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in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 22.02.16 13:13 (regrem)
ALS WIR UNS gegen vier Uhr trafen, erschien sie sehr unruhig, beinahe nervös, ich hatte nicht gedacht, dass sie so sein könnte. Sie sprach wie getrieben, als hätte sie es eilig, und schlug auch gleich vor, man solle die Stadt verlassen, eine Panoramastraße führe hinauf in die Berge, von dort habe man einen überwältigenden Ausblick auf das gesamte Terrain. Sie wartete aber nicht lange auf meine Antwort, sondern setzte sich gleich in Bewegung, sie fuhr sehr schnell, ich hatte Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Ich fragte mich, was mit ihr geschehen war, vielleicht, dachte ich, hatte sie in Wahrheit kaum Zeit und hätte im Institut bleiben müssen, vielleicht wurde sie dort dringend gebraucht, es war mir nicht recht, sie vielleicht in eine Verlegenheit gebracht zu haben, so fuhr ich nachdenklich hinter ihr her. Wir erreichten eine stark befahrene Ausfahrstraße, von dort zweigte der Panoramaweg in die Höhe ab, es war ein steiler, in Serpentinen ansteigender Weg, wir mussten absteigen und die Räder schieben, ich schloss endlich zu ihr auf und konnte sie daher fragen, ob sie auch wirklich Zeit habe, meinetwegen müsse sie sich nicht bemühen. Ich habe Zeit, antwortete sie, beinahe trotzig, und dann sprach sie davon, dass es, aus ganz anderen Gründen, Ärger im Institut gegeben habe, entschuldigen Sie, sagte sie weiter, dass ich es mir habe anmerken lassen. Wir erreichten einen kleinen Felsvorsprung, wir befanden uns in wildem, unbebautem Gelände, noch immer war es sehr heiß, aber als wir nach vorn, auf die Spitze des Felsens gelangten, sahen wir den ganzen Küstenstreifen kilometerlang vor uns liegen. Sie deutete hinab, ich erkannte das große Hafenbecken mit den zwei weit ins Meer ausgreifenden Molenzangen, gezackt wie die eines Hummers, daneben die Zone der Pinienwäldchen, dann die lange Strandküste mit ihren bunten Karrees von Liegestühlen und Sonnenschirmen, das Meer dahinter wie ein fein gestaffelter Saum aus hellen Sandtönen, die nur sehr allmählich in Blautöne übergingen. Das ist der Punkt, sagte ich, von hier aus werde ich das ganze Terrain filmen. Warten Sie ab, sagte sie und fragte mich dann, ob ich ihr noch weiter folgen wolle, es war eine seltsame Frage, was meinte sie, glaubte sie etwa, ich würde wegen der Anstrengung leicht aufgeben, das konnte sie doch nicht ernsthaft glauben, ich sagte, ja, natürlich folge ich Ihnen, endlich lächelte sie, und wir setzten die Fahrt fort. Das größte Stück mussten wir schieben, erst nach geraumer Zeit sahen wir plötzlich das Dorf auf der Höhe, es streckte sich genau von einer Hügelkuppe zur anderen, wie eine sich an den Boden schmiegende Katze. Noch können wir zurück, sagte sie und lächelte wieder. Nein, sagte ich, natürlich nicht, jetzt fahren wir auch ganz hinauf. Wir fuhren das letzte Stück und erreichten das Dorf, die Häuser folgten der auf der Höhe entlanglaufenden Straße und verdichteten sich wabenförmig zu den Hügelkuppen hin. Auf einem Ortsschild las ich, dass wir uns in einer Höhe von etwa 400 Metern über dem Meeresspiegel befanden, wir hatten für die Strecke vom Meer hinauf beinahe zwei Stunden gebraucht. Wir stellten unsere Räder neben der Bar ab, wir gingen hinein, die Bar war leer, nur der Fernseher lief, wir bestellten bei einer müde blickenden Frau eine Flasche Wasser mit zwei Gläsern und setzten uns nach draußen an einen runden Tisch. Ich schenkte ihr ein, sie war ruhiger geworden, die lange Fahrt hatte sie in eine bessere Verfassung gebracht, auch ich war erleichtert, als ihr Handy klingelte. Sie stand auf, machte eine entschuldigende Geste und entfernte sich, sie ging die Hauptstraße des Dorfes langsam hinab und lauschte in den Hörer, dabei hielt sie den Kopf schräg, eng an den Hörer gepresst, als verfolgte sie eine Ansprache oder eine Rundfunksendung, schweigsam, aber interessiert. Nur in großen Abständen fuhren Autos vorbei, es war sehr still, einige ältere Frauen schlichen manchmal dicht an den Häuserwänden entlang, wahrscheinlich arbeiteten die jüngeren Leute unten am Meer und kamen erst am späten Abend müde und gereizt wieder hinauf. Sie gestikulierte nicht, sie horchte sehr lange, und als sie dann einige Sätze sagte, blickte sie die ganze Zeit auf den Boden, auf einen Punkt, als sollten ihre Sätze genau dort ankommen. Ich versuchte, nicht hinzuschauen, es war mir peinlich, ich überlegte, ob ich mich etwas weiter entfernen sollte, da beendete sie das Gespräch und kam zu mir zurück. Sie müssen dort unten auch einmal ohne mich auskommen, sagte sie, als wäre damit alles erledigt, kommen Sie, gehen wir weiter, ist es nicht wunderschön hier? Wunderschön, sie gebrauchte das eigentlich nichtssagende Wort gar nicht so selten, im Grunde passte es nicht in ihr sonstiges Vokabular, das sehr farbig und genau war, wunderschön sagte sie, um etwas einzuleiten oder zu beenden, aus ihrem Mund hörte es sich an wie ein helles Signal, wie eine Aufforderung, sich auf etwas Schönes einzustellen oder das gerade Vergangene als schön zu betrachten, insofern war wunderschön eine Art Siegel und hatte daher eine ganz andere Bedeutung als für andere Menschen. Schönheit selbst, das Schöne an sich oder der schöne Moment, waren in ganz einfachem Sinn aber auch ihre eigentliche Passion, ich konnte sie mir in gewissen alltäglichen Lebensvollzügen gar nicht vorstellen, sie schien geradezu süchtig nach Schönheit, und meist meinte sie damit etwas Bestechendes, Klares, bei Tisch hatte sie davon erzählt, dass die meisten Fische nach ihrer Geburt absolut symmetrisch, diese absoluten Symmetrien aber das Werk einer langen Evolution seien, sie hatte die rechte Hand ausgestreckt und mit dem linken Zeigefinger in die geöffnete Handschale gezeichnet, schauen Sie, der violette Herzigel hat auf seiner nach außen gewölbten Fläche eine Zeichnung in Form eines Blütenblatts, vier Blätter laufen spitz auf einen Punkt zu, und dieser Punkt befindet sich genau, ganz exakt, in der Mitte. Solche Beobachtungen und Beispiele liebte sie, ihr Vortrag im Museum hatte nur aus solchen Hinweisen und kleinen Epiphanien bestanden, sie erklärte sie nicht, schauen Sie, ist das nicht wirklich schön, fragte sie nur immer wieder, als wäre das Universum noch immer der mittelalterliche Kosmos, von Gott dazu geschaffen, den menschlichen Augen zu schmeicheln. Wir standen auf und gingen weiter durch den stillen Ort, ich fragte mich, wie sie wohl mit Hässlichem oder mit Krankheit und Tod umgehen würde, ich vermutete, dass sie noch nicht durch viele Schicksalsschläge irritiert war, sie machte den Eindruck einer Person, die auf eine zeitfremde Art lebte, zeitfremd, aber stimmig, selbstbewusst, stark, es war bestimmt nicht leicht, ihr zu imponieren. Wir hielten immer wieder ein, sie machte mich auf lauter Kleinigkeiten aufmerksam, den Ruf eines in einem Käfig über uns schwebenden Stars, die winzige, fensterlose sala eines alten Friseurs, die kindliche Dekoration im Fenster einer kleinen Bäckerei, Brotzöpfe, wie Briketts aufeinandergestapelt. Da, sagte sie nur, da, schauen Sie, und wenn ich nicht sofort reagierte, machte sie zu den Sachen eine knappe Bemerkung, wie aus den siebziger Jahren, sehen Sie, das ist ganz bäuerlich, merken Sie, rot-weiße Karomuster in genau dieser Form sind bäuerlich. Ich war dazu bestimmt, ihr zuzuhören, sie erwartete keine Antwort, wie im Museum war es wieder ihre Führung und ganz ihr Stil, sie verwandelte selbst dieses Bergnest in eine attraktive, homogene Kulisse, der nichts anderes zugrunde lag als eine geheime Ästhetik, eine Summe von bestimmten Regeln der Darstellung und des Sich-Zeigens. Auch diesmal funktionierte der Zauber, ich wurde wieder hellwach, es war, als öffneten ihre Hinweise und Worte mir plötzlich auf eine unerhörte Weise die Augen, die Welt war kein Zufall mehr, nichts Peinliches, keine Dekoration, sie war ein Museum, ein Tempel der Anschauung, in dem ich mit verschwinden sollte, ganz und gar. Ich wehrte mich nicht, ich gab mich ihrer Führung willenlos hin, sie schien auch nichts anderes zu dulden, Menschen, die sich dem auf irgendeine Weise entzogen oder sich ihr widersetzten, würden es mit ihr, da war ich mir sicher, sehr schwer haben. Ich konnte mir vorstellen, dass sie von Kindesbeinen an so gewesen war, ein auf sich selbst gestelltes, in den ersten Jahren vielleicht sogar leicht autistisches Kind, sehr eigensinnig, schwer belehrbar, ein Kind, das lange an ein und demselben Platz gesessen und die anderen beobachtet hatte. Was ist? fragte sie, als ich längere Zeit stumm war, nichts, antwortete ich, es ist sehr schön mit Ihnen, der Satz entschlüpfte mir, ich hatte ihn die ganze Zeit im Kopf gehabt, er musste einfach heraus, ich bemerkte, dass sie kaum merklich errötete, aber sie erwiderte nichts. Auch auf den Höhen war der Ort beinahe unbelebt, manche älteren Häuser waren nicht mehr bewohnt und zeigten schon Spuren eines gewissen Verfalls, die schmalen, unbefahrbaren Gassen zogen sich wie lange Schläuche durch den dunklen Ortskörper, der aus lauter Ziegelsteinhäusern bestand, deren Rot längst verblasst und in ein Ockergelbrot übergegangen war. Um den Ortskern herum verlief eine sehr hohe Mauer, mächtige Tore waren an einigen Stellen hineingebrochen, von denen aus die Gassen auf das geheime Zentrum des Ortes zuliefen, es handelte sich um ein gewaltiges, mittelalterliches Kastell, von außen sah es vollkommen erhalten und so taufrisch aus, als hätten die Fürsten es erst vor kurzem vollständig renoviert. Wir gingen hinein, die plötzliche Kühle der niedrigen Gänge tat gut, man musste den Kopf eine Weile einziehen und bewegte sich auf einen großen Innenhof zu, von dem aus man einen der Türme besteigen konnte. Von oben überblickte man die gesamte Region, es war ein phantastischer Rundblick, weit in der Ferne die schneebedeckten, hohen Gipfel der sibyllinischen Berge, unten, zum Meer führend, das Flusstal des Tronto, das die Weinberge und Olivenhaine der Landschaft der Marken durchschnitt, auf den Hügeln kleine Gehöfte, die Äcker durchzogen von schlangenförmigen Wegen, Zypressenalleen, die auf die verstreuten Dörfer zuliefen, eine einsame Kirche, ein Friedhof, Traktoren auf den ausgefahrenen Landwegen, und direkt unter uns die in einer Fluchtlinie auf der Höhe verlaufenden Dächer des Ortes, wie ein Höhen-Balkon über dem gleißenden Blau des Meeres tief unten. Es dunkelte schon, hier und da gingen bereits die Lichter in der Umgebung an, das Ganze war ein beinahe unwirklich vielfältiges Bild, die Berge, die bäuerliche Landschaft, das Meer, wir drehten uns laufend im Kreis, ich hatte wieder das große Verlangen, sie zu berühren, wir standen so dicht beieinander, dass es ganz leicht gewesen wäre, ich glaubte sogar, dass sie es erwartete, aber ich war mir nicht sicher, vielleicht war jetzt noch nicht der einzig richtige, große Moment gekommen, den, auf den es, wie ich sie einschätzte, unbedingt ankam, diesen einen Moment einer vollkommenen Übereinstimmung musste ich finden, wenn ich ihn verpasste, war vielleicht alles aus. Genau von hier müssen Sie die Region filmen, sagte sie, dieser Vogelblick aus der Höhe muss die erste Einstellung sein, natürlich hatte sie Recht, ich hatte ebenfalls längst daran gedacht, es gab keinen besseren Einstieg, ich hörte schon den Text, den ich diesem Blick unterlegen würde, nur ein paar Andeutungen, ein karger Tonfall, die Bilder würden für sich sprechen. Wir sind kaum zehn Kilometer vom Meer entfernt, sagte sie weiter, kaum zehn Kilometer, und doch ist das hier oben eine vollkommen andere Welt. Stellen Sie sich vor, es gibt hier keinen Fisch, Sie können ihn nirgends kaufen, das einzige Fischgeschäft, das hier jemals eröffnet wurde, hat sich nur ein paar Monate gehalten, kein Mensch hier oben isst Fisch. Und was isst man stattdessen? fragte ich, ja, lächelte sie, das ist die Frage, ich werde es Ihnen gleich zeigen. Wir verließen das Turmplateau und stiegen langsam die vielen Stufen hinab, gerade als wir unten angekommen waren, klingelte ihr Handy erneut. Jetzt reicht es mir aber, sagte sie ruppig und stellte es aus, kommen Sie, gehen wir in das kleine Lokal dort, diesmal sind Sie mein Gast. Wir liefen zur Hauptstraße, holten die Fahrräder und stellten sie neben dem Eingang des Lokals ab, es war eine bescheidene, einfache Trattoria mit Holzbänken unter einer großen Markise, die Kellnerin begrüßte uns wortkarg, beinahe schroff, und breitete ein buntes Papiertischtuch vor uns aus, Rotwein?, Weißwein?, es gab nur genau diese Alternative. Erschrecken Sie nicht, sagte sie, alles, was wir jetzt essen und trinken, ist von hier, es gibt sehr guten Schinken oder kleine Spieße mit Lammfleisch, es gibt frischen Mozzarella und gutes Weißbrot, in Öl getränkt, es ist bäuerliche Kost, Berg kost, wenn Sie so wollen, der Wein ist schwer und um viele Grade besser als unten am Meer, wir trinken den Rotwein, nur den. Das Essen und die Getränke standen sehr schnell auf dem Tisch, auch hier wurden die Gerichte auf vielen kleinen Tellern serviert, auch hier wollte der Reigen nicht enden, Gemüse, Wurst, Käse, Pilze und Artischocken, Italiener sind vernarrt in das Tischlein-Deck-Dich, sagte sie, man kommt dem Land nahe, wenn man das Prinzip des Tischlein-Deck-Dich versteht. Ich wollte nachfragen, wieder kam sie mir mit dem Einschenken des Weins einen Handgriff zuvor, sie wartete aber nicht ab, bis ich fragen konnte, sondern ergriff selbst die Initiative, sagen Sie, wie viele Projekte machen Sie so im Jahr? Es hörte sich an wie eine harmlose Frage, wie viele Projekte, das ließ sich kurz beantworten, aber ich spürte genau, dass sie nun mehr wissen wollte, am Mittag hatte sie von sich erzählt, nun war ich an der Reihe. Ich sprach von drei bis vier großen Projekten, Filmen von etwa einer Stunde, für die man von der Recherche über die Konzeption und das Drehen bis hin zum Schnitt und zum Texten ein paar Monate brauche, ich erklärte die einzelnen Projektschritte und schilderte einige Beispiele, dann holte ich weiter aus und sprach von München, von meinem kunsthistorischen Studium und dem sich zufällig beim Sender ergebenden Praktikum, die meisten späteren Redakteure, sagte ich, kommen durch einen Zufall zum Fernsehen, kaum einer steuert auf diesen Beruf fest von Anfang an zu, deshalb sind Fernsehsender Laienanstalten. Sie sind in München geboren? fragte sie, ja, antwortete ich, ich habe fast mein ganzes Leben in München verbracht, ich bin sesshaft, schreckenerregend sesshaft und anhänglich, da ist nichts zu machen. Sie lächelte, ich spürte genau, dass ihr diese Erklärung gefiel, dann erzählte ich ihr von meiner Einzelkind-Kindheit und von der Herkunft meiner Eltern vom Staffelsee, auch wir haben ein Ferienhaus von den Großeltern geerbt, sagte ich, jeden Sommer in meiner Schulzeit habe ich dort verbracht, kennen Sie den Staffelsee, er liegt direkt vor dem Panorama der hohen Alpenkette, er ist von unglaublicher Schönheit. Ich konnte mich nicht erinnern, von unglaublicher Schönheit je einmal in den letzten Jahren gesprochen zu haben, ihr seltsames Vokabular geht also schon auf Dich über, dachte ich, blendete innerlich aber gleich wieder auf den See über, einen Augenblick lang sah ich eine bestimmte Partie seiner Schilfmatten im Abendlicht, genau an einer solchen Stelle hatte ich schwimmen gelernt, ich werde Dir den See einmal zeigen, hätte ich beinahe gesagt und hielt diesen Satz gerade noch rechtzeitig zurück. Sie aß nicht viel, sie hatte den ganzen Aufwand der Bestellung nur getrieben, um mir die Berg kost dieser ländlichen Gegend zu präsentieren, la terra marchigiana, hatte sie bereits dreimal in klingendem, hellem Tonfall gesagt, es hörte sich an wie der Refrain eines Volks- oder Kinderliedes, aber natürlich war das nur eine Vermutung. Statt zu essen, trank sie recht viel, sie hielt das Weinglas manchmal sekundenlang in der Rechten, sie betrachtete es, aber sie sagte nichts, sondern lauschte, sie lauschte auf meine Erzählung, ich war an der Reihe, Ihr Part, monsieur, zum Glück hatte ich den Einstieg gefunden und war auch gleich bei den richtigen Szenen gelandet, der Staffelsee, Murnau, der bayrische Winter und die spätere Pubertät in der Großstadt, mein Gott, sagte ich plötzlich, bin ich froh, dass ich diese Jahre in München verbringen durfte, nirgends sonst hätte ich es ausgehalten. Ich stockte einen Moment, ich war etwas verwundert, war ich wirklich der Meinung, dass diese pubertären Jahre in München so schön gewesen waren, schön., unglaublich schön, äffte eine Stimme in mir etwas nach, aber ja, diese Jahre waren sehr schön gewesen, ich hatte es mir nur noch niemals eingestanden. Jetzt aber war es ganz leicht, die alte Zurückhaltung abzulegen, die ewige Skepsis gegenüber der eigenen Biographie und einem selbst, an diesem Ort hier wirkte sie lächerlich, ich war verblüfft, wie plastisch und genau ich von vielem erzählen konnte, manchmal hatte ich sogar den Eindruck, ich erzählte etwas, das mir im Grunde ganz neu war. Natürlich ließ ich die meisten Freundschaften und Liebschaften aus, gerade das zu erzählen war aber eine große Verlockung, wie ist das eigentlich früher mit dem Verlieben gewesen, dachte ich laufend, ich hatte mich seit diesen ganz frühen Tagen wahrhaftig nicht mehr richtig verliebt. Um das Verliebt sein habe ich später immer einen Bogen gemacht, dachte ich, während ich von etwas anderem weitererzählte, wenn einer der Freunde vom Verliebt sein sprach, ging ich gleich beiseite, ich hatte die Liebe satt, einfach satt, warum war das so, ich muss das später einmal klären, für mich. Auch die Frau an meiner Seite, wie Rudolf sie zuerst genannt hatte, hatte ich nicht geliebt, sie war eine Begleiterin, Weggefährtin, hätte wiederum Rudolf gesagt, gewesen, sie war die eine Frau, die man als Mann nun einmal beim Sender kennenlernte, jeder Mann lernte beim Sender mindestens eine Frau kennen und jede Frau mindestens drei bis vier Männer. Während ich erzählte und für mich so überlegte, verfolgte ich das Spiel ihrer Finger, sie drehte und berührte das Glas mit beiden Händen und schob es dann mit der Linken zur Seite, sie fuhr mit den Fingerkuppen über das Tischtuch, sie bewegte sie langsam, wie in Trance, verweilte bei einigen Brotkrumen, rollte sie mit der äußersten Spitze des Zeigefingers ein kleines Stück, näherte sich wieder dem Glas, ließ es von der Linken herbeirücken, bis auch die Rechte es wieder zu fassen bekam, dann strich sie mit dem Daumen langsam über seine Rundung bis hinauf zur Öffnung, ohne Unterbrechung war sie mit diesen Spielen beschäftigt. Ich bemerkte, dass ich meine eigenen Finger ganz still hielt, fast furchtsam still, dachte ich, ich ließ sie auf dem Tisch liegen, als wären sie dort festgeschnallt, wie schaute sich das wohl an, welchen Eindruck machte ich, ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie ich auf sie wirkte, nicht einmal eine kleine Vermutung hätte ich äußern können. Ich schaute auf die Uhr, kurz vor Mitternacht, so lange also saßen wir bereits hier, vielleicht hatte ich viel zu lange gesprochen, getrunken jedenfalls hatten wir reichlich, auch ich hatte einige Gläser geleert, wenn auch nicht so viele wie sie, anscheinend wollte sie heute Abend vor allem zuhören. Wenn ich einige Gläser getrunken hatte, war Sex sonst oft unvermeidlich, der Schwung eines Gesprächs, gesteigert durch Alkohol, trieb mich meist zu den abenteuerlichsten Offenbarungen, ich wusste also, dass es gefährlich wurde, gefährlich, flüsterte die kluge, ironische Stimme in mir, diesmal aber gab es gewisse Hindernisse und Bremsen, ich konnte mir die Übergänge zum Thema Sex einfach nicht vorstellen, wie sollte das laufen, wie gelangte man mit dieser Frau überhaupt in ein Bett, wie konnte man mit ihr davon sprechen, sie hat vielleicht niemals Sex gehabt, sagte die dreiste Stimme in mir. Natürlich hatte sie Sex gehabt, Sex schon, aber welchen, nein, es war aussichtslos, daran zu denken, dem Thema war nur mit Ironie beizukommen, vielleicht stellt sie auch an den Sex ästhetische Ansprüche, sagte meine ironische Stimme, wie sähe denn das wohl aus, ästhetischer Sex, es wäre nur noch zum Lachen. Ich begann, sie auf das Thema Sex hin zu betrachten, ihre Ausstrahlung veränderte sich, ihre ganze Figur und ihre Gestik gerieten in ein anderes Licht, zog sie sich aus, aber wie, welches Kleidungsstück zuerst, in welcher Reihenfolge, vielleicht liebte sie auch Sex in dunklen Unterführungen, hastigen Sex im Stehen, es wäre ihr zuzutrauen gewesen, auch das. Ich beobachtete ihre Finger, war es nicht obszön, was sie mit ihnen trieb, obszön, summte es in mir, und das Wort lockte gleich weitere an, hör auf, sagte ich mir, beruhige Dich, es ist die gefährliche Stunde um Mitternacht, Du weißt. Ich schwieg, ich hielt die Anspannung nicht mehr aus, sie entschuldigte sich und verschwand zur Toilette, die Kellnerin kam noch einmal an unseren Tisch, wie auch am Mittag waren wir wieder die Letzten. Sagen Sie, fragte ich, haben Sie auch Zimmer zum Übernachten?, die Kellnerin schaute mich an, es war derselbe Gleichmut zu erkennen wie den ganzen Abend lang, «, antwortete sie, natürlich haben wir Zimmer, wollen Sie eines sehen? Ja, sagte ich, lassen Sie sehen, ich stand auf, die Kellnerin ging voraus, wir stiegen eine kleine Treppe hinauf, sie öffnete eine Tür, per due, un letto matrimoniale. Ich hätte fast laut aufgelacht, als ich das breite Bett sah und die kleinen Messing-Nachtlämpchen mit den karierten Stoffüberzügen, es war völlig unmöglich, in diesem Bett konnte man mit Dottoressa Franca keinen Sex haben, schon die Vorstellung war lächerlich, wahrscheinlieh quietschten die Federn und waren bei geöffneten Fenstern noch in den Tälern ringsum zu hören, ich konnte das Lachen nicht mehr unterdrücken, mir fiel noch allerhand zu diesem unmöglichen Schlafzimmerbild ein. Nehmen Sie es? fragte die Kellnerin, ich gab eine ausweichende Antwort, dann gingen wir wieder nach unten. Sie schaute mir direkt ins Gesicht, als sie uns sah, sie wusste genau, wonach ich gefragt hatte, ich ließ ihr keine Zeit, auf irgendwelche Gedanken zu kommen und sagte, ich habe mir ein Zimmer angeschaut, vielleicht werde ich mit meinen Männern beim Drehen hier übernachten. Und, wie hat es Ihnen gefallen? fragte sie. Es passt genau hierher, antwortete ich, ein schönes, großes Zimmer mit breitem Bett, nachts lässt man das Fenster offen, man hört noch eine Weile das Summen des Landes, all diese beruhigenden, kleinen Geräusche, man liegt noch etwas wach, es ist schön, auf dem Land einzuschlafen, ich stelle es mir einfach schön vor, oder was meinen Sie? So wie Sie davon sprechen, hört es sich gut an, sagte sie, ich sah, wie sie wieder mit dem Glas spielte, sie presste den Daumen jetzt gegen den Stiel, sie umrundete ihn, für einen Moment stand alles auf der Kippe, die Kellnerin blickte uns an, ich schaute sie an, sie starrte auf das halbleere Glas, was sollte geschehen, wollen Sie nun das Zimmer, ja oder nein? fragte die Kellnerin, und ich sagte laut, nein, danke, nein, sie beobachtete mich bei dieser Entscheidung, ich sah genau, wie lange ihr Blick auf mir ruhte. Sie zahlte, der Schwung war verebbt, ich kannte das ja, ich hätte ihr davon erzählen können, von diesen unsinnigen Abstürzen und dummen Momenten, denen sonst mein Hass galt, jetzt aber war ich ganz damit zufrieden, es war unmöglich, mit Dottoressa Franca in dieses weiße gestärkte Linnen zu kriechen, außerdem hatte ich keine Ahnung davon, wie es in ihrem Fall mit dem Sex bestellt war, vielleicht brauchte ich noch eine kleine Weile, um in dieser Sache Gewissheit zu bekommen, vielleicht würde ich es auch nie begreifen. Wir schwangen uns langsam auf die Räder, wir waren erschöpft, müde, verbraucht, sie fuhr wieder voran, es ging die ganze Panorama-Strecke zurück, eine beinahe ununterbrochene, schnelle Abfahrt, wir brauchten kaum zwanzig Minuten. Als wir wieder die Ausfahrstraße erreichten, verabschiedeten wir uns, ich hielt neben ihr, sie sagte, sie müsse in eine andere Richtung, links ab, wir telefonieren, sagte sie, ja, antwortete ich, rufst Du mich an, fragte sie, ja, sagte ich, ich rufe Dich an. Sie winkte ganz kurz, dann fuhr sie davon, sie hatte mir ihr Du angeboten, dieses Du, dachte ich, ist ihr erster Kuss. |