mir nicht aus dem Kopf, in kaum vergleichbarer, schwächerer Weise hatte ich etwas Ähnliches bei meinen Tauchversuchen erlebt, die Schönheit der Unterwasserbilder, ihr zeitloser Stolz, hatten auch mich gepackt, aber ich hatte schon das bloße Tauchen in diese farbigen Gärten als ein verbotenes Eindringen empfunden und mich gehütet, irgendetwas dort unten auch nur zu berühren, ich hatte mir eingebildet, schon eine geringfügige Geste, das Zur-Seite-Schieben eines Algenvorhangs, das Aufheben eines Kiesels, die Berührung von Pflanzen, könnte diese ganze Pracht zurückschrecken lassen.
Ich stand endlich auf, ich trödelte durch das Zimmer, ich schaute aus dem kleinen Fenster in einen dunklen und feuchten, anscheinend fast nie von der Sonne gestreiften Innenhof, dann fiel mir auf, wie wenige Spuren sie im Zimmer hinterlassen hatte, Gepäck hatte sie sowieso kaum dabei, ein Auto empfand sie erst recht als lästig, sie wollte sich nicht beschweren, natürlich nicht, sich nicht zu beschweren war die Grundregel jeder Ästhetik, nicht einmal einen Regenschirm konnte ich mir in ihrer Hand vorstellen. Kein Koffer, keine Tasche, nicht einmal ein Kleidungsstück von ihr befand sich noch im Zimmer, sie war verschwunden, alles, was in diesem Zimmer verstreut herumlag, gehörte mir. Ich legte meine Kleidung zusammen, ich packte meinen Rucksack aus und legte einige der technischen Geräte auf den Tisch, ich griff zum Handy und hörte die eingegangenen Telefonate ab, Rudolf hatte sich gleich zweimal gemeldet, wenn Du mich schon nicht anrufst, bekam ich zu hören, so ruf bitte in Deinem Hotel an, es ist sehr dringend!
Ich löschte seine Nachrichten sofort, ich wehrte mich gegen seinen aufdringlichen und bevormundenden Ton, ich dachte nicht daran, seinen Befehlen gleich zu folgen, deshalb ging ich zunächst ins Bad, ich duschte und trank etwas kaltes Wasser, dann überlegte ich, ob ich gehen sollte, einen Kaffee zu trinken, gut, dachte ich, plötzlich nachgiebig, dann soll es eben sein, ich wählte Carlos Nummer und hörte, wie er sich sofort meldete.
Ich schaute durch das offene Fenster hinauf in das Blau, Carlo meldete sich, pronto, es war die Stimme eines Mannes, der mit vielen Menschen gesprochen und vielen zugehört hatte. Ich wünschte ihm einen guten Morgen, ich versuchte es vorsichtig und mit einer gewissen Geduld, aber er tadelte mich sofort, man bekommt Sie nicht mehr zusehen, warum melden Sie sich denn so spät? Ich wollte einen Scherz
machen, aber ich spürte, dass so etwas unangebracht war, irgendetwas war geschehen, ich ahnte es. Carlo sprach leise, einen Moment, ich gehe kurz in mein Zimmer, bleiben Sie dran, ich hörte seine im Hotelflur nachhallenden Schritte, er kam am Speisesaal vorbei, anscheinend war das Frühstück in vollem Gang, das Klappern des Geschirrs war genau zu hören.
Jetzt kann ich reden, hörte ich endlich seine gedämpfte Stimme, passen Sie auf, Dottore Alberti ist heute Morgen hier aufgetaucht, er wollte mit Ihnen sprechen, er war nicht davon abzubringen, hinauf zu Ihrem Zimmer zu gehen, er polterte etwas herum, er schlug gegen die Tür, Carlo, unterbrach ich ihn, Carlo, Sie treiben mit mir doch nicht etwa üble Scherze, aber nein, sagte er schroff, der Dottore hat sich sehr danebenbenommen, das ganze Haus ist erwacht, es ist mir erst allmählich gelungen, ihn wieder hinunterzufuhren, in der Bar unten trank er einen Kaffee und seltsamerweise auch einen Cognac, Sie müssen wissen, er trinkt kaum Alkohol und erst recht keinen Cognac, er erzählte mir, dass er seit zwei Tagen versuche, die Dottoressa telefonisch zu erreichen, sie melde sich nicht mehr bei ihm, in ihrer Wohnung sei sie nicht anzutreffen, dafür habe ihm jemand mitgeteilt, er werde betrogen, von einem anonymen Anrufer habe er sich sagen lassen müssen, dass er betrogen werde, dass die Dottoressa ihn mit dem Mann aus München betrüge. Ich habe ihm versichert, sagte Carlo weiter, dass die Dottoressa dieses Hotel nie betreten habe, so ganz stimmt das ja nicht, in unserem Vorhof war sie zumindest, ich habe es trotzdem ganz entschieden erklärt, denn der Ruf meines Hotels steht auf dem Spiel, Sie müssen verstehen, dass dieser Aspekt für mich sehr wichtig ist. Natürlich, sagte ich, dieser Aspekt ist für Sie sehr wichtig, ich versichere Ihnen, ich habe die Dottoressa in Ihrem Hotel nicht empfangen, nicht in meinem Zimmer und auch sonst nirgendwo, ja, gut, antwortete er, ich glaube Ihnen, aber was sollte ich mit Dottore Alberti anfangen, er konnte sich nicht erklären, dass Sie so früh bereits unterwegs waren, er war misstrauisch, wie sollte man es ihm denn verdenken? Natürlich, sagte ich wieder, wer sollte es?, was haben Sie ihm denn gesagt? Ich habe ihm gesagt, flüsterte Carlo, als wären wir Komplizen, dass Sie jeden morgen früh aufstehen und ein Bad im Meer nehmen, bravo, sagte ich, glänzend, darauf wäre ich selbst nicht gekommen, eh, sagte Carlo, ich brauche jetzt keine Komplimente, ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut. Und weiter? fragte ich, was hat der Dottore weiter getan, hat er Feuer gelegt oder einen weiteren Cognac getrunken, sagen Sie schon! Er hat einen weiteren Cognac getrunken, sagte Carlo, und dann hat er sich ganz förmlich entschuldigt, er ist sogar hinüber in den Speisesaal gegangen und hat die Gäste um Verzeihung gebeten, er erklärte ihnen, er sei überarbeitet und habe die Nerven verloren, es tue ihm leid. Ich habe weiter ruhig auf ihn eingeredet, ich habe ihn nach draußen begleitet, er werde jetzt gehen, Sie am Strand zu suchen, sagte er noch, aber er sah, ehrlich gesagt, ganz so aus, als wüsste er, dass er nicht zu suchen brauchte. Sagen Sie, hakte ich nach, hat er Ascoli erwähnt, oder haben Sie vielleicht sogar davon gesprochen? Wo denken Sie hin? antwortete er, der Dottore wusste von Ascoli nichts, da bin ich sicher, andererseits ist klar, dass er es erfahren wird, er wird es erfahren, sage ich Ihnen, sehr bald wird er es erfahren, es wird, sage ich Ihnen, keine drei Stunden dauern, und er wird in Ascoli sein!
Ich schwieg, ich musste diese Drohung erst einmal verkraften, Carlo räusperte sich, vielleicht waren ihm seine Wiederholungen schon peinlich, geben Sie mir Ihre Nummer, hörte ich ihn flüstern, ich habe Ihre Nummer nirgends finden können, zum Glück rief Ihr Kollege aus München an, er spricht ein entsetzliches Italienisch. Ja, sagte ich, grässlich, er hat sich bei mir gemeldet, sonst hätte ich das alles jetzt noch nicht erfahren.
Ich gab ihm meine Nummer, ich versprach ihm, ihn auf dem Laufenden zu halten, dann beendete ich das Telefonat und legte das Handy rasch auf den Tisch, als wäre es mir während des Gesprächs zu heiß geworden. Carlo hatte eine bestimmte Art, Dramatik zu erzeugen, er hatte es schon vor Tagen am Ende unserer gemeinsamen Mahlzeit versucht, ich hatte ihn sogar im Verdacht, dass er Dramatik nicht nur liebte, sondern regelrecht zum Leben brauchte, vielleicht war ich ihm sympathisch, weil er an mir etwas Derartiges witterte, ein Talent für Dramatikerzeugung, eine geheime Verwandtschaft mit gewissen italienischen Machenschaften und Ritualen. Ich starrte weiter zum Fenster hinaus, das Himmelsblau mit seinen weißen Schleiern hatte so gar nichts mit diesen Anrufen zu tun, es war lächerlich, ich konnte mir nicht vorstellen, wie Dottore Alberti in dieses Zimmer platzen würde, ich konnte es mir nur als Posse denken, bestimmt wäre es eine sehr komische, aber doch platte Szene, als Unbeteiligter hätte ich darüber sogar lachen können, vor allem darüber, dass er in diesem Zimmer nichts entdeckt hätte, schließlich hatte Franca nichts hinterlassen, nicht das Geringste, höchstens vielleicht im Bad, da musste ich nachschauen.
Ich stand auf, als ich Schritte hörte, jemand kam die Treppe hinauf, für einen kurzen, blöden Moment dachte ich, es könne Alberti sein, dann kam sie herein, sie hielt eine weiße Styroportasse mit einem Kaffee in der Hand, sie lachte, sie sagte, guten Morgen, mein Lieber, ich setzte mich wieder. Ich brachte kein Wort hervor, sie schaute mich an, was hast Du? fragte sie, was ist passiert? Ich habe mit Carlo telefoniert, antwortete ich, Gianni Alberti war heute Morgen im Hotel und hat versucht, mein Zimmer zu stürmen, angeblich hast Du ihn seit Tagen nicht angerufen, stimmt das? Sie stellte den Kaffee vor mich auf den Tisch, sie drehte sich um, sie schwieg, sie machte ein paar Schritte zum Fenster und schaute hinaus, dann sagte sie leise, ja, es stimmt, ich habe ihn nicht angerufen, weil ich nicht lügen kann, ich kann ihm nicht erzählen, dass ich allein bin, so etwas kann ich eben nicht. Sie drehte mir weiter den Rücken zu, ich spürte, wie peinlich es ihr war, von Gianni Alberti zu sprechen, ich hätte ihr gern geholfen, aber ich wusste nicht wie. Was ist weiter passiert? fragte sie, er hat sich bei Carlo und den Hotelgästen entschuldigt, er hat einen Cognac getrunken, sagte ich, einen Cognac?, nein, er trinkt keinen Cognac, niemals! sagte sie, doch, sagte ich, Carlo sagt, er habe sogar zwei Gläser Cognac getrunken, dann sei er verschwunden. Weiß er, dass wir in Ascoli sind? fragte sie, ich vermute, noch nicht, antwortete ich, aber er wird es bald wissen und kommen, ja, sagte sie, weiter sehr leise, er wird es bald wissen und kommen, so wird es sein.
Sie stand noch einen langen Moment still und schaute hinaus, dann drehte sie sich wieder zu mir um, sie lächelte und sagte, Dein Kaffee wird kalt, so trink doch Deinen Kaffee! Franca, antwortete ich, es geht so nicht weiter, wir können nicht weiter so tun, als gebe es Gianni Alberti nicht. Sie blickte mich beinahe verständnislos an, oder als hörte sie schlecht, sie presste die Lippen fest aufeinander, dann drehte sie sich wieder um und sagte, ich möchte Dir ein Bild von Crivelli im Dom zeigen, wir wollten es uns anschauen, das hatten wir vor, ihre Stimme klang plötzlich trotzig und rau, ich wusste, dass ich jetzt nicht nachgeben durfte, es fiel mir sehr schwer, aber ich ließ nicht locker und sagte, Franca, weich jetzt bitte nicht aus!
Sie reagierte unruhig, sie fuhr sich erneut durch die Haare, sie blickte angestrengt durch das Fenster hinaus und hob den Kopf seitlich, als sonne sie sich, zum ersten Mal hatte ich sie mit ihrem Vornamen angeredet, Franca, der Klang hallte nach, es klang aufrüttelnd und gewichtig, ich hätte das Wort am liebsten sofort zurückgenommen, denn es hatte etwas von einer Distanz, die es zwischen uns bisher nicht gegeben hatte. Sie war wieder einen langen Moment still, ich hörte sie schlucken, dann sagte sie, diese Sache, sie stockte, als erschrecke sie selbst über das Wort, diese Sache geht nur mich etwas an, ich möchte nicht, dass es Dich auch noch belastet. Franca! sagte ich, lauter als beabsichtigt, warum sprichst Du mit mir nicht darüber, hast Du nicht selbst gesagt, keiner von uns dürfe dem anderen etwas verheimlichen oder bloß für sich behalten?
Sie gab sich einen Ruck, sie löste sich vom Fenster, sie drehte sich wieder um und schaute mich wieder an, ja, sagte sie, das habe ich gesagt, Du hast völlig Recht. Also? machte ich weiter, also bitte, was soll jetzt geschehen? Es ist ganz einfach, antwortete sie, ich werde Gianni anrufen und ihm sagen, dass wir in Ascoli sind, er wird hierherkommen wollen, das soll er, er soll kommen, ich werde hier mit ihm sprechen, ich werde ihn bitten, gegen Mittag hier zu sein, ich spreche allein mit ihm, Du brauchst ihm nicht zu begegnen. Ich hörte ihr zu, alles klang sehr entschlossen und so, als gebe es nur diese Lösung. Was wirst Du ihm sagen? fragte ich weiter, ich wollte es jetzt ganz genau wissen, ich wollte nicht, dass wir das Thema so schnell abtaten, die Wahrheit, was sonst? antwortete sie, die Wahrheit, da war es, das große Wort, es klang altertümlich, wie etwas, das außer Gebrauch war und worüber man nur noch akademisch nachdachte, man konnte es aber auch in anderem Sinne verwenden, als ultimative Formel: Die Wahrheit! ~D\e Wahrheit kannten wir schließlich beide, sie bestand ganz schlicht aus unserer Liebe, genau das war es, es war unmöglich, uns zu trennen, niemand hätte es gegenwärtig vermocht.
Leihst Du mir Dein Handy? fragte sie, ich habe meins in San Benedetto gelassen, ich wollte an diesem Wochenende um keinen Preis telefonieren, ich lass es Dir hier, sagte ich, ich gehe ins Gaffe Meletti, treffen wir uns dort, in, sagen wir, einer Viertelstunde? Sie fuhr sich mit der rechten Hand flüchtig über die Stirn, sie lächelte wieder, gut, sagte sie, treffen wir uns im Café Meletti und anschließend gehen wir in den Dom, um uns Crivellis Bild anzuschauen. Ich ging auf sie zu, ich zog sie eng an mich heran, wir umarmten uns und standen wieder minutenlang still, eng umschlungen, ich küsste sie vorsichtig, als wollte ich sie beruhigen, seit Tagen standen wir immer wieder so still, fassungslos aneinandergeschmiegt, es waren Momente des puren Verstehens. Ich küsste sie noch ein letztes Mal, dann lösten wir uns voneinander, und ich verließ das Zimmer.
Es war ein klarer Morgen mit einem weiten Himmel, so einen Morgen, dachte ich, gibt es nur in italienischen Städten, Du gehst mit klarem Kopf durch die schattigen, noch leicht kühlen Gassenschluchten, alles vibriert, ist in Erwartung, die Schatten ganz scharf und kompakt, das Sonnenlicht stechend, monomanisch, diese Frische des italienischen Morgens, diese Sinnlichkeit des Beginns, geht über alles andere am Tag, langsam füllen sich die Gassen mit den Aromen, mit dem Duft frischen Brotes und dem von Kaffee, durch die weitgeöffneten Türen und die kleinen Fenster quillt es hinaus, Du badest darin, Du schmiegst Dich in das weiche Bett dieser Verheißung ...
Im Café Meletti bestellte ich einen Kaffee und ein Glas Wasser, ich erkannte mich plötzlich in der großen Spiegelfront hinter der Theke, ich sah etwas nachdenklich aus, etwas zu ernst, meine Haut war schon leicht gebräunt, ich versuchte, etwas zu lächeln, ja, so war es besser, in guten Momenten war mein Gesicht offen und klar, es wirkte dann neugierig oder, wie Rudolf einmal gesagt hatte, wie ein »Gesicht in Aktion«, Rudolf, richtig, ich blieb an ihm hängen, vielleicht sollte ich ihn doch anrufen, nein, beschloss ich, nicht jetzt,

23.2

ein Kellner schob mir den Kaffee und das Wasser hin, ich möchte noch einen Cognac dazu, sagte ich, ich empfehle Ihnen einen anisetta, antwortete der Kellner, aus unserer Herstellung, einen Anis-Likör, Sie kennen ihn? Ja, sagte ich, bringen Sie mir einen anisetta, oder nein, bringen Sie zwei, gleich zwei? fragte er, ja, antwortete ich, gleich zwei, für mich und die Signora, die gerade den Platz überquert. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, in das strahlende Licht draußen zu blicken, wir sahen Franca näherkommen, sie ging quer über die große und an diesem Morgen noch freie Fläche, es ist unser Platz, dachte ich, die Sonne brannte bereits auf dem Travertin, Ascoli war längst eine weiße, blendende Stadt mit sich verflüssigenden, zerrinnenden Steinen.
Sie kam herein, sie ging zu mir durch den kühlen und schattigen Jugendstilraum, zwei Ventilatoren kreisten bereits an der Decke, was trinkst Du? war ihre erste Frage, dann begriff sie, Du trinkst einen anisetta, nicht wahr?, bitte, sagte ich, hier ist Deiner, ich habe noch nicht getrunken, ich habe auf Dich gewartet. Es ist so schön hier, sagte sie, der Platz ist noch leer, setzen wir uns doch einen Moment nach draußen und trinken ihn dort. Ich gab dem Kellner ein Zeichen, wir gingen hinaus und nahmen an einem der kleinen Tische im Schatten Platz, sie gab mir das Handy zurück, ich sagte nichts, ich steckte es fort.
Sie stieß mit mir an, sie nahm einen kleinen, winzigen Schluck, dann sagte sie, ich habe mit Gianni gesprochen, ich habe ihm erklärt, dass ich mit Dir hier in Ascoli bin, er hält mich für verrückt, verrückt, das hat er wirklich gesagt, Franca, Du bist verrückt, immer wieder, ich habe ihn sprechen lassen, er ist außer sich, er kann es natürlich nicht begreifen, es trifft ihn völlig unvorbereitet und plötzlich.
Ich leerte mein Glas, ich starrte auf den weiten Platz, auf dem sich im hellen Sonnenlicht kaum jemand bewegte, ich wollte sie jetzt nicht anschauen und mich auch sonst nicht regen, ich wollte völlig zurücktreten und zum reinen Zuhörer werden.
Ich kenne Gianni seit meiner Kindheit, erzählte sie, als Kind wurde natürlich auch er von meinem Vater behandelt, eine Zeitlang war er mit meinem Bruder sogar befreundet, während meines Studiums habe ich ihn dann aber jahrelang nicht gesehen, ich hatte ihn beinahe vergessen, als ich nach San Benedetto zurückkam. Damals, als ich die Stelle der Direktorin erhielt, war ich das Taktieren mit Männern leid, ob Du es glaubst oder nicht, ich hatte, was meine Beziehungen zu Männern betraf, kein großes Glück, schon als junges Mädchen wurde ich laufend angesprochen, häufig mehrmals am Tag, wohin ich auch ging, es war sehr lästig und anstrengend und führte letztlich dazu, dass ich mich immer mehr abkapselte und die Gesellschaften mied. Die einzigen Männer, die ich um mich duldete, waren Vater und Bruder, ich ging, um meine Ruhe zu haben, mit Luigi aus, er wurde mein ständiger, guter Begleiter, denn wenn ich mit ihm zusammen war, wagte es niemand, mich zu belästigen. Später aber, als wir in getrennten Orten studierten, wurde es schlimm, manchmal hastete und lief ich beinahe nur noch durch Rom, weil ich den vielen unerträglichen Blicken und dem ewigen Angegafft werden ausweichen wollte. Es war obszön, viele Männer redeten mich meiner angeblichen Schönheit wegen an, aber niemand von ihnen achtete sie, diejenigen Männer aber, die mir gefielen, achteten sie so sehr, dass sie mich nicht anredeten, sie schreckten richtiggehend vor mir zurück, weil sie dachten, ich sei längst vergeben oder hochmütig und stolz, weiß der Teufel. Ich war froh, nach Abschluss des Studiums so schnell eine Stelle in San Benedetto zu bekommen, hier kannte mich jeder, aber ich war nicht mehr das junge Mädchen, dem man nachstellte, ich war jetzt die Dottoressa, eine anerkannte Frau, der gegenüber man sich zurückhielt. Ich traf alte Freunde, und ich traf auch Gianni, er kam an unser Institut, als ich es erst wenige Wochen leitete, wir gingen manchmal zusammen aus, wir sprachen wie gute Kollegen miteinander, Gianni aber begann, um mich zu werben, es war eine regelrechte Werbung, altmodisch und ein wenig hausbacken, mit Blumen auf meinem Schreibtisch, kleinen Präsenten und unvorhersehbaren Überraschungen, er stellte sich auf mich ein, er konzentrierte seine ganze Energie kurzfristig auf mich, es schmeichelte mir sehr, es war angenehm, in unserer Umgebung begann man, uns zu necken, aber ich wusste nicht einmal genau, ob er mich liebte, eher hätte man vielleicht sagen können, dass er in mir eine Chance sah, von zu Hause fortzukommen, er war damals in diesem Alter, er suchte eine Frau, die ihn und seine Arbeit verstand, ich war für ihn genau die Richtige, ganz pragmatisch gesehen, und auch er war für mich der Richtige, denn ich hatte auch keine Lust, wie eine einsame Diva behandelt zu werden.
Ich hielt weiter ganz still, ich hatte die ganze Geschichte in kleinen Genrebildern vor Augen, die Blumen auf ihrem Tisch, Gianni Albertis triumphierendes Lächeln, ihre gemeinsame Fahrt in einem etwas zu pompösen Wagen die Küste entlang, ich hätte einen Film mit den beiden drehen können, so viele Bilder stellten sich ein. Ich sagte nichts, liebend gern hätte ich einen weiteren anisetta getrunken, aber ich konnte sie jetzt nicht unterbrechen, ich musste weiter im Hintergrund bleiben, ein Schatten, der vorerst noch kein Leben haben durfte.
Gianni ist sehr ehrgeizig, erzählte sie weiter, er ist gewitzt und hochintelligent, es ist ein Vergnügen, mit ihm zu arbeiten, alles geht leicht voran, er hat immer neue Ideen, in wenigen Wochen tritt er die Direktorenstelle in Ancona an, er hat mir einen Platz an seiner Seite verschafft, wir sind ein Team, hieß es plötzlich, natürlich will er, dass ich ihn begleite, er hat es schlau eingefädelt, auf dem Posten hätte ich viele Freiheiten, eigene Arbeiten durchzuführen, das wäre viel besser als meine jetzige Anstellung in San Benedetto, denn das Institut in San Benedetto hat nur einen sehr kleinen Etat, mit dem man nicht viel ausrichten kann. Hätte ich Dich nicht kennengelernt, wäre ich Gianni nach Ancona gefolgt, jetzt geht es nicht mehr. Ich wusste auch vorher nicht genau, ob es richtig gewesen wäre, ihm nach Ancona zu folgen, ich habe nicht Giannis Ehrgeiz, verstehst Du, ich habe nicht unbedingt Lust, mein Leben mit langwierigen Forschungen in einem Institut zu verbringen, die Forschung macht mir zwar Spaß, aber sie ist nicht mein Leben, höchstens ein stimulierender Teil, außerdem bin ich zu gern unterwegs, vielleicht ist mein kunsthistorisches Interesse sogar noch immer größer als mein biologisches, das glasige Blau in der Tiefe und seine Bilder - das ist es, das fasziniert mich wirklich, ich bin noch immer süchtig danach.
Ich hielt die Anspannung nicht mehr aus, ich drehte mich nach dem Kellner um und bestellte noch zwei Gläser anisetta, dann schaute ich wieder auf den leeren Platz, ich empfand ihn plötzlich als eine Art Bühne, die Häuser ringsum waren nur wenige Meter hoch, diese menschenfreundlichen Verhältnisse luden geradezu ein, den Platz als Bühne zu sehen, man führte ein klassisches Stück auf, es ging um die Liebe, die einzige, große, und mit einem Mal erschien unter den Arkaden der böse Dritte im Bunde, langsam ging er auf und ab, er war durch Francas Erzählung entstanden, er trug Schwarz, er hatte glattes, glänzendes Haar, er war mein Feind, ich musste mich wappnen.
Wann kommt er genau? fragte ich, ich treffe ihn gegen Eins, sagte sie, hier im Meletti, ich werde ihm sagen, dass ich nicht mit ihm nach Ancona gehe, er tut mir leid, ich tue ihm jetzt etwas an, ich mag ihn sehr, er kann sehr herzlich und sogar komisch sein, Du würdest ihn nicht wiedererkennen, wenn er andere Menschen parodiert, sogar so etwas kann er. Ich schwieg, ich hatte den Eindruck, als sitze er schon fast neben uns, sein kurzer Auftritt in dem Fischlokal von San Benedetto kam mir in den Sinn, wir hatten dort zusammen gegessen, ich hatte ihn unerträglich gefunden, das Bild, das Franca von ihm entwarf, konnte ich mit der bemühten Forscher-Erscheinung, die ich kennengelernt hatte, nicht in Einklang bringen, ich sagte nichts, ich hielt mich wieder zurück, trinken wir noch den anisetta, sagte ich, dann lass uns das Bild von Crivelli anschauen.
Wir tranken unsere Gläser schweigend aus, ich bezahlte, dann gingen wir hinüber zum Dom, sie führte mich in eine Kapelle des rechten Seitenschiffes, in der sich das Altargemälde von Crivelli befand, einen Moment saßen wir nebeneinander, dann stand sie wieder auf und trat zur Seite hin weg, ich hatte das Gefühl, als suchte sie an der Wand eine Zuflucht, ich drehte mich aber nicht nach ihr um, obwohl ich bemerkte, dass sie sich langsam von mir entfernte. Ich blieb sitzen, ich holte mein Fernglas hervor, ich war jetzt für jede Ablenkung dankbar, ich studierte die zentralen Szenen des Bildes, eine Maria mit Kind, eine Grablegung, dann machte ich mich an die Heiligen und verweilte bei jedem einzeln, bei der bleichen Exaltiertheit der Frauen und der weichen Eleganz mancher Männer, ich hatte zu tun, ich vertiefte mich in die Farben und verweilte bei jedem Detail.
Als ich mich nach ihr umdrehte, war sie nicht mehr in der Kapelle, ich betrachtete das Bild noch eine Weile als Ganzes, als Ganzes machte es eher eine unbeholfene, aus jeder Zeit fallende Figur, als passe es in keine Epoche und als wäre Carlo Crivelli damit einerseits zu spät beschäftigt gewesen und andererseits auch zu früh, ich hatte nicht die Ausdauer, mir es genau klarzumachen, deshalb stand ich auf und ging sie jetzt suchen, ich ging durch das dunkle Seitenschiff und suchte sie vor den Kapellen, ich glaubte sie in der Nähe der Vierung zu sehen und folgte ihr, verlor sie aber bald wieder, ich ging zurück in die Kapelle Crivellis, sie war nirgends zu finden, ich hatte die Idee, in der Krypta nach ihr zu schauen, aber auch dort war sie nicht, ich verstand nicht, was sie mit mir trieb, was hatte dieses Versteckspiel, wenn es denn überhaupt eines war, zu bedeuten?
Ich resignierte schließlich, ich ging ein letztes Mal zurück zu dem Bild von Crivelli, ich setzte mich noch einmal in eine Bank, als sie ganz plötzlich wieder erschien und sich neben mich setzte, wo warst Du? fragte ich, ich war nebenan, im Museum, flüsterte sie und sagte dann, etwas lauter, ich gehe jetzt, ich möchte jetzt gehen. Mit einem Mal begriff ich, wie unruhig sie war, sie hatte es im Dom und vor dem Bild Crivellis nicht ausgehalten, sie brauchte noch etwas Zeit für das Gespräch mit Gianni Alberti, was hast Du jetzt vor? fragte sie mich, und ich sagte, ich habe sehr großen Hunger, ich habe tagelang nicht richtig gegessen, ich werde mich in irgendein Lokal setzen und in Ruhe essen, in Ruhe? fragte sie, so ganz in Ruhe?, ich werde es zumindest versuchen, antwortete ich. Sie stand auf, sie sagte, dass sie mich anrufen werde, wenn Alberti fort sei, ja, sagte ich, gut, ich kam mir hilflos vor, ein bloßer Statist, noch immer wollte ich keineswegs auffallen und am liebsten verschwinden. Ich blieb noch etwas in der Kapelle sitzen, man hätte mich für einen stillen Beter halten können, dann verließ auch ich den Dom.
Draußen schaute ich auf die Uhr, es war kurz nach Zwölf, ich wollte noch etwas Spazierengehen, in aller Ruhe, aber ich war zu nervös, ich bildete mir ja nur ein, auf der Suche nach einem guten Lokal zu sein, schon bald ertappte ich mich dabei, grundlos vor Geschäften stehenzubleiben, ich schaute mir die Auslagen an, so etwas hatte ich früher immer als peinlich oder als lästig empfunden, jetzt aber war ich versunken in der Betrachtung von Schuhen, Andenken und anderem Krimskrams, eigentlich schaute ich gar nicht hin, ich ließ nur die Zeit verstreichen, immer wieder fiel mein Blick auf die Uhr, dann war es endlich kurz vor Eins, und ich bemerkte, dass ich mich der Piazza näherte.
Sie saß bereits draußen, vor dem Café, ich sah sie genau, ich blieb im Dunkel der Arkaden gegenüber verborgen, ich wartete mit ihr, die Minuten vergingen, ich glaubte schon nicht mehr, dass er erscheinen würde, dann war er ganz plötzlich da, einige Sekunden lang war ich unaufmerksam gewesen. Er setzte sich neben sie, er ließ die Speisekarten kommen, sie bestellten sich sogar etwas zu essen, sie machten ganz und gar nicht den Eindruck eines Paares, das dabei war, Abschied voneinander zu nehmen oder sich gar für immer zu trennen. Ich schaute ihnen zu, in aller Rübe, sagte ich mir, ich sah, wie Gläser und Teller gebracht wurden, und wunderte mich über ihre ein verständige Gestik, sie hatten wirklich überhaupt nichts von einem zerstrittenen Paar, nur dass Alberti viel mehr als sie sprach, er wirkte aber nicht aufgeregt oder gereizt, er schien zu dozieren, genauso kannte ich ihn ja.
Sie aß nicht sehr viel, sie brach das Essen bald ab, ihr Niederlegen von Gabel und Messer war die einzige unerwartete Geste in diesem Spiel, sie trank etwas Wasser, lehnte sich dann zurück und bestellte noch etwas anderes, sie schlug ein Bein übers andere, es war die vertraute Bewegung, die ich an ihr so mochte, ich mochte, wie sie mit dieser Bewegung versuchte, zur Sache zu kommen und sich zu konzentrieren, ich sah, wie sie wahrhaftig eine Zeitlang allein sprach, sie schaute ihn dabei nicht an, sie blickte in den Himmel, sie blinzelte hinauf zu den Wolken, als redete sie über das Gespräch mit einer Freundin oder etwas letztlich Belangloses, er aber aß, er schien richtiggehend Appetit zu haben, erst jetzt fiel mir überhaupt auf, wie er gekleidet war, er trug eine dunkelblaue Jacke und eine gelbe Krawatte, er wirkte sehr
festlich, im Grunde war es eine Abendgarderobe, ich fragte mich, warum er sich so herausputzte, er sprach dann ununterbrochen, in immer demselben Gestus, er hob und senkte laufend das Messer, ich konnte es nicht mehr mit ansehen, ich war es leid.
Ich schlich im Dunkel des Arkadengangs fort, ich konnte nicht genau erkennen, was gerade zwischen ihnen ablief, ich hatte mir eine Auseinandersetzung im Stil des klassischen Dramas, mit einem großen Konflikt, mit Händeringen und einem bühnenträchtigen Abgang vorgestellt. Ich entfernte mich, ich wollte weit fort, als ich einige Schritte getan hatte, spürte ich wieder diesen mächtigen Hunger, tagelang, dachte ich, hast Du Dich nur von Kleinigkeiten ernährt, jetzt iss, so iss doch, iss!, ich ging in das nächstbeste Lokal, ich war nicht mehr in der Lage, länger zu suchen und auf Tröstung zu verzichten. Man führte mich in einen kleinen Innenhof, er wirkte etwas beengt und stickig, ein leise plätschernder Brunnen hätte fast dafür gesorgt, dass ich kehrtgemacht hätte, dann aber war mir dieses Dauergeräusch egal, ich war schon damit zufrieden, dass es nur wenige Gäste gab, einen großen, vergoldeten Käfig mit einem fremdartigen Vogel beachtete ich ebenfalls nicht weiter.
Ich nahm Platz, ich studierte die Karte, ich wollte zur Ruhe kommen, indem ich eine Karte studierte, Studium war jetzt das richtige, beruhigende Wort, ich ignorierte die mir bekannten Speisen, ich erhöhte den Schwierigkeitsgrad und suchte nach etwas Rarem, la trippa in bianco, las ich, Kutteln in Weißwein, ich stellte mir lang eingekochte, in einer öligen Weinsauce schwimmende Kutteln vor, schon bestellt, dachte ich, aber wie weiter?, um zuppa diporri,ja, dachte ich, ganz genau, eine gute Lauchsuppe zu Beginn, dann ein kleines Bett tagliatelle mit einer Lage Steinpilzen darauf, endlich la frifpa, dazu eine Flasche Falerio, gleich eine Flasche?, natürlich, eine Flasche, auch so etwas trug jetzt zur Beruhigung bei.
Ich bestellte, die Sonne stand jetzt als gleißendes Licht direkt über dem Innenhof, der Kellner fragte mich, ob ich im Schatten zu sitzen wünsche, nein, sagte ich, in der Sonne, genauso, wie ich jetzt sitze, wahrscheinlich stöhnte er hinter meinem Rücken über die Idiotie dieses Fremden nur auf, ich empfand die Sonne aber als ein wachsames und auch freundliches Auge, das direkt auf mich blickte.
Der Wein wurde als erstes serviert, dazu Wasser und etwas frisches Brot, ich hätte völlig zufrieden in einer ascolanischen Trattoria sitzen können, dem Genuss einer interessanten Folge von Speisen hingegeben, im Grunde wollte ich das auch, ich wollte es und nur genau das, ich war aber abgelenkt, ich hatte die ganze Geschichte mit all ihren Komplikationen wie ein kaum zu entwirrendes Knäuel im Kopf. Ich holte mein schwarzes Notizbuch hervor, das Aufschreiben von innerem Wirrwarr hatte mir schon oft geholfen, ich blickte hinauf zur Sonne, braun würde ich werden, tiefbraun, dieses Licht bündelte sich zu einer sole in bianco, damit ich als Fremder nicht mehr zu erkennen sein würde: leb zuckte zusammen, ah Franca ohne alle Umwege sagte, dass sie nicht nach Ancona gehen werde. Sie sagte es ganz entschieden, als brauche sie keinen Augenblick mehr darüber nachzudenken und ah yebe es sehr selbstverständlich nur diese eine Antwort auf Albertis Drängen. Diese Direktheit und Klarheit der Entscheidung passt zu ihr, sie
ist keine Frau, die laviert, um etwas herumredet, Sachen in der Schwebe lässt, auch sonst geht sie immer direkt auf etwas zu, das dort soll es sein und nicht das, dorthin lass uns gehen und nicht anderswohin. Wie aber steht es um mich? Ich bin, wie der alte Antonio richtig sagte, eingebrochen in festgefügte Verhältnisse, innerhalb
von kaum einer Woche habe ich sie durch mein bloßes Erscheinen erschüttert. Manchmal denke ich, ich könnte an dem Unglück, das ich ja zumindest für Gianni Alberti hervorrufe, so etwas wie schuld sein, andererseits fühle ich mich nicht schuldig, höchstens bin ich verantwortlich ..., verantwortlich, ja, könnte man besser sagen, verantwortlich für das, was jetzt geschieht. An enter Stelle aber geht es um Franca, ich glaube ihr, dass sie nicht nach Ancona geht, sie sagte es vollkommen besonnen, aber auch in ihr wird es rumoren, der Entschluss, nicht nach Ancona zu gehen, ist nur ein erster Schritt, wie m es sich weiter denkt, ahne ich ja nicht einmal. Nehmen wir an, sie bleibt in San Benedetto, sie trennt sich von Gianni Alberti, sie leitet auch in Zukunft das Institut, wie soll es mit uns dann weitergehen? Ich habe darauf keine Antwort, seltsamerweise vermute ich aber, dass sie es sich bereits genau überlegt hat und, wenn ich sie fragen würde, in drei, vier Sätzen einen genauen We? markieren würde. »Ich gehe nur etwas voran«, hat sie einmal
gesagt, als ich sie darauf ansprach, dass meine Rolle in unserer Verbindung vorerst darin besteht, ihr zu folgen, ich folge Ihnen gern, Dottoressa, habe ich so dahin gesagt, ohne zu ahnen, wie treffend dieser Satz ist, ich kann nur den zweiten Schritt tun, zuerst kommt es immer aufm an und darauf, wie sie sich entscheidet...
Der Kellner servierte die Suppe und schenkte etwas Wein nach, ist es Ihnen wirklich nicht zu heiß? fragte er noch einmal, nein, sagte ich, ich vertrage Hitze ganz ausgezeichnet, nach genau diesem Sonnenlicht habe ich mich in Deutschland wochenlang sehr gesehnt. Er lächelte nachsichtig, als habe er einen braven Buben vor sich, der Freundliches über sein Heimatland sagte, er wollte das Gespräch noch etwas verlängern, ich grummelte aber nur noch vor mich hin, kostete die vorzügliche Suppe, überflog noch einmal, was ich geschrieben hatte, und machte, nachdem ich den Teller geleert hatte, schnell weiter: Manchmal gehe ich in Gedanken viele Schritte zurück, ganz an den Anfang, und überlege, wie alles entstanden ist. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als habe sich unsere Liebe aus einem plötzlichen Impuls heraus entwickelt, ich vermute aber, dass ich in Wahrheit, ohne es freilich zu wissen, genau auf ein solches Ereignis wartete, ja sogar darauf vorbereitet war. Wenn ich nämlich an meine letzten Monate denke, so waren sie vollkommen ruhig, ich erledigte alle Arbeiten und Aufträge sehr reduldi?, ich ließ die Trennung von Hanna still ausklingen, manchmal dachte ich noch an sie, von Woche zu Woche wurde es aber weniger. Dabei fühlte ich mich etwas schwach, nicht impulsiv genug jedenfalls, um viel auszugehen, die Freude am abendlichen Herumziehen war nicht wieder zurückgekehrt, Rudolf hatte bei den wenigen Malen, die ich mit ihm in ein paar Kneipen verbrachte, seine liebe Not mit mir, mitten im Sommer saß ich allein unter Scharen von Menschen in einem Biergarten, ich trank Bier und fand doch keinen richtigen Geschmack daran, ich ließ das Bier schal werden und schob das Glas endlich fort, innerlich war ich abwesend und nur ab und zu etwas neidisch auf die penetranten Paare, die sich ganz in meiner Nähe küssten und ah heiteres Liebespaar inszenierten. So ruhte ich, mein Körper ruhte, meine Phantasien auch, ich hatte keine Ansprüche mehr, vielleicht fühlte ich mich durch das Zusammensein mit Hanna erschöpft, wer weiß so etwas genau? Rudolf bekam natürlich mit, wie es um mich stand, immer wieder riet er zu einer Reise, ich hatte aber keine Lust zu verreisen, schon beim bloßen Gedanken an all den Aufwand, der damit verbunden war, wurde mir schlecht. Irgendwann aber war in der Redaktion die Rede von den meeresbiologischen Instituten an der italienischen Adriaküste, ich weiß noch genau, dass ich sehr genau hinhörte, die beiden Wendungen klangen in meinen Ohren verlockend, »meeresbiologische Institute«, »italienische Adriaküste«, ich dachte jedenfalls plötzlich: Das ist es! und begann auch gleich zu recherchieren, und als ich im Zug in den Süden saß, fühlte ich mich wirklich frei, ich hatte die Sache mit Hanna hinter mir und atmete aus, ja ich hatte wieder eine geradezu unbändige Lust auf die Welt. Mit diesem Schwung kam ich nach San Benedetto, ich war hellwach, alle Sinne arbeiteten gleichsam auf Hochtouren, ich erinnere mich noch gut an den ersten Tag hier, beinahe fühlte ich mich ja wie ein fremdländischer König, dem die Einheimischen einen enthusiastischen Empfang bereiteten, ich spürte sogar schon so etwas wie Glück, nur war es natürlich noch nicht so stark und so erfüllend wie das Glück, das dann folgte. Dennoch, das Glück war schon in mir, ich war präpariert, in dieser Glücks-Verfassung begegnete ich Franca, ich erinnere mich bis ins letzte Detail an den singulären Moment, in dem die Glücks-Erwartung dann zündete...
Ich schrieb ununterbrochen, ich war in eine regelrechte Schreibekstase geraten, ich hatte kaum zur Kenntnis genommen, dass mir jemand die tagliatelle con porcini hingestellt hatte, der Teller mit der kleinen, kreisrund auf seiner Mitte drapierten Portion dampfte still vor sich hin, schließlich kam der Kellner mit langsamen Schritten zu mir an den Tisch, mein Schreiben passte ihm nicht, nur sehr verständige, sensible Kellner, wusste ich ja, haben ein Verständnis für jemanden, der bei Tisch schreibt. Ich kam ihm zuvor, ich sagte jaja, schon gut, ich esse die Pasta gleich, er schenkte mir nach und versuchte, einen Blick auf mein Notizbuch zu erhäschen, ich mag so etwas nicht, sie fragen einen dann meist sehr einfallslos, ob man ein Schriftsteller sei, und ich antworte meist sehr gereizt, dass man auch ganz normalen Menschen durchaus zutrauen könne, mit wachem Verstand ein paar aufeinanderfolgende Sätze zu schreiben. Um ihn von meinem Tisch fernzuhalten, sagte ich, also gut, ich zog den Teller zu mir heran und griff zu Gabel und Löffel, dabei hatte ich noch einen Textabsatz im Kopf, die tagliatelk con porcini kamen einfach etwas zu früh, kamen die tagliatelk vielleicht etwas zu früh? fragte er da, und ich sagte, ja, in genau sechs Minuten wären sie richtig. Zu meinem Erstaunen machte er überhaupt kein Theater, er verschwand stillschweigend und diskret mit dem Teller, ich griff noch einmal zu meinem Notizbuch, auch die Postkarten mit dem Bild der heiligen Magdalena bewahrte ich in ihm auf: Die Glücks-Erwartung zündete genau in dem Moment, ah ich die im Museum ausgestellten Fundstücke betrachtete, ich kehrte der Tür den Rücken zu, ich beugte mich über ein Ausstellungsobjekt, da hörte ich ihre Stimme, ich hörte sie, erst dann drehte ich mich zu ihr um, ich sah sie, ich sah eine knappe, sehr rasche Geste, das Zurückwerfen der Haare aus ihrem Gesicht, dazu das monochrome Grün ihres Kleides, dann die Haut, leicht errötet, das leichte Rot übergehend ins Rotblond der Haare. Was ich sah, waren einige Details, ich betrachtete sie aber, als studierte ich Einzelheiten auf den Bildern sehr alter Meister, und genau so erschien mir denn auch diese Frau: wie eine von alten Meutern gemalte Figur, wie eine Personifikation all der glücklichen Lebens-Umstände, die mich genau zu diesem Zeitpunkt umgaben.
Genau sechs Minuten, sagte der Kellner und stellte die warm gehaltenen tagliatelle erneut vor mich hin, schau mal an, dachte ich, er hat sogar Sinn für Humor, inzwischen war mir heiß geworden, ich wollte es aber nicht zugeben, wahrscheinlich glühte mein Gesicht längst, ich bestellte rasch noch etwas Wasser, um meinen Weinkonsum in Grenzen zu halten. Ich drehte die Nudeln auf dem Löffel zu sehr kleinen Nestern, ich kostete, es war wieder sehr gut, ich packte das Notizbuch entschlossen zur Seite, ich hatte wirklich lange genug geschrieben, da hörte ich das Klingeln des Handys.
Ich blickte mich um, ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht gelernt, in der Öffentlichkeit zu telefonieren, noch immer saß ich manchmal mit offenem Mund in Gegenwart eines lauter familiäre Details von sich gebenden Menschen regungslos da und fasste diese obszöne Mitteilungssucht nicht, ich sondierte also vorsichtig das Terrain, saß aber längst allein in diesem überhitzten Innenhof, die anderen Gäste hatten sich in die kühleren, schattigen Räume zurückgezogen. Ich griff rasch nach dem Handy, ich meldete mich, es war Franca, wo bist Du, Lieber? fragte sie, ich begann, es ihr zu beschreiben, ah, unterbrach sie mich schnell, ich weiß, wo Du bist, ich kenne das Lokal gut, es gibt einen plätschernden Brunnen mitten im Hof, habe ich Recht? Ja, sagte ich, es gibt ihn leider, und wo bist Du, willst Du kommen, um mit mir noch ein Dessert zu essen?, Gianni wird kommen, sagte sie, Gianni möchte sich mit Dir unterhalten, es tut mir leid, aber er wird nicht heimfahren, bevor er sich nicht mit Dir unterhalten hat, deshalb musst Du es eben auch hinter Dich bringen. Ich? rief ich, meinst Du mich?, ich war etwas durcheinander, ich hatte überhaupt nicht mit einem solchen Ansinnen gerechnet, ja, sagte sie ruhig, ich meine Dich, jetzt geht es eben um Dich, jetzt bist Du gefordert. Ich bin gefordert, dachte ich, ich, diesmal ich, und dann dachte ich wieder, iss, iss doch, so iss!, meine Koordination geriet völlig durcheinander, ich wusste nicht einmal mehr, was ich als nächstes tun sollte, essen, nachdenken, schreiben oder trinken, statt dessen spürte ich eine beinahe unerträgliche Hitzeaufwallung, auf diesen Auftritt bist Du nicht vorbereitet, dachte ich, er kommt zum falschen Zeitpunkt, bist Du noch dran? hörte ich Franca, ja, sagte ich, entschuldige, wann wird er kommen?, am besten doch gleich, sagte sie, oder passt Dir das nicht? Ich spürte, dass mein Wille nicht stark genug war, um diese Begegnung noch abzuwenden, matt, wie zerdünstet, saß ich in der prallen Sonne, in Ordnung, hörte ich mich aber sagen, soll er kommen, lass ihn ruhig kommen, ich bin bereit!
Sie sagte, dass sie ins Hotel gehen und dort auf mich warten werde, dann beendete sie gleich das Gespräch, ich schob die tagliatelk sofort zur Seite, Du darfst Dich jetzt nicht weiter beschweren, dachte ich, sich zu beschweren ist gegen die Grundregeln jeder guten Ästhetik. Ich stand auf und ging zur Toilette, dort wusch ich mir mit kaltem Wasser durch das Gesicht, ich schaute erneut in einen Spiegel, aber ich erkannte mich gegenüber dem Morgen kaum wieder, ich sah rotbraun oder besser rostbraun aus, ich hatte mich in der Frühe nicht rasiert, ich hatte etwas von einem Haudegen, etwas verwegen Haudegenhaftes, ich mochte nicht länger hinschauen. Ich ging wieder zurück an meinen Tisch, der Kellner fragte mich zum dritten Mal, ob ich mich nicht nach drinnen setzen wolle, nein, entgegnete ich, sehen Sie nicht, wie gut mir das Sitzen hier draußen bekommt?, außerdem erwarte ich noch einen Bekannten. Soll ich ein weiteres Gedeck auflegen? fragte er, vorerst nein, sagte ich, warten wir es doch lieber ab.
Ich schaute vor mich hin, ich versuchte, mich zu sammeln, was wollte Gianni Alberti von mir, warum um Himmels willen legte er es auf ein Gespräch an, warum beließ er es nicht bei dem Gespräch mit Franca und forderte mich so offen heraus? Bringen Sie noch eine Flasche Weißwein, sagte ich zu dem abwartenden Kellner, er verstand nicht, was ich vorhatte, entschuldigen Sie, sagte er, aber Ihre Flasche ist noch halbvoll, bringen Sie trotzdem eine zweite, sagte ich, und stellen Sie sie in den Kübel, sie ist dann wenigstens eiskalt, wenn mein Gast erscheint. Er schlich davon, ich war mit der Bestellung zufrieden, sie war immerhin eine Art Anfang, ich hatte die Initiative ergriffen.
Ich überlegte mir den nächsten Schritt, da erschien der Kellner mit der triff a in bianco, mein Gott nein, sagte ich, nicht? fragte der Kellner, wieder erst in sechs Minuten?, sie sind aber doch ausgezeichnet, Sie können sie nicht zurückgehen lassen. Stellen Sie sie hin, sagte ich und probierte, um es möglichst rasch hinter mich zu bringen, die Kutteln waren dünn, weich und geschmeidig, sie lagen mit wenigen eingekochten grünen Oliven in einer wie vermutet glasigen Sauce, der Kellner wartete ab, er stand dicht neben mir, ich war nach der ersten Gabel sofort entschlossen, jetzt diese Kutteln zu essen, ich würde sie vor Gianni Albertis Augen langsam verzehren, die Kutteln und ihr Genuss waren die richtige Provokation, damit würde ich Gianni Albertis Gerede glatt unterlaufen, durch den zelebrierten Genuss einer Handvoll von Kutteln würde ich die geheime Regie unseres Gesprächs übernehmen!
Ich aß langsam und langsamer, der Kellner tauchte mit der zweiten Flasche auf, in genau diesem Moment erschien auch Gianni Alberti, hier sind Sie! rief er, er wirkte freundlich, er tat, als wären wir wahrhaftig verabredet, ich war jedoch auf der Hut, er sollte mich nicht täuschen können. Macht es Ihnen etwas aus, in der Sonne zu sitzen? fragte ich, und er antwortete, nein, im Gegenteil, extreme Sonne bin ich durch meine Arbeit gewöhnt. Er gab mir die Hand, ich bot ihm den Platz mir gegenüber an, wir setzen uns, nun leg los! dachte ich, nun mach schon, Gianni, nun rück endlich mit der Sprache heraus!
Gianni Alberti blickte aber zunächst auf meinen Teller mit den Kutteln, ah, sagte er anerkennend und etwas lüstern, ah, triff a in bianco, sie sollen hier ja ganz hervorragend sein, sie sind hervorragend, sagte ich, darf ich Sie zu einer Portion einladen? Er überlegte keinen Moment, ja, gern, sagte er, ich bestellte ihm sofort auch eine Portion, ich war überrascht, dass er auf so etwas einging, überhaupt sah er sehr gefasst aus, beherrscht, von einer eventuellen Verstörung war ihm nichts anzumerken. Der Kellner brachte ihm ein leeres Glas, meine erste Flasche wurde geleert, wir hoben zusammen die Gläser, man hätte denken können, ein Freundespaar prostete sich gut gelaunt zu.
Er trank, dann begann er, ich habe mit Franca gesprochen, ich erwähne keine Details, wir sind alle alt genug, um die Situation zu begreifen, Franca behauptet, sie habe sich entschieden, nicht mit mir nach Ancona zu gehen, ich habe sie ganz offen gefragt, ob Sie der Grund für diesen Entschluss sind, sie hat erklärt, dass dies mich nichts angehe, es müsse mir genügen, wenn sie es ablehne, mit mir nach Ancona zu gehen, die Verlobung betrachte sie als gelöst. Franca hat, sagte er weiter, das bleibt jetzt aber unter uns, Franca hat - ich kenne sie besser, nein, ich korrigiere, nicht unbedingt besser, wohl aber länger als Sie -, Franca hat manchmal ihre Grillen, ich habe in meinem bisherigen Leben mit ihr viele erstaunliche Dinge erlebt, das hier geht in meinen Augen aber zu weit, ich kann diese Geschichte nicht nachvollziehen, noch vor kaum einer Woche haben wir Details eines möglichen Umzugs besprochen, wir wollten, Sie werden es wissen, in Ancona eine gemeinsame, repräsentative Wohnung beziehen.
Er war ins Reden gekommen, Du musst ihn jetzt bremsen, dachte ich, sonst redet er ununterbrochen und am Ende bleibt alles offen, Sie haben bisher nicht zusammen gewohnt? fragte ich, etwas boshaft, aber nein, sagte er ungeduldig, nicht doch, sind Sie darüber nicht informiert? Nein, sagte ich, das bin ich nicht, ich habe mit Franca nie darüber gesprochen, offen gestanden, weiß ich, jetzt ebenfalls ganz unter uns, nicht einmal, wo sie wohnt. Das wissen Sie auch nicht? fragte er und schaute mich zweifelnd an, nein, sagte ich, haben Sie etwa angenommen, dass ich es weiß? ja, sagte er, ich hörte sogar, Sie hätten Franca in ihrer Wohnung besucht, nein, sagte ich, ich versichere Ihnen, und ich nehme nicht an, dass Sie mir nicht glauben, ich versichere Ihnen also, ich habe Francas Wohnung noch nie betreten, ich weiß nicht, wo sich diese Wohnung befindet, ja ich habe nicht einmal irgendwelche Anstalten gemacht, es zu erfahren.
Aha, sagte er nur, er stockte und wusste nicht weiter, er versuchte, das Puzzle seiner Vermutungen neu zusammenzulegen, da wurden die Kutteln in blanco serviert, aha, sagte er wieder, als gelte sein aha in Wahrheit den Kutteln, er richtete sich etwas auf, er schien sogar zu lächeln, dann griff er nach seiner Gabel. Wir schwiegen und dachten nach, wir saßen uns eine Weile stumm gegenüber und aßen beide mit großem Genuss Kutteln in bianco, wir aßen dasselbe, wir tranken denselben Wein, wahrscheinlich ergab unser Zusammensitzen aus einiger Entfernung erneut ein Bild der Vertrautheit.
Ich dachte darüber nach, in gewissem Sinn sind wir vielleicht sogar so etwas wie Vertraute, dachte ich, nicht zufällig haben wir ja beide schon diese verräterischen Wendungen gebraucht, ganz unter uns ..., jetzt einmal unter uns, in gewissen Punkten waren wir uns vielleicht sogar einig oder besonders nahe, wir liebten schließlich dieselbe Frau. Wie wäre es, dachte ich plötzlich, wenn ich mich mit gerade diesem Mann besonders gut verstünde, im Grunde ist er der einzige Mensch, der jetzt eine Art kompetenter Gesprächspartner für mich wäre, kompetent klingt übrigens gut, das würde ihm sehr gefallen, vielleicht sollte ich jetzt eine überraschende Wendung riskieren und zu ihm sagen: Ich schätze Sie in dieser Sache als kompetenten Gesprächspartner, reden wir jetzt einmal unverblümt unter Männern, und treffen wir dann ein paar Abmachungen!
Ich musste grinsen, er bemerkte es und sagte, ich sehe, es schmeckt Ihnen auch, Sie haben Recht, die Kutteln sind wirklich fantastisch, ja, sagte ich, nicht wahr?, in diesem Punkt zumindest sind wir uns einig. Wir aßen eine Weile stumm, dann begann er von neuem, Sie sehen, sagte er, Ihre Worte irritieren mich etwas, ich nahm an, es gebe eine gewisse enge Verbindung zwischen Ihnen und Franca, die gibt es, fiel ich ihm ins Wort, aha, sagte er wieder, die gibt es also doch, können Sie mir dann bitte sagen, wie sie sich aus Ihrer Sicht darstellt? Aus Ihrer Sicht, aus meiner Sicht, natürlich war er gekommen, meinen Standpunkt auszuforschen, er wollte genau wissen, woran er mit mir war, er wollte es möglichst exakt erfahren, um daraus seine Schlüsse ziehen zu können.
Sie werden es pathetisch finden, antwortete ich, aber in meinen Augen ist es Die große Liebe, sie ist es übrigens auf beiden Seiten, es ist Die große Liebe ohne Herzschmerz und Eifersucht, ohne Intrigen und Vorbehalte, ohne jeden Kummer und Rücksichten. Er hörte auf zu essen, er schaute mich an, er sah aus, als mutete man ihm zu, an ein Wunder zu glauben. Signore, sagte er dann, ich kenne Ihr Alter nicht, vielleicht sind Sie ein klein wenig älter als ich, jedenfalls sind Sie nicht mehr im pubertierenden Alter und damit aus dem Alter heraus, in dem man so schwärmerische Begriffe wie Die große Liebe gebraucht und auch noch daran glaubt, diese Begriffe sind etwas für Romane und poetische Abhandlungen, den Ernst des Lebens berühren sie nicht.
Wir befinden uns aber in einem Roman, sagte ich, Franca und ich - wir schreiben gleichsam an einem Roman, es ist ein beinahe klassischer Liebesroman, ein Liebesroman in nuce, wenn Sie so wollen. Er aß noch immer nicht weiter, er schüttelte noch einmal den Kopf, ich bitte Sie, sagte er dann, ich verstehe Sie nicht, es ist ganz einfach, sagte ich, es ist ein Roman ohne wirkliche Hindernisse, ohne peinliche Irrtümer und Nebengedanken, es gibt auch keinerlei alberne Umwege und erst recht keine Skepsis, zwei Menschen erkennen, dass sie füreinander geschaffen sind, das ist es, und es ist so gewaltig, dass es alles andere zum Schweigen bringt, es ist Die Liebe pur, deshalb nenne ich diesen Romanja auch Die große Liehe, es gibt nichts Treffenderes, verstehen Sie jetzt?
Interessant, sagte er und aß weiter, er legte den Kopf schräg, als habe er einen Vortrag zu hören bekommen, der aber erst noch einmal durchdacht werden musste, interessant, mit unserem Alltag ist Ihre große Liebe aber anscheinend nur sehr wenig vertaut, werden Sie doch einmal konkret: Wie stellen Sie sich ein gemeinsames Leben mit Franca denn vor, wo und wie soll es stattfinden, wollen Sie etwa jeden Monat einmal aus München anreisen, um mit ihr am Meer spazieren zu gehen? Es ist nicht so leicht, wie Sie vielleicht denken, Sie übernehmen eine große Verantwortung, wenn Sie sich irren, wenn Ihre Gefühle vielleicht schon in einem Monat schwächer werden und sich auf eine andere Stimmungslage, sagen wir zum Beispiel auf eine in München, einstellen, werden Sie Francas Leben zerstören. Ich glaube ihr, ich kenne sie schließlich sehr gut, wenn sie von der großen Liebe sprechen würde, so hätte ich nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln, sie ist keine leichtfertige, ja noch nicht einmal eine schwärmerische Person, sie hat einen ungemein scharfen, analytischen Verstand, eine Frau wie Franca, sage ich Ihnen,
gerät nur einmal im Leben, nur ein einziges, seltenes Mal, in solche Turbulenzen, Sie würden sie furchtbar verletzen, wenn sie sich in Ihnen täuscht...
Er nahm ein Stück Brot und tunkte es in die Sauce auf seinem Teller, er war wieder ins Stocken geraten, ich hatte ihn plötzlich im Verdacht, Tränen in den Augen zu haben, für einen Moment musste ich sogar gegen ein gewisses Mitleid ankämpfen, mit einem Mal war er ein kleiner, in sich zusammengesunkener Mann, der einen Teller mit Brot aufwischte.
Es war ein verfahrener Moment, hilflos hob ich beide Arme, ich sagte, lieber Dottore Alberti, ich verstehe Sie ja, aber was soll ich sagen, versetzen Sie sich doch bitte auch einmal in meine Lage! Er wischte seinen Teller weiter sauber, natürlich verlangte ich von ihm zu viel, warum sollte er sich auch noch in meine Lage versetzen, es war eine Zumutung, so etwas von ihm zu verlangen, ich richtete an ihn auch eher einen Appell, sich jetzt nicht gehenzulassen, Tränen in seinen Augen fand ich jedenfalls unerträglich, auf mich wirkten sie wie eine Erpressung.
Er nahm einen Schluck Wein, dann sagte er, wieder etwas gefasst, ich kenne Franca seit Kindertagen, ich habe sie immer verehrt, wir Jungs haben sie damals alle verehrt, sie war eine Erscheinung, die nicht nur alle Blicke auf sich zog, sondern auch durch ihre Liebenswürdigkeit, ja durch ihr ganzes Wesen bestach. Während unserer Studienzeiten haben wir uns aus den Augen verloren, dann sind wir uns in unserer Heimatstadt wieder begegnet, ohne zu ahnen, dass wir inzwischen dasselbe Fach studiert hatten. Wir fanden zueinander, es war nicht die große Liebe, wie Sie es nennen, nein, das war es nicht, Poesie war nur in sehr geringem Maße im Spiel, aber wir haben uns sehr geachtet, was unsere Arbeit und den Charakter des anderen betraf. Franca war für mich, wie soll ich es sagen, das größte Geschenk, das mir das Leben gewährte, sie war mir sogar wichtiger als meine Arbeit. Wenn es einem Mann gelingt, eine solche Frau für ein gemeinsames Leben zu gewinnen, kann ihm nichts mehr passieren, verstehen Sie?
Die Sonne verschwand über dem offenen Dach des Innenhofs, ich spürte die plötzlichen Schatten, die sich auf mein Gesicht legten und es angenehm kühlten, der Kellner kam an unseren Tisch, möchten die Herren noch ein Dessert?, was gibt es denn? fragte Gianni Alberti, der Kellner begann aufzuzählen, er fing mit dem Üblichen an und steigerte sich langsam, am Ende erwähnte er noch ravioli äolci, gefüllt mit Kastanienmus, aromatixzato mit etwas anisetta, die sind es, sagte ich schnell, und Gianni Alberti nickte zustimmend, die sind es.
Er räusperte sich, dann erkundigte er sich, als wolle er zumindest etwas Interesse auch für mich aufbringen, nach meinem Filmprojekt, ich berichtete, ich sprach über das Konzept, ich gab mir Mühe, genau und informierend zu sprechen, ist die Fischerei eigentlich für Sie überhaupt kein Thema? fragte er schließlich, bisher nicht, sagte ich, das ist schade, sagte er, reden Sie doch einmal mit den Fischern, sie laufen meist in der Frühe, manche aber auch erst gegen Mittag, in den Hafen ein, gehen Sie doch ruhig einmal auf einen Kutter, Sie werden Erstaunliches zu hören bekommen!
Die Desserts wurden serviert, wir schwiegen beide, wir waren erschöpft, aber noch immer nicht am Ende, ich wusste, dass er sich mit dem, was er bisher erfahren hatte, nicht zufriedengeben würde, dann sah ich, wie er sich zu einem letzten Anlauf aufbaute, Sie haben meine eindringliche, eigentliche Frage noch nicht beantwortet, sagte er, wie stellen Sie sich ein gemeinsames Leben mit Franca vor?
Ich ließ einige Sekunden vergehen, dann sagte ich, so ruhig es mir eben gelang, ich möchte und kann Ihnen darauf nicht antworten, es ist eine Sache, die nur Franca und mich betrifft. Sie haben nicht die geringste Ahnung, flüsterte er, nicht die geringste. Ich kenne Franca seit kaum einer Woche, sagte ich, ich kann Ihnen hier noch kein Programm für ein gemeinsames Leben auftischen. Sie sind ein ahnungsloser Mensch, sagte er, und ich spürte gleich, dass er jetzt ausholen würde, er holte aus zu Beleidigungen und Kränkungen, er konnte sie nicht mehr zurückhalten, irgendwann musste so etwas ja kommen, dachte ich, ich habe es die ganze Zeit schon erwartet. Sie befinden sich in Italien, sagte er, Sie gehen nicht nur eine Verbindung mit Franca, sondern eine Verbindung mit einem Kontinent ein, das aber ist Ihnen nicht klar, Sie sind naiv, Sie sind nichts anderes als ein hergelaufener, naiver Tourist...
Er schaute mich an, er wollte sehen, ob seine Worte getroffen hatten, ich sagte nichts, ich schaute ihn auch an, ich brauche dazu nichts zu sagen, dachte ich, er suchte in meinem Gesicht weiter nach den Wirkungen seiner Sätze, dann senkte er den Blick und sagte, entschuldigen Sie, meine letzte Wendung nehme ich ausdrücklich zurück, Franca liebt Sie, ich habe nicht die Absicht, jemanden zu kränken, den Franca liebt, im Grunde sind Sie mir nicht einmal unsympathisch, aber das spielt keine Rolle, ich weiß jetzt, woran ich mit Ihnen bin, Sie haben sich außer ein paar poetischen nicht die geringsten Gedanken gemacht, Sie müssen damit rechnen, dass ich alles in Bewegung setze, um Franca zu halten, ich werde sehr mächtige, starke Verbündete haben, das können Sie glauben!
Er tupfte seine Lippen mit einer Serviette ab, dann stand er auf, Sie waren mein Gast, sagte ich, ich danke, sagte er, leider werde ich keine Gelegenheit haben, mich zu revanchieren, wer weiß, sagte ich, vielleicht doch, vielleicht in einigen Jahren, wenn wir alle etwas Abstand zu diesen Vorgängen haben. Sie sind wirklich naiv, sagte er und wollte gehen, einen Augenblick noch, sagte ich, schauen Sie her, erkennen Sie das Bild wieder? Ich nahm eine der Karten mit Crivellis Bild der heiligen Magdalena aus meinem Notizbuch und hielt sie ihm hin. Was ist das?, was wollen Sie denn jetzt damit! fragte er, Sie kennen das Bild nicht? fragte ich, es sagt Ihnen gar nichts?, nein, sagte er, es sagt mir nichts, und ich habe nicht die geringste Lust, ausgerechnet jetzt etwas über dieses Bild in Erfahrung bringen zu wollen, schade, Dottore, sagte ich, ich hätte mit Ihnen gerade darüber sehr gerne gesprochen.
Er wandte sich ab und verschwand grußlos, ich setzte mich wieder, plötzlich war es sehr still, das Plätschern des Brunnens erschien mir viel leiser als noch zuvor, auch der Vogel saß träumerisch-unbeweglich in seinem Käfig und hüpfte nicht mehr nervös von Sprosse zu Sprosse, die Stille hatte
etwas Unheimliches, ich schaute zum Himmel, ich hätte mich über das Aufziehen schwerer, dunkler Wolken nicht einmal gewundert.
Der Kellner kam und fragte, haben Sie noch einen Wunsch?, ich bin der letzte Gast, sagte ich, ich halte Sie ja doch nur auf, das tun Sie nicht, sagte er, unerwartet milde und freundlich, ich bringen Ihnen einen Averna, auf Kosten des Hauses, danke, sagte ich, das ist freundlich von Ihnen, zumindest er gab sich Mühe, meine Laune zu bessern.
Habe ich etwas mit Gianni Alberti zu tun, habe ich wirklich? dachte ich, alles, was mit Gianni Alberti zu tun hatte, kam mir wie etwas Überflüssiges vor, sicher war es im Falle Francas ganz anders, sie hatte sich mit Gianni Alberti verlobt, nicht ich, ich durfte ihn also wohl ignorieren. Ignorier ihn, ignorieren! meldete sich in mir eine aufdringliche Hass-Stimme, während des Gesprächs mit Alberti konnte ich dieses Gefühl noch zurückdrängen, jetzt aber war der Hass da, am liebsten hätte ich Alberti gepackt mitsamt seiner repräsentativen Wohnung, seinen mächtigen, starken Verbündeten und seiner wichtigtuerischen Scheinheiligkeit, nicht einmal Crivellis Bild der heiligen Magdalena kannte er, so einer war für Franca der Falsche, glücklicherweise hatte ich den großen Schachzug seines Lebens noch rechtzeitig durchkreuzt.
Der Kellner kam mit dem Averna und der Rechnung an den Tisch, ich bedankte mich, entschuldigen Sie, sagte er, es geht mich nichts an, aber waren Sie mit dem Signore, mit dem Sie gegessen haben, einmal befreundet? Befreundet? fragte ich, ich mit ibntf, wie kommen Sie darauf?, ich nahm an, sagte er, Sie seien einmal gute Freunde gewesen und hätten sich nach einem Zerwürfnis jetzt wieder getroffen. Machten wir etwa diesen Eindruck? fragte ich, ja, sagte er, so sah es aus, ganz falsch ist Ihr Eindruck nicht, antwortete ich, das Zerwürfnis ist jetzt leider endgültig. Ja, sagte er, ich habe es mitbekommen, salute, der Averna ist ohne Eis, ich nehme an, das ist so richtig, ja, sagte ich, danke, es ist so richtig, Averna mit Eis ist etwas für hergelaufene, naive Touristen ..

 

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