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Почитаем?

17.02.16 18:31
Re: Почитаем?
 
regrem патриот
in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 22.02.16 13:11 (regrem)
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WIR BETRATEN das Restaurant beinahe zugleich, zu zweit, dachte ich, es lag am Ende einer unansehnlichen, dunklen Straße inmitten kleiner Hafenwerkstätten, aus denen ein starker Benzin- und Öl Geruch drang, und wirkte wie eine leichte, luftige Bühne, die man in einem verlassenen Winkel in den Sand gebaut hatte, die Wände waren aus Glas, zur Meeresseite hin öffnete es sich auf eine weite Terrasse.
Ein Kellner kam uns gleich entgegen, er begrüßte die Dottoressa, natürlich kannten sich beide gut, sie tat aber alles, um das übliche Zeremoniell herunterzuspielen. Sie sind zu zweit, fragte er, zu zweit, ja, sagte sie, nein, ach was, zu dritt, Dottore Alberti kommt etwas später. Sie steuerte geradewegs auf einen schattigen Ecktisch zu, sie nahm Platz, jetzt erschloss sich mir erst die große Schönheit des Bildes, das sich von der Terrasse aus auftat. Man blickte auf eine kleine Bucht, eine winzige Mole rahmte sie zur Rechten ein, das Meer in Küstennähe war hellgrün, an den Steinrändern sogar goldgelb, in der Ferne aber wölbte sich ein breites Blau, wie das Segment eines Walrückens. Auf dem obersten Rand dieses Rückens schien sich eine kleine Flosse hin und her zu bewegen, es war ein dunkelrotes, einsames Schiff, das die Horizontlinie abfuhr.
Ich starrte auf dieses Bild, habe ich zu viel versprochen, fragte sie, nein, antwortete ich, wenn ich so belohnt werde, ertrage ich jeden Vortrag. Sie lächelte, aber sie sagte dazu nichts, stattdessen fragte sie nur, ob es mir recht sei, wenn sie die Bestellung übernehme, natürlich ist es mir recht, sagte ich, genau das habe ich ja erwartet. An der Art, wie sie sich nach dem Kellner umschaute, erkannte ich ihre Vorfreude, ich hatte richtig vermutet, sie aß und trank gern, mit Frauen, die nicht gerne aßen und tranken, dachte ich, hast du noch nie etwas anfangen können. Sie rührte die angebotene Speisekarte nicht an, sie bestellte antipasti, kein Gemüse, ausschließlich Fisch, die Weinbestellung übernahm sie gleich mit, ich hatte noch nie mit einer Frau zusammen gegessen, die ohne langes Reden den Wein bestellt hatte, eine Flasche Sauvignon, gut gekühlt, bitte.
Wir schauten einen Moment stumm hinaus auf das Meer, langsam kamen wir zur Besinnung, ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass wir den Eindruck eines Paars machten, eines Paars, das sich gerade kennengelernt hatte und damit begann, sich Geschichten zu erzählen, nichts ist ja schöner als dieses erste Kennenlernen, wenn man um sein Leben erzählt, noch einmal weit ausholt und längst verloren geglaubte Geschichten wieder ausgräbt. Vielleicht, dachte ich weiter, verliebt man sich immer wieder, um sich sein Leben immer noch einmal von vorn und neu zu erzählen, ich hielt inne und versuchte, diesen Gedanken noch ein zweites Mal und noch präziser zu denken, beim zweiten Mal kam er mir jedoch nicht mehr so strahlend vor, eher christlich, beinahe sogar protestantisch.
Sie denken noch immer an den Vortrag, stimmt's, fragte sie, und ich antwortete rasch, ja, ich gebe es zu, offen gestanden habe ich mich ganz grausam gelangweilt, der Vortrag war zu lang und ging in eine Richtung, mit der ich nichts anfangen konnte. Wieso denn das? fragte sie, Dottore Alberti ist sehr gewissenhaft und für seine Thementreue bekannt, im Grunde ist er sogar themenbesessen. Ich habe den Eindruck, sagte ich, dass sein meeresbiologisches Interesse vor allem technisch und physikalisch bestimmt ist, genau diese Aspekte, Technik und Physik, will ich jedoch nicht in den Vordergrund des Films rücken, ich befürchte, dass die vielen Geräte und die imponierenden Ausrüstungen nur von den einfachen Beobachtungen ablenken, im Grunde muss aber jedes Kind begreifen, worauf es ankommt und was gezeigt wird. Reizt es Sie denn gar nicht, ein Forschungsschiffkennenzulernen, fragte sie, und ich antwortete, nein, es reizt mich nicht. Und die Fischerei, fragte sie weiter, wollen Sie sich die auch entgehen lassen, nein, das geht nicht, das Fischen müssen Sie erleben. Warum, fragte ich, warum muss ich das? Sie ahnen nicht, wie schön es ist, sagte sie, wenn Sie nachts mit den Fischern zum Sardinenfang fahren, wenn die Kutter weit draußen treiben, bis es dämmert und plötzlich die Sardinen nach oben kommen, dann werden kleine Boote ausgesetzt, die sich im Dunkel vom Kutter fortbewegen, auf ein Signal entzünden sie ihre Lichter und treiben die Schwärme auf den Kutter zu. Sie haben mich schon überzeugt, antwortete ich, wenn Sie es so erzählen, überzeugen Sie mich, wenn Sie aber präzise erklären wollen, wie das Netz ausgeworfen werden muss, um optimale Beute zu machen, höre ich nicht mehr zu. Schimpfen Sie nicht so auf Dottore Alberti, sagte sie, er ist der wichtigste Mann des ganzen Instituts, er hat sich noch bei keiner Berechnung geirrt. Das traue ich ihm auch nicht zu, antwortete ich und wollte noch boshafter werden, als die ersten Vorspeisen gebracht wurden.
Es waren Muscheln, Tintenfische, Seespinnen und mehrere Fischpasten, sie wurden auf kleinen Tellern serviert, der Kellner schenkte den Wein ein, wir stießen an, ich wünschte mir, dass Dottore Alberti nach Hause gerufen worden war, mit der Zahnspange des älteren Mädchens war vielleicht etwas nicht in Ordnung. Einen Moment wie diesen hatte ich mir die ganzen letzten Tage gewünscht, all mein einsames Herumsitzen, Notieren und Brüten war jetzt vergessen, zum ersten Mal geriet ich regelrecht in Schwung und begann zu erzählen, anstatt wie zuvor nur den anderen zuzuhören. Ich sagte, dass mich die Kunstlosigkeit von San Benedetto verblüffe, seit vielen Jahren reise ich durch Italien, eine Stadt wie diese sei mir noch nie begegnet. Ich sprach von meiner Suche nach geeigneten Bildern und davon, wie mich die Stadt hatte abblitzen lassen, ich übertrieb ein wenig und brachte eine komische Note in meine Erzählungen hinein, sie begann zu lachen, ich redete weiter, lauter Kuriosa fielen mir ein, Beobachtungen auf meiner kurzen Besichtigung, sie schien sich zu wundern, dass ich in der Kürze meines Aufenthalts schon so viel gesehen hatte, ich erkannte es an der Art, wie sie den Kopf schüttelte.
Ich will Ihnen etwas sagen, entgegnete sie schließlich, genau die Kunstlosigkeit, von der Sie sprechen, gefällt mir an San Benedetto, auf eine wie mich, die eine italienische Erziehung durchlaufen hat, wirkt dieser Ort wie eine Befreiung. Hier hat alles ein rascheres Tempo, und Sie finden hier nichts von der faden Trägheit so vieler italienischer Kleinstädte. Nüchternheit, keine Metaphysik, endlich keine Metaphysik, das ist in Italien sehr wohltuend. Literaten werden hier nicht geboren, wohl aber Naturwissenschaftler oder zumindest ein paar Meeresbiologen. Schön und gut, antwortete ich, aber wie soll ich mit Naturwissenschaftlern einen Film drehen? Gestern Abend ist mir der Gedanke gekommen, die Stadt nur noch auf ihre Nähe zum Meer hin zu lesen, ich könnte eine große Fülle von guten Details zeigen, die Fischmarkthalle, den Hafen, Läden mit allem, was die Fischer so brauchen, das wäre eine Lösung, aber ich brauchte dafür sehr viel Zeit. Das ist eine gute Idee, sagte sie, ich wäre Ihnen bei Ihrer Suche nach weiteren Details behilflich, ich wäre, glauben Sie mir, für die Suche danach genau die Richtige.
Franca, hörte ich jemanden laut sagen, Du bist für alles genau die Richtige. Wir hatten nicht auf den rückwärtigen Teil des Restaurants geachtet, wir waren zu sehr ins Gespräch vertieft gewesen, jetzt hatte er uns doch überrumpelt und nahm mir gegenüber Platz. Er schenkte sich Wein ein, er nahm sich von den Vorspeisen, wäre er etwas größer gewesen, hätte man annehmen können, jetzt wäre der Patriarch erschienen, nach Erledigung einiger noch unumgänglicher Telefonate. Ich hatte ihn sofort im Verdacht, zwei Handys gleichzeitig mit sich zu führen, in jeder Jackettasche eins, eins für die Familie und eins für die kleinen Dramen in der Öffentlichkeit. Wie weit seid Ihr? fragte er, womit? antwortete ich rasch. Sollen wir in den nächsten Tagen einmal zusammen hinausfahren? machte er weiter, als hätten wir auf eine solche Gesprächsführung nur gewartet. Ich werde es mir noch überlegen, sagte ich. Habt Ihr über Geld gesprochen? fragte er, darüber müssen wir sprechen, nein, sagte ich, haben wir nicht, und jetzt würde ich darüber auch nicht gerne sprechen.
Er zog die Augenbrauen hoch und bediente sich weiter, er aß so schnell wie er sprach, die Gabel hüpfte von Teller zu Teller, er rückte sich die meisten noch einmal eigens heran, um besser zustoßen zu können. Ich schaute hinaus auf die Bucht, das dunkelrote Schiff kreuzte noch immer in der Ferne, der gelbgraue Sand, die Mole mit ihren kalkigen Weißtönen, das faule Blau dahinter, das alles hätte mich weiter begeistern können, wenn dieser Mensch nicht in meiner Nähe gesessen hätte. Er blickte sich nach dem Kellner um, er rief ihm etwas zu, der Reigen der Vorspeisen ging weiter, alle drei waren wir in ein tiefes Schweigen verfallen, als müssten wir uns ganz den Schnecken, Garnelen und Seefäden widmen. Seine Art zu essen hatte etwas Ruppiges, vielleicht sollte es Vitalität ausstrahlen, Vitalität und Sex, dachte ich, ich konnte mir genau vorstellen, wie abgedroschen er fickte, ein starker Zorn stieg in mir hoch, ich griff nach der Weinflasche und schenkte uns allen nach, sein Glas füllte ich beinahe bis zum Rand. Ich sah noch, wie er sich Brot nahm, er nahm sich zwei Stücke zugleich aus dem Korb, er zerbrach und zerkrümelte sie und wischte damit das Öl von den Tellern, der ganze Tisch wurde von seinen Manieren beherrscht.
Salute, sagte er plötzlich, es klang, als wollte er rülpsen, salute, trinken wir auf unser Projekt, allora, antwortete ich, trinken wir, und er schaute wieder kurz auf. Er leerte sein Glas, dann erhob er sich, entschuldigt mich, scusate, er habe noch sehr viel zu tun, er hat wirklich sehr viel zu tun, sagte sie, als er verschwunden war. Haben Sie noch einen Wunsch? fragte ich, ja, sagte sie, noch etwas Wein. Eine Flasche? fragte ich, warum nicht, sagte sie. Gibt es hier eine gute Fischsuppe? fragte ich, es gibt eine ausgezeichnete, wir essen eine zusammen, ja? sagte sie rasch und beinahe erregt, als wollte sie seinen Auftritt vergessen machen, dann rief sie erneut den Kellner, um zu bestellen.
Mit seinem Verschwinden war die frühere Nähe sofort wieder da, ich lehnte mich zurück, ich hatte keine Lust mehr, an die Arbeit zu denken, deshalb fragte ich sie, warum sie Teile ihrer Jugend in Südtirol verbracht habe. Sie erzählte von den Eltern, die jetzt wieder nördlich, in Ancona wohnten, San Benedetto sei ihnen zu laut geworden, es gebe hier im Sommer einfach zu viele Touristen, ihr Vater sei auch
in Ancona geboren, und so seien die Eltern vor zwei Jahren wieder dorthin gezogen, in das ehemalige Haus der Großeltern, ein Haus direkt am Meer, nahe dem alten Hafen. Auch sie selbst habe in diesem Haus Teile ihrer Kindheit verbracht, eine Kindheit am Meer sei ein großes Geschenk, unvergessliche Tage, nirgends entstehe ein derartiges Gefühl für Dauer und Unveränderlichkeit wie am Meer, noch heute tauchten in ihren Träumen alle paar Nächte Bilder vom Meer auf. Eine Zeitlang habe ihre Mutter jedoch angeblich die Meer nähe nicht vertragen, ihre Mutter stamme aus einem Bergnest ebenfalls nicht weit von hier, sie sei durch den Anblick des Meeres melancholisch geworden, jedenfalls sei das die offizielle Lesart ihrer Erkrankung gewesen, leichte Depression durch mangelnde Abwechslung, aus diesem Grund habe der Vater seine Praxis von Ancona ins lebendigere San Benedetto verlegt, in San Benedetto habe ein Arzt immer gut zu tun und der Mutter habe es gleich gefallen, denn sie habe hier viele Freundschaften geschlossen und sei mit ihren Freundinnen dann sogar am Meer entlang spazieren gegangen, ununterbrochene Unterhaltungen hätten so etwas wie Melancholie gar nicht erst aufkommen lassen. In der schlimmsten Phase der Depression ihrer Mutter aber habe man sie und ihren jüngeren Bruder nach Südtirol in die Berge geschickt, sie habe nichts gegen die Berge, wohl aber gegen die in Südtirol, lauter Skipisten und sogenannte Kletterparadiese, in jedem Felsspalt habe ein Bayer gehangen und sich schreiend mit seinem Bergführer verständigt. In Südtirol hätten die Großeltern ein Ferienhaus gehabt, im Grunde sehr schön, die Großmutter sei eine Deutsche gewesen und habe diese nördlichen Aufenthalte genossen, der Bruder und sie hätten
nichts dagegen einwenden können und hätten sich auch nicht dagegen gewehrt, einmal sei man übrigens drei Tage in München gewesen, vor lauter Sehnsucht nach dem Meer und nach Wasser habe sie die Zeit ausschließlich an der Isar verbracht.
Sie erzählte das alles sehr ruhig, in einer etwas dunkleren Tonlage als sonst, ich starrte dabei die ganze Zeit hinaus aufs Meer, es war, als legte sich ihre Tonspur aufs Bild, und ich dachte daran, wie es wohl wirken würde, zu bestimmten, ausgewählt schönen Standbildern solche dunklen Erzählungen einzublenden.
Die Fischsuppe wurde in tiefen, weißen Tellern serviert, da haben Sie das halbe Meer, in nuce, sagte sie, in nuce gefällt mir, antwortete ich. Der Sud ist hochkonzentriert, sagte sie, sie kochen ihn hier tagelang, sie stellen einen Fond her aus Gemüse, Zwiebeln, Knoblauch und sehr viel Weißwein, und dann fügen sie immer wieder Fischstücke hinzu, Muscheln, Garnelen, Tintenfische, das alles kochen sie mit, auf sehr kleiner Flamme, es dickt gleichsam ein und wird, wie Sie sehen, tiefrot, die starke Farbintensität entsteht durch den Safran. Nach einer Weile nehmen sie das Gekochte heraus und lassen die Suppe dann stehen, bis wieder etwas darin gekocht wird. Jetzt ist sie, schauen Sie, beinahe wie Öl, das intensivst Schmeckende und Beste, denke ich, was Sie hier essen können.
Ich stellte mir vor, wie ich von einem Meer Bild langsam auf dieses Rot überblenden würde, so könnte man zeigen, dass diese Suppe ein Konzentrat all dieser Blau-, Gelb- und Grüntöne war, ihr heimliches, unterirdisches Feuer, ihr Magma. Ich probierte sie, noch nie hatte ich etwas von dieser Art gegessen, der Wein gab ihr eine gewisse Schwere und einen Grund, darüber schwebten die Treibstoffe, alles von einer leichten Schärfe, aber so, als bringe die Schärfe erst die vielen Nuancen hervor, Nuancen von honigartiger Süße und galliger Bitterkeit, die ganze Breviatur. Ich fragte, welche Fische sich besonders zum Auskochen eigneten, und sie sagte, es seien genau die, die sich im Sand vergrüben, Rochen also oder auch Schollen, diese Lebenswelt im Sand nenne man das Endopsammon, um sie von der auf dem Sand, dem Epipsammon, zu unterscheiden, die merkwürdigen Flügelbildungen der Rochen seien übrigens evolutiv wohl entstanden, damit sie sich schneller und beinahe vollständig im Sand vergraben könnten, jedenfalls sei das Endopsammon eben die Zone der eigentlichen Tiefen und daher wohl die beste Basis der Suppe.
Ich fragte weiter, auf seltsame Weise verwandelte sich ein Kochrezept in lauter meeresbiologische Details, fast hörte es sich so an, als setzte das gute Kochen nichts anderes um als ein solches Wissen. Die Unterhaltung gefiel mir, wir unterhalten uns glänzend, dachte ich, ganz glänzend, die Formulierung erinnerte mich an Rudolf, der einmal eine Art Theorie der, wie er gesagt hatte, glänzenden Unterhaltung aufgestellt hatte, eine kümmerliche Theorie auf der Basis des raschen Dialogwechsels, dachte ich jetzt, kümmerlich, weil es auf das Tempo der Unterhaltung nicht ankam, sondern darauf, dass jeder Satz beim Gegenüber ein Mitdenken auslöste, kein Nach-, sondern ein Mitdenken, also so etwas wie Phantasie, wie Assoziieren. Dann konnte man glauben, es falle einem dauernd etwas Neues ein, und zwar etwas Neues,
das genau passte, eine glänzende Unterhaltung ergab sich also durch das Zusammensetzen kleiner Stücke zu einem gelungenen Mosaik, laufend war man mit der Suche nach den richtigen Teilen beschäftigt, genau, ja, das war es.
Während wir uns so unterhielten, starrte ich aber weiter aufs Meer und ließ das dunkelrote Schiff nicht aus den Augen, als sie es schließlich bemerkte, sagte sie, das Schiff da draußen ist übrigens das Forschungsschiff, das Sie nicht mögen. Es war einen Augenblick still, ich schaute weiter, als müsste ich ihren Satz überprüfen, sie lehnte sich etwas zurück, tupfte die Lippen mit der Serviette ab, legte sie beiseite neben den Teller und sagte, viel leiser als zuvor, es ist schön hier mit Ihnen.
Ich saß ganz still, ich hörte sie diesen Satz sagen, er kam so selbstverständlich und genau im richtigen Augenblick, dass ich es mir endlich gestand, ich liebe sie, dachte ich, ich liebe diese Frau neben mir. Wir schwiegen, wir schauten beide hinaus auf das Blau, der Tisch wurde abgeräumt, der Kellner fragte, ob wir noch ein Dessert wünschten, Eis, Obst, etwas anderes, einen Kaffee? Sie blickte zu ihm auf, sie nickte nur, sagte aber nichts, er begann, weitere Desserts zu nennen und sie sogar zu beschreiben, un gelato di limone, sagte er immer wieder, es handle sich um ein besonderes Eis, eigene Herstellung, ein Zitroneneis in der Zitrone, sie begann zu grinsen, als sie hörte, wie er sich umständlich um sprachliche Exaktheit bemühte. Wir gehen noch etwas am Strand auf und ab, sagte sie dann, derweil bringen Sie uns das Eis, sie stand auf, kommen Sie, gehen wir ein wenig, ich werde Ihnen etwas zeigen, forderte sie mich auf und streckte ihre
Hand nach mir aus, korrigierte aber sofort diese Annäherung, als hätte sie sich zu weit vorgewagt.
Wir gingen ein paar Schritte auf einem holprigen Sandstück, sie zog ihre Schuhe aus, ich tat es auch, wir stellten sie neben einen verloren dastehenden Liegestuhl, dann gingen wir weiter auf dem glatten Sand der auslaufenden Wellen, dicht nebeneinander. Ich hatte starke Lust, sie zu berühren, am liebsten hätte ich sie umarmt und wäre in dieser Umarmung mit ihr ein Stück gegangen, das hätte ein sehr strapaziertes Bild ergeben, ich weiß, in jedem zweiten Film umarmten sich heutzutage ja zwei Menschen am Strand, dennoch, ich hätte sie gerne umarmt, und wenn es anscheinend nicht mehr als eine Pose war, dann konnte man auch nicht viel dahinter Liegendes vermuten.
Wir hatten uns einige Schritte voneinander entfernt, sie ging voraus, ich zögerte etwas, ich hatte nachzudenken begonnen, am liebsten hätte ich die Frage, ob umarmen am Meer eine Pose war, an sie weitergegeben, das war aber unmöglich, ich musste allein damit klarkommen. Ich stemmte die Hände in die Hüften und schaute wieder aufs Meer, da wusste ich es, der Anblick des Meeres war einfach zu groß und zu berauschend, als dass man ihn gleichgültig hätte hinnehmen können, im Grunde wollte man vielleicht das Meer umarmen, eine starke Emotion suchte sich einfach einen anderen Halt, daher umarmte man einen Menschen und ging in dieser dichten Umarmung mit ihm am Strand entlang, so hatte man einen Ersatz-Halt gefunden. Im Grunde wäre es also ganz richtig und von der Natur der Sache her gerechtfertigt gewesen, wenn ich sie umarmt hätte, nur hätte das gleich wieder etwas bedeutet, ich hätte ihr damit etwas signalisiert, ein uralter Bildinhalt hatte das Bild eben verdorben und für andere, miese Zwecke missbraucht.
Ganz ähnlich, dachte ich weiter, ist es ja mit dem Sex, wie oft war ich einer Frau einen Abend lang näher gekommen, wie oft hatten wir uns gut verstanden, ein wunderbares Einverständnis, ein Sich-Tragen, hatte gleichsam aus dem Nichts begonnen und endete dann oft ganz unsinnig wieder dort, spätestens nach Mitternacht spukte die Trennung im Kopf, und es ging bergab, ein andermal, vielleicht sieht man sich wieder. Ich war immer der Meinung gewesen, dass ein solcher Abend nach Sex verlangte, die gegenseitige Anziehung lief doch auf natürliche Weise darauf zu, wer würde schon auf den Gedanken kommen, ein köstliches Gericht stundenlang vorzubereiten und zu kochen, um es am Ende dann nicht zu verzehren? Statt aber dem Einfachsten, der natürlichen Anziehung, zu folgen, brach man die Sache meist auf jämmerliche Weise vorzeitig ab, so etwas, fand ich, gehörte in eine frühere Epoche, es war einfach nicht auf der Höhe der Zeit. Mit dem jähen Abbruch des erotischen Austauschs folgte man jahrhundertealten Ritualen, die den Sex und die gemeinsame Nacht mit Bedeutungen aufgeladen hatten, jede noch so kleine Geste war früher Teil eines solchen Rituals gewesen, hinter jedem abgeworfenen Kleidungsstück hatte gleichsam schon ein Paragraph eines juristischen Kontrakts gelauert, Ehen, Kinder, Familien waren die Folge gewesen. Längst waren diese Zeiten vorbei, die Rituale aber hatten ihre Kraft nicht verloren, und so dämpften nach Mitternacht uralte, unbewusst weiter wirkende Traditionen die erotische Spannung, ich hatte so etwas immer verachtet und in besonders drastischen Fällen auch laut gesagt, erstaunlicherweise hatte ich gerade mit dieser Offenheit nicht selten doch noch Erfolg gehabt, wie auch anders, mit welchem Argument hätte man mir widersprechen können?
Sie war in einiger Ferne in die Hocke gegangen, sie fuhr mit einer Hand über den Sand, das Bild erinnerte mich an die vielen einsam am Meer stehenden Männer, die ich vom Zug aus beobachtet hatte, vielleicht schauten Männer häufiger als Frauen allein aufs Meer, vielleicht entzündete dieser Anblick eine Art sexuelles Träumen und beschwor Wünsche oder lockte Ahnungen an, Frauen jedenfalls schauten nach meinen Eindrücken weniger in die Weite, sondern eher an der Küste entlang, ihr Blick hatte etwas Kontrollierendes, während der männliche, vielleicht noch von der Seefahrt geprägt, den Horizont fixierte, dort schien das große Jenseits zu lauern, das andere, die Entfernung von allem, was Heimat bedeutete.
Ich dachte wieder an Rudolf, Rudolf liebte solche Vergleiche, er brachte ganze Abende damit zu und machte daraus regelrecht eine Art Sport, wie rühren Frauen mit einem Löffel in der Tasse, wie machen das Männer, mit welchen Handgriffen beginnt eine Frau die Autofahrt, mit welchen der Mann? Natürlich genügten ein paar zufällige Beobachtungen nicht, es musste einem etwas Scharf-Beobachtetes auffallen, etwas, das noch nie jemand bemerkt hatte, ein jeder aber hätte bemerken können, und dieses Scharf-Beobachtete musste sich auf älteste atavistische Momente zurückführen lassen, auf Ur-Szenen der Geschlechterprägung, dann war Rudolf zufrieden.
Ich gab mir einen Ruck, ich war in ein richtiges Träumen geraten, sie kauerte noch immer am Meer und winkte mir, näher zu kommen. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, sagte sie, etwas ganz Einfaches, wie Sie es sich wünschen. Schauen Sie, wenn die Wellenzungen sich hier über den Sand zurückziehen, wird der überspült gewesene Teil wieder matt, und die Luft kann wieder eindringen. Man könnte glauben, das Wasser werde einfach von oben in den Sand eingefüllt, das ist aber nicht der Fall, es sickert seitlich zwischen den Sandkörnern ein und bildet im Sandkörper eine Art Fülltasche, die mit den Gezeiten immer weiter auf uns zu wandert. Vorn, an ihrer Spitze, bildet sich schließlich der Spülsaum, kleine See Bälle, Blätter, Sand Hüpfer und Flohkrebse, mit bloßem Auge können Sie das nicht erkennen. Wenn Sie das Material aber in einen bestimmten Trichter einfüllen und es von oben mit einer Wärmequelle trocknen, wandern die Tiere nach unten, der Feuchtigkeit nach, und fallen Ihnen schließlich in einer Schale direkt in die Hände. Ist das einfach genug, entspricht es Ihren Vorstellungen? fragte sie. Es ist genau, haargenau das, was ich mir vorgestellt hatte, antwortete ich. Gut, sagte sie, dann hätten wir schon einen geeigneten Ort für Ihren Film gefunden, hier ist der Sand ausgezeichnet, denn Baden ist hier nicht erlaubt, diese schöne Bucht wäre eine ideale Stelle für Ihre Bilder mit unseren dezenten, kleinen Experimenten.
Sie stand auf und ging zum Restaurant zurück, ich ging wieder neben ihr her, ich fand es ganz unmöglich, mich in wenigen Minuten von ihr zu trennen, als sie mich ganz überraschend fragte, was ich am Nachmittag vorhabe. Ich werde mir ein Fahrrad mieten, antwortete ich schnell, und was machen Sie? Ich würde Sie auf meinem Fahrrad begleiten, wenn Sie wollen, sagte sie, ich habe heute Nachmittag frei.
Im Restaurant waren wir die letzten Gäste, wir aßen das Eis schweigend und tranken noch einen Kaffee, jeder schien über das, was vorgefallen war, nachzudenken, vielleicht dachte sie ja etwas Ähnliches wie ich, vielleicht kam es auch ihr in diesem Moment so vor, als seien wir dabei, ein Paar zu werden. Ich ging an die kleine Bar, um dort an der Kasse zu bezahlen, ich beobachtete im Spiegel, dass sie unentwegt, wie gebannt, auf die Tischdecke starrte. Ihr Mund stand leicht offen, sie schien beinahe die Luft anzuhalten, sie dachte ununterbrochen über etwas nach, ich wusste es genau, es schien nicht leicht für sie zu sein, mit diesen Gedanken fertig zu werden.
Ich wartete an der Bar, bis sie aufstand und zu mir kam, der Kellner bot uns einen Averna an, die schweren Gläser tönten hell, als wir sie kurz gegeneinander stießen. Sie sagte, sie müsse noch einmal, für etwa eine Stunde, ins Institut, gegen vier Uhr könnten wir uns treffen, sie erklärte mir, wo ich bis dahin ein Fahrrad auftreiben konnte, und wir vereinbarten einen Treffpunkt mitten in der Stadt. Sie schaute mich einen kurzen Moment prüfend von unten an, sie gab mir einen flüchtigen Freundschaftskuss auf die Wange und bat mich, sie jetzt allein hinausgehen zu lassen, ich wusste nicht, warum sie darauf bestand, aber ich nickte, und als sie hinaus war, bestellte ich noch einen zweiten Averna. Mit Eis oder ohne? fragte der Kellner. Ohne, antwortete ich tonlos und blickte noch eine Zeitlang, ohne mich zu bewegen, auf den blauen Walrücken weit draußen.
 

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