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Русские мужчины глазами зарубежных женщин

07.01.08 22:36
Re: Русские мужчины глазами газеты "DIE ZEIT"
 
daser завсегдатай
daser
в ответ Airiss 07.01.08 17:26
DIE ZEIT

Das Tier im Muttersöhnchen

Das Land, in dem der Präsident seine Muskeln zeigt: In Wladimir Putins Russland gefallen sich die Männer noch immer in der Rolle des selbstverliebten Machos.
Von Johannes Voswinkel
So sehr Russlands Gesellschaft im vergangenen Jahrzehnt durchgeschüttelt wurde, das Idealbild des russischen Mannes blieb unbeschädigt: der Macho, der ╩Muschik╚. Die Truppengattung des Hardcore-Muschiks sind die Fallschirmjäger. Alljährlich am 2. August, ihrem Feiertag, ziehen die Elitekämpfer mit hellblauen Baretten und weiß-blau gestreiften T-Shirts durch Russlands Städte, wo sich die Spezialpolizei postiert, als zögen fremde Landsknechte ein.
Unter Hurrarufen stürmen die Fallschirmjäger die Parks, Boulevards und manchen usbekischen Melonenverkaufsstand. In den Plastiktüten klirren ihre Waffen: Wodkaflaschen. Bald zeigen sie den nackten, durchtrainierten Oberkörper, und manche stolze Kriegsbraut an ihrer Seite lupft zur Hebung der Kampfmoral das T-Shirt. Wenn der Tag voranschreitet, pendeln die Krankenwagen hin und her mit Schnapsleichen und Leichtverletzten, die auf dem Rand der Springbrunnen beim traditionellen Erfrischungsbad ausgerutscht sind. Prügeleien gehören zur Folklore, und fast jedes Jahr kommen ein paar Kaukasier der russisch-patriotischen Männlichkeit und der ziellosen Kraft ihrer Popeye-Arme in die Quere. Zum Abschluss des Tages legen die Elitekämpfer in Moskau traditionell den Verkehr auf der Gartenring-Autobahn lahm, und die Polizei verwarnt vor allem ungeduldige und verärgerte Autofahrer.
Schon die Gleichberechtigungsparolen in sowjetischer Zeit konnten dem Muschik und seinem Selbstverständnis kaum etwas anhaben. Viele Russinnen beklagen zwar seine moralische Schwäche und seinen Mangel an Verantwortung. Aber die Mehrheit bewundert ihn oder stellt ihn zumindest noch nicht infrage. Seine simplen Attribute besingt die Rockgruppe Leningrad: ╩Eier, Tabakgeruch, Alkoholfahne und Bartstoppeln╚. Der Muschik, wie der Macho genannt wird, stellt seine Männlichkeit oft mit kommisskurzem Haarschnitt auf dem bulligen Kopf und einem breitbeinig wiegenden Bärengang, am liebsten in Camouflagehose, aus. Er ist der grobe Bursche ohne größere intellektuelle Ansprüche, der Radiosender wie ╩Russisches Radio╚ hört, wo die Frauen Objekt und Sex sportlicher Wettbewerb sind. ╩Unser Land╚, urteilt der Doyen der russischen Sexualwissenschaft, Igor Kon, ╩ist grob und sexistisch.╚
In seiner soldatischen Lebensauffassung neigt der Muschik eher zur Gewalt als zur Verhandlungslösung. Die gilt als Zeichen der Schwäche, vor allem, wenn sie in einem Kompromiss gipfelt. Bei der Männlichkeit kann es keine Kompromisse geben. ╩Während der Machismo in Südeuropa oft eher dekorativen Charakter hat, entspricht er in Russland einer inneren Einstellung, zu der fast automatisch Aggression gehört╚, sagt Andrej Sinelnikow, stellvertretender Direktor des Nationalen Zentrums zur Gewaltprävention, ╩Anna╚, in Moskau. ╩Die Gewalt wird gerne mit der Besonderheit der russischen Seele entschuldigt: Sie schlagen sich zwar, aber hernach versöhnen sie sich wieder, heißt es begütigend.╚
Massig und unberechenbar: Der Bär ist das Symbol des russischen Mannes
Der Muschik ist die vollendete Verkörperung des russischen Mannes und sein Fluch. Er bleibt das dominierende Modell der Orientierung v sei es als unerreichbare Herausforderung oder als abschreckendes Beispiel. Kraft, Entbehrung, Kampf und Erfolg vereinen sich im Idealbild. Viele Russen messen sich daran, scheitern an den Ansprüchen und sind frustriert. Manche verfallen in Verzweiflungsstarre oder Alkoholrausch. Andere verspielen ziellos ihr Leben, das sie als Einsatz gering schätzen. Die russische Gesellschaft formt Männer, die ihr Potenzial nicht auszuschöpfen vermögen.
Die Zeitschrift für den gebildeten Muschik heißt Der Bär. Er ist das Wahrzeichen des russischen Mannes. Der Bär ist massig und unberechenbar, er jagt und nimmt in Besitz, ist zu großen Kraftanstrengungen und tiefen Faulheitsphasen fähig. Die männerdiktierte Machtpartei Einiges Russland, deren Ideologie sich in der Unterstützung des Präsidenten Wladimir Putin erschöpft, malte sich einen Bären auf ihre Fahnen. Der Chefredakteur der Zeitschrift, Stanislaw Juschkin, sitzt in seinem Kabuff, wo gerade noch ein Besucher Platz findet, wie in einer Höhle. Draußen vor der Tür umlagern ihn Sekretärinnen. ╩Unser Männerbild ist das eines großen, kräftigen und leicht aggressiven Mannes╚, sagt Juschkin. ╩Der frühere Präsident Boris Jelzin kam ihm sehr nahe in seiner Männlichkeit und Unvorhersehbarkeit.╚
Juschkin konzipiert seine Zeitschrift für Männer, die älter als 30 Jahre sind und als Unternehmer oder Banker einen Teil ihres Lebensweges erfolgreich zurückgelegt haben. Sie lesen Interviews mit Helden, die vom Männertagewerk, dem Überwinden aller möglichen Widerstände, berichten. Beliebt sind auch Jagderzählungen berühmter Russen. In der Rubrik Papa berichtet ein Autor launisch über seine Erziehungserfahrungen. Weitere Ratgeber ╩Lebenshilfe╚ gibt es allerdings nicht. ╩Der Mann ist ein selbstständiges Tier, das höchstens in Krisensituationen mal Unterstützung benötigt╚, meint Juschkin.
Vor allem möchte Juschkin seinen Lesern bestätigen, dass ihre alten moralischen Vorstellungen noch Bestand haben. Dazu verweist er stolz auf ein Interview mit einem Scharfschützen der russischen Armee, der den Tschetschenienkrieg durchlaufen hat. Dieser vorbildliche Offizier aus einer Militärfamilie wird dafür gerühmt, dass er Hesse liest, Beethoven hört und den Feind mit seinen Zähnen zerreißen kann. ╩Ein Soldat darf nicht denken╚, postuliert der Scharfschütze. Seinen Staffordshireterrier erzieht er durch Schläge mit den Grinders-Stiefeln. ╩Das ist jemand, der für wenig Geld sein Leben fürs Vaterland riskierte und als 23-Jähriger schon wie ein 30-Jähriger urteilt╚, sagt der Chefredakteur. ╩Das ist ein optimistischer Augenblick für unsere Leser.╚
Russland hat als Kehrseite seiner autoritären Herrschaft bis heute einen althergebrachten männlichen Chauvinismus bewahrt. Mitte des 16. Jahrhunderts, zur Regierungszeit Iwans des Schrecklichen, erschienen christlich-patriarchalische Lebensratgeber, die den Alltag für Jahrhunderte bestimmten und bis heute für ihre Züchtigungsanleitungen berühmt sind. Das Haus war streng in einen männlichen und weiblichen Teil getrennt. Die gehorsame und bescheidene Frau durfte beim Gespräch ihrem Mann nicht in die Augen schauen. Wenn sie ihre häuslichen Pflichten vernachlässigte, waren Schläge erlaubt. Als größte Tugend des Hausherrn galt es, alle Gefühle zu verbergen. Liebe und Zärtlichkeit sollten vor dem Kind versteckt werden, um es abzuhärten. ╩Bestrafe die Kinder in der Jugend, und sie verschaffen dir Ruhe im Alter╚, lautete einer der Sinnsprüche. Gegenüber der Obrigkeit aber mussten die Männer absoluten Gehorsam zeigen. Im Staat hatten sie die weiblich schwache Position.
Männer sind Mangelware, deshalb haben auch Psychopathen Chancen
Das Zwangssystem der Sowjetunion setzte die Unterdrückung der männlichen Unabhängigkeit fort. Die meisten Männer konnten weder gesellschaftlich hoch aufsteigen noch heroisch scheitern. ╩Seit den sechziger Jahren wurde immer offensichtlicher, dass die Ideologie nur noch formal existierte╚, erklärt Chefredakteur Juschkin. ╩Es gab keinen Sinn mehr im Leben. Nicht einmal Wohlstand war zu erreichen. Eigenständigkeit galt grundsätzlich als negativ und gefährlich.╚ Juschkin kennt das aus der eigenen Familie, da sein Großvater als Großbauer von den Bolschewisten unterdrückt wurde. ╩Das Wichtigste war, nicht aufzufallen╚, sagt er. ╩Das ist in die Psychologie bis zu den heute 40-Jährigen eingegangen. Deshalb gibt es unter ihnen wenig klare Persönlichkeiten.╚
Die von oben verordnete Gleichberechtigung reduzierte den sowjetischen Vater auf die Ernährerrolle. Harte Arbeit im Dienste des Sozialismus machte den Kern seiner Anerkennung aus. Da auch die meisten Frauen arbeiteten, erlebten die Kinder ihre Erziehung in der rauen Hofwelt des Wohnblocks, wo oft Bandenbildung und Faustrecht herrschten. Als seine Kampffähigkeiten für den Leningrader Hinterhof nicht mehr ausreichten, begann Putin im Alter von elf Jahren zu boxen. Sein späterer Judotrainer, erzählte Russlands Präsident zu Beginn seiner ersten Amtszeit, habe ihn letztlich aus dem Hofmilieu gerettet. Das zuweilen grobe Vokabular hat Putin behalten und jenen sexistischen Humor, mit dem er den israelischen Präsidenten Mosche Katzav als ╩starken Kerl╚ pries, nachdem dieser der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung beschuldigt worden war.
Mit dem Untergang der Sowjetunion hat der Macho in den wilden neunziger Jahren sein Revival erlebt. Der Mann war als Verteidiger der Familie wieder gefragt, da der Staat als Beschützer versagte. Die Familie wurde zum einzigen Hort in einer feindlichen Umgebung. Das Vertrauen gilt nur konkreten Menschen, der Mutter, dem Großvater oder heute Putin, aber keinen Institutionen. Der Staat, der sich in sowjetischer Zeit als Übervater gab, kann nicht einmal die medizinische Versorgung und Ausbildung der Jugend sichern.
Deshalb reichen die Anforderungen an den zeitgemäßen Mann weit über die Rolle des Brötchenverdieners hinaus. ╩Er muss im Idealfall ein Provider sein╚, erklärt die Soziologin Jelena Sdrawomyslowa, ╩der Sicherheit, Geld, Gesundheit, Sexualität und Nachwuchs garantiert.╚ Viele Männer können schon wegen ihres miserablen Gehalts nicht mithalten. Das Modebild dieses Jahrzehnts zeigt einen erfolgreichen Unternehmer, der sportlich ist und Widerstände bewältigt, sich aber nach wie vor nicht an der Hausarbeit beteiligt. ╩Das ist eine Art zivilisiertes Patriarchat╚, sagt Sdrawomyslowa.
Dem starren Männerbild steht eine Gesellschaft gegenüber, in deren Städten die Geschlechterdomänen bereits kräftig durcheinandergeraten. Immer häufiger treten Frauen in direkte Konkurrenz zu Männern um Posten und Aufgaben. ╩Die These von den Männern als schwachem Geschlecht und als Opfer der Moderne kam bereits in den siebziger Jahren auf╚, sagt Sdrawomyslowa. ╩Das veraltete Männerselbstbild verschlimmert noch das Problem. Die Frauen erobern viel schneller die früheren Herrschaftsbereiche des anderen Geschlechts.╚ Den Frauen kommt entgegen, dass sie aus einer Vielzahl von öffentlich anerkannten Rollen in der Bandbreite zwischen Hausfrau und Unternehmerin wählen können. Im Beruf gewinnen sie unmittelbare Vorteile wie finanzielle Eigenständigkeit. Die Männer verteidigen dagegen nur Besitzstände. Ihr Gewinn, wenn sie mehr Zeit mit den Kindern verbrächten, läge auf höherer kultureller Stufe. ╩Männer brauchen länger, um das zu schätzen╚, sagt Sdrawomyslowa.
Ein Vorteil immerhin bleibt den russischen Männern vorerst: Sie sind Mangelware. Julia gehört zu den vielen Frauen, die seit Langem einen Partner suchen, der, wie sie sagt, weder ╩Diktator noch Kleinkind╚ sein soll. Die 45-jährige Moskauerin ist geschieden, hat zwei Töchter und arbeitet für Frauenprojekte. Sie surft durch Bekanntschafts-Webseiten, aber das Ergebnis ist eher deprimierend. ╩Da gibt es sexuelle Psychopathen, selbstbewusste Schwatzköpfe vom Typ Sportlehrer und Komplexbeladene, die ein endloses Klagelied über Ehefrau, Kinder, Vorgesetzte, Wetter und Gehalt anstimmen╚, erzählt Julia. ╩Und sie glauben noch, das sei attraktiv für Frauen. Mir scheint, die normalen Männer sterben aus.╚
Julia liegt aus demografischer Sicht nicht ganz falsch. Obwohl statistisch bei Neugeborenen auf 100 Mädchen 105 Jungen kommen, ist der starke Frauenüberschuss in Russland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute nicht ausgeglichen. Vor drei Jahren kamen 1151 Frauen auf 1000 Männer. Schuld ist die hohe Männersterblichkeit. Ein russischer Mann lebt durchschnittlich 58 Jahre, 18 Jahre weniger als ein deutscher. Seine Lebenserwartung sank besonders stark im neukapitalistischen Wettbewerb nach dem Ende der Sowjetunion, der die Anpassungsfähigkeit vieler Männer überforderte. Männer neigen zudem zu risikoreichem Verhalten und zu Gewalt. Der Straßenverkehr bietet die Alltagsarena für den maskulinen Wettkampf: Wer sich anschnallt, gilt als verweichlicht oder geistig verwirrt. Die Erfolgreichen bevorzugen Potenzboliden wie Hummer-Jeeps oder Geländewagen mit Bullenfänger. Im vergangenen Jahr starben in Russland bei Verkehrsunfällen 32724 Menschen. In der Statistik des männlichen Selbstmordes ist Russland Weltführer. Allein im ersten Quartal dieses Jahres brachten sich mehr als 7000 Männer um. Andere wählen den passiven Selbstmord durch Alkohol oder Drogen.
╩Das Defizit macht den Mann zum gesuchten Gut╚, sagt Sdrawomyslowa. ╩Er mag wer weiß, was für einer sein, Hauptsache, es ist ein Männlein zum Heiraten.╚ Aus dem verschärften Wettbewerb macht ein früherer Psychologe des Katastrophenschutzministeriums in Moskau sogar sein Geschäft. Für gut 200 Euro bildet er in einem sechswöchigen Kursus fachkundige Männerfängerinnen aus. Ihre Zielgruppe teilt der Psychologe in drei Typen ein: Infantile, Jungenhaft-Verantwortungsscheue und Väterliche. Die Kategorie des reifen und eigenständigen Mannes führt er erst gar nicht. Seinen Kundinnen rät er besonders zu einer weichen Mädchenstimme, dem treuen Augenaufschlag und viel Lob für die Prahlsüchtigen unter den Männern.
Mütter dominieren die Erziehung, viele Kinder wachsen ohne Vater auf
Die Lolita-Rolle gelingt Julia allerdings wenig glaubhaft. ╩Ich verhalte mich allen gegenüber wie eine Mutter. Das ist wohl das dominierende Modell in Russland╚, sagt die Feministin ein wenig zerknirscht. ╩Das ist zugegebenermaßen auch angenehm, da ich keine Grenzen ziehen und niemanden abweisen muss.╚ Das Bemuttern findet zudem bei den meisten Männern Anklang. Ihren früheren Mann lobt Julia als klug, gebildet und gut aussehend. ╩Aber als Ehemann war er eine Null╚, sagt sie. Als die Töchter klein waren, weigerte er sich, die Windeln zu waschen. ╩Er hat gesagt, er müsse über das Weltall grübeln╚, erzählt Julia. ╩Damals habe ich das noch akzeptiert und gedacht: Na ja, einer muss das tun.╚ Heute regt sich Julia auf, wenn der Mann im Restaurant nicht sofort bezahlt oder ihren Koffer zu langsam vom Gepäckband wuchtet. Sie hasst die Unklarheiten im Verhalten der Geschlechter, an denen die männliche Trägheit, aber auch die weibliche Emanzipation schuld sind.
Ihre 22-jährige Tochter, findet Julia, habe das Mitleidsgemüt ihrem Freund gegenüber von der Mutter geerbt. ╩Aber im Gegensatz zu mir damals weiß sie heute, was sie erreichen will╚, sagt Julia. ╩Meine Kinder sind verantwortungsbewusster und tatkräftiger als mein Exmann.╚ Als er im vergangenen Winter für seine minderjährige Tochter eine Vollmacht für ihre Auslandsreise besorgen sollte, wartete er bis zum letztmöglichen Tag. ╩Dann rief er mich an und klagte: Der Notar hat geschlossen. Was soll ich tun?╚, erzählt Julia. ╩Ich war auf der Arbeit und habe kurz gesagt, dass ich zurückrufe. Als ich mich eine Stunde später bei ihm meldete, stand er noch immer bei minus 25 Grad vor dem dunklen Notarsbüro und wartete brav auf meinen Anruf.╚
Julias Exmann entspricht einem klassischen Typ, der sich dem männlichen Ideal in Passivität verweigert und schon in der russischen Literatur vor sich hin döste: der entscheidungsschwache und verantwortungslose Intellektuelle, in dem Leidenschaften und Gefühle kämpfen, ohne den Weg nach draußen ins Leben zu finden. ╩Das ist ein kulturelles Phänomen╚, sagt der Kinoregisseur Alexej Popogrebskij. Sein letzter Film, Einfache Dinge, erzählt von dem Petersburger Anästhesisten Sergej. Dieser lebt mit seiner Familie in einem Zimmer einer Zwangswohngemeinschaft, wo das Tuch über der Leine die Trennwand ersetzt und der Nachbar das Flurtelefon blockiert. Seine Frau erwartet ein Nachzüglerkind, und er übernimmt in seiner Geldnot als Zusatzjob die Pflege eines alten, todkranken Mannes.
Sergej neigt nicht zur Selbstreflexion, doch die Erschütterungen durch unerwartete Vaterschaft und Todesnähe bringen ihn zu seinem kurzzeitigen Unglück ins Grübeln. Seine Lebenskrise verleitet ihn zu einem missglückten Diebstahl und vielen Besäufnissen. ╩Er ist sowohl stark als auch schwach, mit guten und schlechten Anlagen╚, sagt Popogrebskij. ╩Das ist eine besondere russische Männlichkeit. Er sucht Erfolg und hat doch nur begrenzte Möglichkeiten. Er ist freiheitsliebend und sehr müde.╚ Sergej wartet unter unerträglichen Umständen geduldig ab, bis das Leben endlich für ihn entscheidet. Trotz aller Grübelei und Ereignisse ändert er sich nicht. ╩Im Unterschied zu den Figuren im amerikanischen oder deutschen Kino ist Sergej aber kein unglücklicher Mensch╚, sagt Popogrebskij. ╩Weder läuft er Amok, noch zerbricht er an seinem Leben. Ich sehe ihn nicht negativ.╚
Das tun eher die westlichen Zuschauer. Als Popogrebskij sein Drehbuch bei einer Berliner Agentur vorlegte, fragte ihn die dortige Mitarbeiterin, warum sich Sergej in einer Szene mit dem alten Mann betrinke. Sie suchte nach einem tiefen psychologischen Grund wie dem Gedanken an den Tod, um sein Handeln zu entschuldigen. ╩Den gab es aber nicht╚, sagt Popogrebskij. ╩Er trank einfach so. Das ist wie mit einem Karton am Wegrand, gegen den man treten muss. Man weiß erst hinterher, ob ein Backstein darunter liegt und man sich den Fuß stößt. Aber die Situation ist so, dass man treten muss.╚
Den Männertyp seines Filmhelden vergleicht Popogrebskij mit einem Kater, der sich trotz aller Angepasstheit seinen eigenen Willen bewahrt. ╩Wenn Frauchen mal droht, läuft er weg und tut dabei, als habe er sowieso Wichtigeres zu tun╚, sagt der Regisseur. ╩Aber er kehrt nach jedem Herumstreunen zum Futternapf zurück.╚ Popogrebskijs Filmhelden nisten sich gerne bei Frauen ein, die sich wie ihre Mutter verhalten. Ihre stärksten Erinnerungen stammen aus der Kindheit. ╩Um diesen Männertyp zu verstehen╚, beteuert Popogrebskij, ╩muss man in Russland leben.╚
Mutterfixiertheit und Unselbstständigkeit erklären sich vor allem aus der russischen Familienwirklichkeit. Die Mutter dominiert meist die Erziehung, und viele Kinder wachsen ganz ohne Vater auf. Seit den siebziger Jahren stieg die Scheidungsrate stetig an: 1960 kamen 12 Scheidungen auf 100 Hochzeiten. 2004 waren es bereits 65. Die Kinder werden fast ausschließlich den Müttern zugesprochen, da kaum ein Richter ihre Versorgung den Vätern zutraut. Laut einer Studie des Krisenzentrums für Männer im sibirischen Barnaul hat jeder sechste Mann keinen Kontakt mehr zu seinem Scheidungskind, und drei von fünf Männern sehen es nur einmal im Monat.
╩Mein früherer Freund╚, klagt Julia, ╩kannte nicht mal seine Schuhgröße╚
╩Die Frauen erziehen ihre Söhne oft falsch╚, sagt die langjährige Frauenaktivistin Olga Lipowskaja, die sich auf ihrer Visitenkarte ╩Großmutter des russischen Feminismus╚ nennt. ╩Die Jungen lernen nicht mal die grundlegenden Arbeiten im Haushalt, da sie traditionell den Mädchen gegenüber als hochwertiger angesehen werden. Viele Männer sind deshalb kaum lebensfähig. Mein früherer Freund kannte nicht mal seine Schuhgröße.╚ Oftmals wachsen die Jungen bei Mutter und Großmutter auf, was Psychologen skeptisch beurteilen. Es fehlt nicht nur die zweite natürliche Elternhälfte. Der Sohn gerät in den Konflikt zweier Konkurrentinnen verschiedener Generationen: Mutter und Großmutter rügen ihn ständig und versuchen zugleich, ihn in ihren Streitereien auf die eigene Seite zu ziehen. Er wird nicht zum eigenständigen Ehemann, sondern zum verschlagenen Sohn erzogen. Da der Vater fehlt, bleibt ihm nur das gesellschaftlich gängige Geschlechtermodell als Orientierung und die Armee als Mannesschule fürs Leben.
Russlands größte männliche Zwangsorganisation gilt auch nach dem Ende der Sowjetunion in der Propaganda als Grundstein des Staates und Aufnahmestation in die Erwachsenenwelt. Die Armee wird mit patriotischen Liedern und Kriegsfilmen zum Männerbündnis der Vaterlandsverteidiger verklärt. Das Bild des wehrhaften Soldaten passt der politischen Führung, die dem Staat eine Hierarchie nach dem Armeeprinzip verordnete. Die Macht in der Politik haben die Männer, allen voran der Oberkommandierende Putin. Die knapp zehn Prozent Frauen im Parlament ähneln oft vergangenen Komsomolzenfunktionärinnen, die vor allem mit blümchenbunten Kleidern und betonierten Frisuren die Achtung ihrer Kollegen hervorrufen möchten.
╩Unsere offizielle Ideologie heute ist sehr einfach: Gut ist nur das Traditionelle, Beständige, Nationale╚, beklagt der Sexualwissenschaftler Igor Kon den verordneten Konservatismus und das Fehlen einer öffentlichen Diskussion über Geschlechterrollen. ╩Das, was unsere Vorväter nicht hatten, gilt als schlecht und verdächtig, da es aus dem angeblich moralisch verkommenen Westen stammt╚, sagt er bedauernd. ╩Die Menschenrechte und die individuelle Wahl aus einer Vielfalt der Lebensstile passen nicht in ein solch einfaches Modell einer schwarz-weißen Welt.╚
Die Patriotinnenpflicht zum Kinderbekommen erscheint in Russland erneut als heilig, wenn die Putin-Jugendorganisation ╩Unsere╚ modellhafte Russinnen mit Kinderwagen aufmarschieren lässt. Die Männer sollen sie als staatstreue Privatsoldaten schützen. In der Armee aber durchlaufen viele von ihnen eine Schule der Gewalt, die nach Schätzungen der Organisation der Soldatenmütter jährlich 3000 Rekruten nicht überleben. Sie werden systematisch schikaniert und dabei von Dienstälteren oder Offizieren erschlagen, beim fahrlässigen Umgang mit Waffen erschossen oder in den Selbstmord getrieben. Tausende desertieren. Dennoch werben die Befürworter des Zivildienstes selbst mit dem männlichen Einsatz als fallschirmspringender Taigafeuerwehrmann im Fernen Osten vergeblich. Der Ersatzdienst passt nicht zum vorherrschenden Bild der Männlichkeit. Noch heute sagen viele Mädchen, dass sie nur einen Freund akzeptieren, der als Soldat gedient hat, obwohl umso mehr Mut dazugehört, sich gegen die Mehrheit zu stellen. Sogar das durchtriebene Vermeiden des Wehrdienstes durch Schmiergelder ist eher akzeptiert. Zur Herbsteinberufung im vergangenen Jahr traten in der Zehnmillionenstadt Moskau zwei Wehrdienstverweigerer an.
Auch die kleinen Fluchten des zivilen russischen Mannes vor der Enge zu Hause führen meist in traditionelle Männergesellschaften. Der Sexualwissenschaftler Igor Kon konstatiert, dass es eine große Zahl heterosexueller Männer gebe, die mit ihren Frauen schliefen, aber sonst mit ihnen nichts anfangen könnten. ╩Arbeit und Freizeit möchten sie mit anderen Männern verbringen╚, sagt Kon. Sie treffen sich mit Autobastlern an der Gemeinschaftsgarage, zur Jagd oder zum Angeln. Die Fotos Putins mit nacktem Oberkörper, Sonnenbrille und Cowboyhut in Outdoor-Pose am Fluss Jenissej zeigten ihn als wahren russischen Macho v wie für den Teenie-Starschnitt. Auch der Parlamentssprecher und der Minister für Katastrophenschutz haben sich schon in martialischer Pose und Tarnkleidung beim Jagen fotografieren lassen.
Am Wochenende bevölkern Schwärme von Männern in den hüfthohen Gummihosen der Chemiestreitkräfte die Ufer rund um die großen Städte. Manches Kleinkollektiv bricht den Wodkavorrat schon im Vorortzug an und schafft es kaum mehr bis ans Wasser. In Gruppen von zwei bis vier Mann, in denen sich die sozialen Unterschiede schnell verlieren und eine neue Hierarchie der Erfahrung einsetzt, grenzen sie sich mit eigenem Slang und dem Fachwissen um Hakendicke und Wurmgüte gegen das Alltagsleben ab. Jedes Jahr im Frühjahr treiben ganze Kolonien von Eisanglern, die als die Härtesten gelten, auf ihren Schollen im Finnischen Meerbusen oder vor Sachalin ab. Die Natur dient als Herausforderung. Sie ist voller Risiken wie Wetterumschläge und voller Gegner wie Fischereiaufseher. Nach Hause kommen die Männer mit geangeltem oder listig gekauftem Fang. Das hat etwas Atavistisches, und sie können müde, aber erfolgreiche Helden mimen.
In diesen Männergesellschaften grassiert die Feindschaft gegenüber Homosexuellen. ╩Die Homophobie erlaubt es denen, die das hohe Männlichkeitsideal nicht erreichen, sich durch die Erniedrigung anderer als wahrer Mann zu fühlen╚, erklärt der Sexualwissenschaftler Kon. Es gibt kaum ein Thema, das in Männerkreisen größere Aggression hervorruft. Wer sich tolerant gegenüber Homosexuellen zeigt, gerät sofort in Gefahr, als schwul zu gelten. Entsprechend ist es geradezu Patriotenpflicht, sich öffentlich feindselig zu äußern. Der Bühnenautor Ilja Resnik erklärte: ╩Für Russland sind Schwule keine organische Erscheinung.╚ Der frühere Gouverneur von Nowgorod, Michail Prussak, verkündete: ╩Ein normaler Mann kann auf diese Männer nicht ruhig reagieren. Sie müssen behandelt und geheilt werden.╚
Jeder Russe trinkt pro Jahr im Durchschnitt 15 Liter reinen Alkohol
Das Bindemittel der russischen Männergesellschaften ist meist der Alkohol. Während westliche Bierreklame eher den Individualgenießer umwirbt, gilt Biertrinken in Russland als kollektive Bewährungsprobe und männliches Vertrauensritual. ╩Das ist einer von uns╚, heißt es über den mitsaufenden Fremden, als sei sein Aufnahmeantrag genehmigt. Die Unterscheidung in ╩Unsere╚ und die anderen, die in der Sowjetunion den zuverlässigen Sozialisten vom Spion trennte, ruht fest in der russischen Mentalität. Die Polittechnologen des Kremls nannten eine Putin-Jugendorganisation aus der Retorte deshalb ╩Unsere╚.
Russische Bierwerbung wandte sich in den letzten Jahren fast ausschließlich an Männer. Ein Werbespot präsentierte schmutzige Fußspuren auf dem Teppich, einen Fußball im verwüsteten Blumenbeet und einen leer gegessenen Kühlschrank. Ein anderer zeigte Vater und Sohn, die sich triumphierend mit einem Bier vor der Gartenarbeit drücken, während die Mutter weiterhin das Beet umgräbt. Der Mann beweist Verachtung für die Familienwerte. ╩Das ist das Männerbild einer vorgeblich großen Seele╚, schimpft Julia, ╩hinter der sich in Wirklichkeit ein unverantwortliches Schwein verbirgt. Hauptsache, er trinkt.╚
15 Liter reinen Alkohol nimmt ein Russe durchschnittlich im Jahr zu sich v fast ein Drittel mehr als ein Deutscher. Die Weltgesundheitsorganisation bezeichnet Russland als Alkoholhochburg. Fast die Hälfte der Männer, die im arbeitsfähigen Alter sterben, haben sich mit Wodka oder Ersatzstoffen wie Eau de Cologne, Frostschutzmittel oder Türschlossenteiser vergiftet. Der Soziologe Alexej Levinson erklärt den spezifisch russischen Hang zur Selbstzerstörung damit, dass die Männer den Wert des Lebens, auch des eigenen, gering schätzten. Weil der Staat nicht lehre, den einzelnen Menschen zu achten. ╩Es gibt eine Art Kultur, sich nicht um die eigene Gesundheit und Sicherheit zu kümmern╚, sagt Levinson. ╩Das ist eine Soldatenmentalität in einer militarisierten Gesellschaft.╚
Aber im Schatten des dominierenden Männerbildes zeichnen sich Veränderungen ab. Die Jugend in den großen Städten, vor allem in Moskau, ist viel freier geworden. ╩Sie erschafft sich langsam verschiedene, gleichwertige Rollenmodelle╚, sagt die Soziologin Sdrawomyslowa. ╩Noch dominiert auch in der Jugend ein eher wilder Männertyp, der in der Lage ist, aus dem Dickicht der ungeschriebenen Gesetze unserer Gesellschaft als Sieger hervorzugehen. Das ist ein technisches Supermannbild mit den Attributen Mobiltelefon, Computer und Internet.╚ Aber die Zeit neigt sich dem Ende zu, da alle Männer, wie es der russische Frauenspott ausdrückte, nur ein bisschen schöner als Affen aussehen mussten. Die Märkte für Körperlotionen und Männerkosmetika wachsen, Sportstudios ohne Bodybuildingzwang sind trendy. Nur in der Provinz, wo sich der Arbeitsmarkt in den Optionen Nachtwächter und Traktorfahrer erschöpft und die örtliche Bierschwemme das Kulturprogramm zum Wochenende diktiert, schwebt weiterhin über allem das männliche Heiligenbild des Trinkers und Kneipenschlägers.
Seine langsame Modernisierung erlebt Russland in den Städten. Die neuen Büros atmen Effizienz fern aller Ehrentafeln der Bestarbeiter und verstaubten Beschwerdebücher von einst. Disziplin und Einsatz werden mit der Aussicht auf Wohlstand belohnt. ╩Gerade in Moskau wächst eine neue Managergeneration nach, die gesünder lebt╚, erzählt der Vertreter eines deutschen Gasunternehmens. ╩Vor zwei Jahrzehnten haben wir tagsüber nüchtern verhandelt, aber abends viel Wodka getrunken, russische Volkslieder gesungen und uns dabei tief in die Augen geschaut. Heute gibt es nur noch hie und da ein Glas Rotwein.╚ Moskau ist die einzige Region Russlands, in der die Menschen schon seit Jahren mehr Geld für Bier als für Wodka ausgeben.
╩Ich komme gar nicht zum Saufen╚, scherzt Michail Timoschtschenko. Der 40 Jahre alte Abteilungsleiter einer Handelsfirma für Druckereifarben und Papier gehört zu jenen Männern, die mit Selbstbeherrschung und Eifer das Land zusammenhalten. ╩Moskau hat einen verrückten Rhythmus╚, sagt er. ╩Du hetzt zur Arbeit, danach durch die Stadt für die Familie, und wenn du zu Hause auf die Uhr schaust, ist es schon Zeit, ins Bett zu gehen. Wann soll man sich da betrinken?╚ Seine zwei Kinder, der Wunsch, zur Mittelklasse zu gehören, und der Kredit für die neue Dreizimmerwohnung v all das diszipliniert Timoschtschenko. Sogar sein Hobby fordert Nüchternheit. Während der Tauchferien im Sommer vor der ägyptischen Küste gab es auf dem Boot maximal ein Glas Kognak nach dem letzten abendlichen Tauchgang. Wer im Kreis seiner Sportfreunde zu bechern beginnt, wird ungläubig angeschaut und verächtlich gefragt: ╩Trinkst du etwa?╚
Timoschtschenko erlaubt sich zu Feiertagen oder im Restaurant ein paar Gläschen Wodka. ╩Man darf aus dem Trinken nur keinen Kult machen╚, sagt er. ╩Es ist nicht mehr modisch. Moskau steigt auf zum Weltniveau. Wir wollen allen unser wahres, gesundes Gesicht zeigen.╚ Sogar auf den Firmenfesten zum neuen Jahr darf er mittlerweile am Orangensaft nippen, ohne gehänselt und zum Alkohol genötigt zu werden. ╩Früher habe ich sicherlich an manchem Abend die Gesamtmenge einer halben Flasche Wodka heimlich aus meinem Glas unter den Tisch oder in die Blumenkübel kippen müssen╚, erzählt Timoschtschenko. ╩In den neunziger Jahren galt als krank, wer nicht trank.╚ In der Bank, in der er damals für kurze Zeit arbeitete, stand zu jeder Kontoeröffnung eines bedeutenden Kunden gleich ein Tisch voller Wodkaflaschen, Salzgurken und Korianderbrot zum Feiern bereit. ╩Heute würde der Kunde misstrauisch auf eine solche Bank schauen╚, sagt Timoschtschenko.
In der Banditenwirtschaft der neunziger Jahre hat der gelernte Geologe mit Autoersatzteilen gehandelt und viel Geld verdient. Fast jeden Abend leerten er und seine Kollegen einen Sektkarton oder teure Kognakflaschen. Wer wollte, machte am nächsten Tag blau. ╩Damals war der Händler halt wichtiger als der Kunde╚, erklärt Timoschtschenko. ╩Aber ich habe den Sprung aus dem Sumpf geschafft.╚ Er schloss ein Wirtschaftsstudium ab, heiratete und fand eine feste Arbeit in einer Druckerei. ╩Andere von uns sammeln heute an den Metroeingängen leere Bierflaschen zusammen.╚ Abends gönnt sich Timoschtschenko mit seiner Frau manchmal einen Cappuccino und Erdbeeren mit Schlagsahne in den boomenden Moskauer Kaffeehausketten. Cafés kannte er vor 15 Jahren nur aus Spielfilmen. ╩Wie schön, dass es dieses Angebot jetzt gibt╚, sagt er.
Männer, die zum Psychologen gehen, gelten als Versager
Als Timoschtschenko vor einem Jahr beobachtete, dass sein fünfjähriger Sohn Stöckchen wie Zigaretten an den Mund hielt, gab er das Rauchen auf. Noch gehört er auch damit zu den Pionieren der Moderne. Denn weltweit führt Russland bei der Zahl der Todesfälle, die mit dem Rauchen verbunden sind. Etwa 60 Prozent der Männer rauchen, doppelt sov iel wie in Deutschland. Der Kanon der traditionellen Männlichkeit fördert zudem vor allem Herzgefäßerkrankungen: Im Streben nach vermeintlicher Stärke gilt es, allen Stress in sich hineinzufressen. Männer in Russland besuchen halb so oft wie Frauen einen Arzt, da sie nur ungern um Hilfe bitten. Wer gar den Rat eines Psychologen einholt, gilt als weibisch und Versager.
Auch untereinander sprechen die meisten Männer nicht über ihre persönlichen Probleme. Das würde als Schwäche ausgelegt. Sie bevorzugen nonverbale Kommunikation und einen Wodka, um das gefühlte Vakuum zu füllen. Männliche Aggression trifft zumeist ungebremst auf ihr Hauptopfer, die Familie. Nach Angaben des Innenministeriums von 2003 werden in Russland jährlich etwa 9000 Frauen von ihren Nächsten umgebracht. Vergewaltigung in der Ehe gilt vielen nicht einmal als Kavaliersdelikt, da sie aus dem Zusammensein mit einer Frau auf das Recht auf Sexualkontakt schließen.
Laut einem Bericht des russischen Menschenrechtsbeauftragten steigt die Zahl der Eltern, die Kinderrechte ╩systematisch╚ verletzen. Schätzungen der Organisation ╩Das Recht des Kindes╚ zufolge sterben jährlich 2000 Kinder von der Hand ihrer Eltern. Mehr als 50000 laufen vor der Gewalt in der Familie von zu Hause fort. Die Nachbarn schauen weg, der Staat hilft kaum, und die Polizei meidet jede zusätzliche Arbeit durch häusliche Streitereien. Viele Polizisten stellen sich auf den Standpunkt, dass die Frauen selbst Schuld hätten. Manche sagen: ╩Wir kommen nur bei Leichen.╚ Oder sie verlangen Geld für ihren Einsatz.
In Moskau gibt es kein Frauenhaus, in das sich Gewaltopfer retten können. Das Krisenzentrum für Frauen in St. Petersburg hat gerade 17 Plätze. Der Backsteinbau liegt wie versteckt in einem Innenhof am Moskauer Prospekt zwischen Bäumen, Bänken und zwei Schönheitssalons. In den meisten der Zimmer können zwei Frauen maximal zwei Monate lang mit ihren Kindern wohnen. Häufig retten sie sich hierher, weil sie auf dem Mietmarkt kaum Chancen haben, eine eigene Wohnung zu finden. Die Familienwohnung kettet sie an ihren Mann. Als neues Phänomen gelten reiche Unternehmer, die ihre Frauen schinden. Sie neigen zum Psychoterror, indem sie über jede ausgegebene Kopeke Rechenschaft verlangen. ╩Die Frauen sind oft langbeinige Blondinen, die keine Ausbildung haben╚, erzählt die Psychologin Galina Dubrowina. ╩Sie sind quasi rechtlos, denn sie wissen, dass Geld in unserem Staat immer siegen wird.╚
Hinter dem Gemeinschaftsraum des Krisenzentrums mit hoher Plüschtierdichte, in dem abends die Wäsche quer zum Trocknen hängt, sitzt Dubrowina am grauen Vertrauenstelefon. Meist rufen Frauen an, die mit ihrer Rolle als Kopf und Seele der Familie überfordert sind. ╩Der Mann dagegen wird infantil╚, erzählt die Psychologin, ╩redet sich mit seiner Arbeit aus allen Pflichten heraus und hört auf, sich anzustrengen. Mama ist für ihn heilig und die Ehefrau von geringerem Wert.╚ Das Rollenverhalten und die Aufgabenteilung in der Familie sind für viele kein Thema.
Dubrowina stößt bei ihren Patienten oft auf Jahrzehnte ehelicher Sprachlosigkeit. ╩Da gibt es einen Klumpen eingebildeter Erklärungen und Wahrheiten, und wir arbeiten ihn zwischen beiden Seiten wie Dolmetscher ab╚, erzählt sie. ╩Eine Frau hat ihrem Mann 20 Jahre lang das Heim schön gemacht und immer wieder neue Vorhänge aufgehängt, ohne sich gewürdigt zu fühlen.╚
Im Gespräch mit Dubrowina sprach der Ehemann zum ersten Mal aus, dass ihm die Wohnung nie wichtig war. Auf die Frage, wie das Paar das gemeinsame Leben denn überhaupt ausgehalten habe, bekam sie eine klassische Antwort: ╩So leben doch alle.╚
DIE ZEIT, 27.09.2007 Nr. 40
 

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