Почитаем?
PLÖTZLICH das Meer, ganz nah, eine graue, stille, beinahe völlig beruhigte Fläche. Ich reckte mich auf und schaute auf die Uhr, zwei, drei Stunden hatte ich vielleicht geschlafen, jetzt war früher Morgen, kurz nach Fünf, ein Juli-Morgen an der italienischen Adria-Küste. Ich hatte das Meer einfach vergessen, jahrelang hatte ich es nicht gesehen, jetzt lag es mir wie eine weite Verheißung zu Füßen, unaufdringlich und groß, als bekäme ich mit ihm zu tun. Noch war die Sonne nicht da, der Himmel noch graublau und fahl, am Strand keine Bewegung, kein einziger Mensch, nur hier und da einige verlassene, verstreut stehende Liegestühle, Kinderspielzeug, Gerumpel, die schiefen, zusammengeklappten Sonnenschirmpilze, Liegengebliebenes ... Doch all das reichte schon, mich zu erregen, es war eine meinen ganzen Körper erfassende Erregung, wie sie mich nach langen Nachtfahrten in Zügen oft in der Morgenfrühe befiel. Zwei weitere Fahrgäste teilten das Zugabteil mit mir, ein stiller, keinen Laut von sich geben der Japaner und ein junger Schweizer, der sich in der Nacht umgezogen und schlafen gelegt hatte, als wäre er noch immer ein wenig bei sich zu Haus. Ich kletterte vorsichtig über die steifen, schlafenden Körper und trat auf den Gang, ruhig und schnell glitt der Zug durch die Landschaft, in der Ferne die grünen Olivenhügel des Südens, mit einem Mal spürte ich mein aufgeregt klopfendes, hellwaches Herz. Im Waschraum wusch ich mir durchs Gesicht, dann schaute ich, als müsste ich mich vergewissern, durch das heruntergezogene Fenster der Waggontür noch einmal hinaus. Das Meer! ..., ja, das Meer, die Überraschung hielt an, der Eindruck stimmte, am liebsten wäre ich ausgestiegen, um jetzt, sofort, am Meer entlangzugehen, stundenlang, den ganzen Morgen, wie schön wäre es, dachte ich, so anzukommen, irgendwo ausgespuckt und gleich in der Weite verschwindend. Dann blieb der Zug stehen, die Wolken hingen schwer und staubgrau über dem Wasser und verdeckten noch immer die Frühsonne, es war sehr still, die meisten Fahrgäste schliefen, der stehende Zug atmete aus, immer matter und ruhiger. Draußen, auf dem kleinen Dorfbahnsteig, ging das Zugpersonal auf und ab, als hätte alles so seine Ordnung und als befänden wir uns in einem Film der Fünfziger Jahre. Niemand sprach, eine wattige, dichte Wärme drang herein, vollgesogen mit dem Erdgeruch der nahen Umgebung, dann ein Pfiff, das Personal stieg wieder ein, und die Lok zog vorsichtig an, um unerwartet schnell zu beschleunigen. Mit einem Mal erreichte der Zug eine hohe Geschwindigkeit, die Küstenlandschaft raste wie kleingeschnitten vorbei, gefräst oder zerhäckselt von diesem Tempo. Ich ging in den Speisewagen und trank einen starken, schwarzen Kaffee, als ich ins Abteil zurückkam, waren auch die beiden anderen Fahrgäste wach. Der Japaner, der die ganze Nacht unter einem bunten, wie ein Linnen über den Körper gebreiteten Tuch verbracht hatte, verbeugte sich kurz, während der junge Schweizer schon seine Verpflegung auspackte. Ich nahm die kaum handgroße, digitale Kamera, die Rudolf mir mitgegeben hatte, aus meinem Gepäck, setzte mich wieder ans Fenster und filmte das vorbeigleitende Meer. Manchmal drängten sich hässliche Häuser aus unverputztem Beton vor den Anblick, minimale Gerippe auf ein paar dürftigen Fundamenten, aber ich filmte weiter, denn das Meer leuchtete immer wieder zwischen diesen Bauten hervor. Allmählich belebte sich die Kulisse, einzelne Figuren standen am Strand und schauten mit verschränkten Armen in die Weite, manche waren auch in die Hocke gegangen, als wollten sie den Strand abtasten, es waren fast immer Männer, Männer ohne Begleitung oder höchstens zu zweit, tastende, lauschende, schauende Männer, vom Anblick des Meeres in eine seltsam ruhige Andacht versetzt. Das alles erschien auf dem Display meiner Kamera, der kleine Bildschirm verwandelte es sofort in einen strahlenden Film. Der junge Schweizer beugte sich zu mir hinüber und warf einen Blick darauf, aha!, sagte er kurz und erstaunt, als habe er mit so viel Präzision nicht gerechnet. Auch mir erschien die Abbildung auf dem Bildschirm präziser, festlicher und genauer als das Original, erst gestern Abend hatte Rudolf mir in München die Funktionen des kleinen Geräts erklärt, schließlich war ich nur ein Amateur, der den Umgang mit solchen Apparaten nicht wirklich beherrschte. Einen kurzen Moment dachte ich daran, wie wir in der Osteria italiana zu Abend gegessen hatten, ich hatte Kohlrabi Suppe, Kalbsnieren und Erdbeeren bestellt, und Rudolf hatte lange von allen nur möglichen Kamera-Feinheiten gesprochen, ganz detailliert, er wurde dabei immer verzückter, als habe er selbst diese Technik erfunden, während mir nichts anderes übriggeblieben war, als in der Bedienungsanleitung zu blättern. Ich hatte ihm nicht mehr folgen können, viel zu lange hatte ihn das Thema gepackt, es war mir seltsam vorgekommen, dass er mein Schweigen nicht bemerkt hatte, er hatte immer weitergesprochen, als müsste ich wirklich jede Einzelheit wissen. Rudolf war schon oft mit dieser kleinen Kamera gereist, manchmal kam es mir so vor, als reiste er nur, um sie auszuführen, immerzu dachte er in Einstellungen und Schnitten, der Beruf des Kamera-mannes prägte seine Wahrnehmung so sehr, dass er überhaupt nicht mehr naiv in die Welt schauen konnte. Ich hatte ihm schließlich nicht mehr zugehört, sondern auf die Geräusche draußen geachtet, manchmal, wenn neue Gäste hereingekommen waren, war ein frischer Windzug durch das Lokal gestreift, und ich hatte eine bittere Erdfeuchtigkeit gerochen, die Feuchtigkeit des leichten Regens, der so sehr zu den breiten Münchener Straßen passte. Im Taxi zum Bahnhof hatte Rudolf wieder von Technischem gesprochen, als wäre er besorgt, ich könnte die Kamera falsch bedienen, ich hatte ihm sogar versprechen müssen, mich bei eventuellen Problemen zu melden. Jetzt, jenseits der Alpen, erschienen mir seine Beschwörungen wie eine deutsche Marotte, als verstünde er nichts vom schwerelosen, leichteren Leben auf dieser Seite der Berge. Ich stoppte die Aufnahme, ein heller, kurzer Signalton erklang, plötzlich grinsten wir alle drei, sogar der Japaner tat amüsiert. Seit wir zusammen reisten, hatten wir kaum miteinander gesprochen, jeder reiste auf seine Weise, und als folgten wir einer unausgesprochenen Regel, blieben wir stumm und verkehrten miteinander nur pantomimisch, der Japaner schwieg wie ein Meister des Zen, während der junge Schweizer beinahe ununterbrochen werkelte, leise mit sich selbst redend. Ich packte die Kamera weg, holte mein schwarzes Notizbuch hervor und begann zu schreiben. Die verhangene Sonne presste noch eine Weile ein mattes Licht gegen den dichten Wolkenvorhang, dann sah ich die ersten, durch das Grau schießenden Sonnenflecken, sie sprangen über das Meer und zitterten in der Ferne, ich äugte immer wieder dorthin hinaus, während ich schrieb. Zum ersten Mal seit vielen Jähren fahre ich wieder allein ohne Kollegen, ohne Freunde, ohne eine Frau an meiner Seite. Ich hätte den Billigflug nach Pescara nehmen können, es hätte kaum mehr ah eine Stunde gedauert, aber ich wollte noch einmal fahren wie früher, ah Schüler und ah Student, ah es eine Sache der Ehre war, so billig wie möglich zu reisen. So habe ich zwei Stunden mitten in der Nacht auf dem Bahnhof von Bologna verbracht und später versucht, ausgestreckt, auf zwei harten Sitzen eines Zugabteils zu schlafen. Wie früher dehnte sich die Nacht und schien kein Ende zu nehmen, und wie früher war mit der ersten Helligkeit das alles vergessen und die Übermüdung wie weggeblasen. Sogar das alte Glücksgefühl ist wieder da, ein Gefühl, das mit dem Alleinreisen zu tun hat, ah brauchte man zum Alleinreisen Kraft, Überwindung und Ausdauer und ah belohnte einen das Glück, wenn man von alledem genug aufbietet. Vielleicht ist das Glück aber auch eine Entspannung, denn erst jetzt, jenseits der Alpen, ist es mit den ersten Sonnenstrahlen da, erst jetzt, wo ich aufhöre, an München, die Arbeit und die Freunde zu denken. Seit einem Jahr gibt es die Frau an meiner Seite nicht mehr, noch vor wenigen Monaten hätte ich oft an sie denken müssen, ich glaube, das ist jetzt vorbei, auch die Frau an meiner Seite denkt nicht mehr an mich, vielleicht ist es uns tatsächlich gelungen, unsere gemeinsame Zeit hinter uns zu lassen, hinter uns, meine ich, nur ein Stück weit hinter uns, denn ich will nicht so tun, als hätte es diese Zeit nie gegeben. |