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in Antwort regrem 17.02.16 17:53, Zuletzt geändert 14.03.16 12:26 (regrem)
ALS ICH am Morgen erwachte, war ich allein, ich stand auf, ging ins Bad und dann in die Küche, ich suchte nach einer Nachricht, dann fand ich den kleinen Zettel auf dem Tisch, gute Fahrt, bis Freitag kommender Woche, in Liebe Deine Franca. Ich nahm ihn in die Hand, ich las ihn langsam, zwei-, dreimal, ich musste lächeln, so einfach war also jetzt alles. Ich ging zum Fenster und schaute hinab auf die Stadt, der Aufbrach heute würde mir leichtfallen, ich war ganz ruhig und seltsam entspannt, wie schön, dachte ich, waren dieser letzte Abend und diese Nacht, ein einziges Fest, ein langes Ausklingen der vielen Geschichten. Ich zog mich an, ich packte meine wenigen Sachen in den Rucksack, in der Wohnung wollte ich mich allein nicht gern länger aufhalten, ich notierte auf den Zettel noch die Adresse der Osteria in München, dann verließ ich das Haus. Ich ging langsam die vielen Treppen und das leicht abschüssige Gelände hinab in die Stadt, der große Markt war wieder in vollem Gang, ich schlängelte mich zwischen den Ständen hindurch und trank in einer Eckbar einen Café, vier bis fünf Stunden hatte ich bis zur Abfahrt des Zuges noch Zeit, ich brauchte mich nicht zu beeilen. Ich überlegte, ob ich in der Stadt noch etwas zu erledigen hatte, mir fiel aber nichts ein, ich fühlte mich leicht und angenehm unbelastet, ich schaute mir die Marktstände nicht mit dem Blick eines Käufers, sondern mit dem eines Spaziergängers an, dann bog ich auf den breiten Boulevard am Meer ein und ging langsam zurück zu meinem Hotel. Ich suchte mein Zimmer auf, ich rasierte mich, von meinem Balkon schaute ich noch einmal aufs Meer, heute, am letzten Tag, dachte ich, verwandelst Du Dich in einen Touristen, Du gehst hinunter zum Strand, Du legst Dich auf genau den Liegestuhl, der schon seit Tagen für Dich reserviert ist, Du gehst ganz in der Rolle des sorglos vor sich hindämmernden Fremden auf, der weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denkt. Der Gedanke gefiel mir, plötzlich empfand ich diese Rolle als Verlockung und das Dämmern und Liegen wie einen Luxus. Ich steckte die Badesachen in meinen Rucksack, dann ging ich hinunter zum Strand, eine Aufsichtsperson kam gleich angelaufen, um mir beim Aufklappen des Sonnenschirmes zu helfen, ich bedankte mich, schickte den Mann aber zurück zur Bar, ich wollte den Sonnenschirm selbst aufklappen, unbedingt. Vor ein paar Tagen, dachte ich, wärest Du nicht in der Lage gewesen, diesen Sonnenschirm aufzuklappen, Du hättest weder die Ruhe noch irgendeinen Sinn dafür gehabt, jetzt aber ist es etwas anderes, jetzt ist es ein Zeichen dafür, dass sich alles so glücklich gefügt hat. Ich drehte den Schirm so, dass der Schatten auf den Liegestuhl fiel, ich nahm mein meeresbiologisches Fachbuch aus dem Rucksack und schlug es noch einmal auf, diesmal überblätterte ich die langen, erläuternden Textteile und widmete mich ausschließlich den bunten Abbildungen. Es ist mir ein Rätsel, dachte ich, wie man als bildender Künstler weiterarbeiten kann, wenn man einen orangenen Strahlenschwamm oder einen Kalkröhrenwurm einmal aus der Nähe gesehen hat, der Kalkröhrenwurm hatte eine weiß-rote Tentakelkrone, die wie ein Schleier mit sehr feinen, dünn zulaufenden Fransen auf die Bewegungen des Wassers reagierte, ein derart ästhetisches Naturgebilde, dachte ich, überbietet jede künstlerische Hervorbringung und degradiert sie zu einer Marotte, als Künstler würde ich nichts anderes tun, als die Natur auszustellen, ich würde minimale Partien der Unterwasserlandschaften geschickt isolieren, sie vergrößern und wie fremde Ländereien in großen Galerieräumen aufbauen. Ich ließ das Buch sinken, ich schaute hinaus aufs Meer, in gewissem Sinn hatte ich in den letzten Tagen das Meer so betrachtet, ich hatte mir Details vorgenommen und sie gleichsam wie mit der Lupe studiert. Ich stand auf und ging ein wenig am Strand auf und ab, ich erinnerte mich an die Idee von Vertikale und Horizontale, von der Francas Vater gestern gesprochen hatte, wieso, fragte ich mich und verfolgte die Wellen, wieso bewegen sie sich immer im rechten Winkel auf den Strand zu, gleichgültig von wo der Wind kommt und wie stark er bläst, im Grunde müssten sie doch von allen Seiten her auf den Strand zurollen? Ich nahm mir vor, Franca in München gleich einmal danach zu fragen, sie konnte mir in ihrem Urlaub bei der Arbeit am Konzept des Films gut helfen, es wird ein Vergnügen sein, dachte ich, diesen Film weiter zu planen und zu verwirklichen, noch nie habe ich an einem Projekt mit einem solchen Enthusiasmus gearbeitet. Ich ging einige Schritte ins Wasser, wie wäre es, dachte ich weiter, jetzt noch einmal hinauszuschwimmen, sehr weit hinaus, so weit, wie Du bisher noch nie geschwommen bist? Ich schirmte meine Augen gegen das Sonnenlicht ab, die Horizontlinie des Meeres zitterte wie eine gleißende Ziellinie in der unendlichen Ferne, schwimm, dachte ich, schwimm! Ich ging langsam weiter ins Meer und ließ mich hineingleiten, ich schwamm mit regelmäßigen, ruhigen Stößen los, ich tauchte und schwamm unter Wasser, solange die Luft reichte, ich kam hoch und tauchte wieder ab, die Stimmen hinter mir wurden leiser, bald hörte ich nichts mehr außer dem gleichmäßigen Schwappen und Klatschen des Wassers, für Sekunden schwebte ich durch eine hellgrüne Lautlosigkeit, ich sah die feinen Netze, die die Sonne durchs Wasser zog, ich sah die goldtrunkene Tiefe, in die die Fische abtauchten, ich erreichte das Riff und schwamm an einer niedrigen Stelle hinüber, ich schwamm ins offene, aufleuchtende Meer, nichts war noch zu erkennen, nichts, was an den Strand und das Ufer erinnerte, ich schloss die Augen und schwamm. Als ich genug hatte, drehte ich mich zur Küste hin um, sie lag da wie ein buntes Panoramabildchen, ich hatte sie hinter mir gelassen, ich gehörte den Wellen, der Sonne und den wenigen Möven, die so weit draußen noch kreisten, um mich auszuruhen, legte ich mich auf den Rücken, ich breitete die Arme aus und ließ mich treiben, langsam, unmerklich rollten die steten Wellenbewegungen mich wieder zurück, dem Riff und der Küste entgegen, ich machte den Körper so leicht wie möglich, ich wollte ein Hohlkörper sein, mit dem die Wellen leichtes Spiel haben würden. Als ich wieder an Land ging, hatte ich das Gefühl, sehr weit fort gewesen zu sein, ich duschte das Salzwasser ab und ging in die dunkle, kleine Umkleidekabine, ich starrte durch ihre kleine Öffnung hinaus in den Himmel, dann zog ich mich um und ging noch einmal zur Strandbar, um mitzuteilen, dass ich Liegestuhl und Sonnenschirm nicht mehr brauchte. War's das für dieses Jahr? fragte der Mann an der Kasse, nein, sagte ich, ich komme bald wieder, ich werde versuchen, dachte ich, die Dreharbeiten auf den August oder den September zu legen, fünf, sechs Wochen werden wir hier mindestens drehen, die Dreharbeiten könnten direkt an Francas Urlaub in München anschließen, dann wären wir ab Freitag kommender Woche für lange Zeit ununterbrochen zusammen. Ich atmete durch, die Geschichte trägt, dachte ich, sie gehört jetzt zu Dir, dann ging ich zurück ins Hotel und bat Carlo, mir ein Taxi zu rufen. Ich holte das Gepäck aus meinem Zimmer und trug es hinab ins Foyer, werden Sie noch einmal bei uns übernachten? fragte Carlo, ich wohl nicht, antwortete ich, sicher aber die Filmcrew, Sie werden meinen nervösen Kollegen kennenlernen, der ein so wunderbares Italienisch spricht, ich werde mich wegen der genauen Termine bald bei Ihnen melden. Und die Dottoressa? fragte Carlo, werden Sie die Dottoressa wiedersehen? Das, Carlo, antwortete ich, darf ich Ihnen nicht verraten, denn es ist ein Geheimnis zwischen der Dottoressa und mir, spätestens im August werden wir aber darüber sprechen. Ich bezahlte die Rechnung, ich umarmte Carlo und bedankte mich für seine Hilfe, dann kam das Taxi, ich setzte mich in dem Wagen nach hinten und ließ mich zum Bahnhof fahren. Die lange Palmenallee des Boulevards ..., das Pinienwäldchen mit den Kinderspielplätzen ..., die Boccia-Bahnen neben den Tennisplätzen ..., der kleine Leuchtturm ..., die Mole ... - jetzt war all das schon Teil einer schönen Erinnerung. Was wird es für eine Freude sein, wieder hierher zu fahren, dachte ich, und wie wirst Du dieses Gelände nach Deiner Rückkehr wieder in Augenschein nehmen, selbst die unscheinbarsten Einzelheiten werden Dich an etwas erinnern! Ich schaute auf die Uhr, es war noch fast eine Stunde bis zur Abfahrt des Zuges. Das Taxi hielt vor dem Bahnhof, ich nahm das Gepäck heraus und trug es hinüber auf die andere Straßenseite, zu den alten Voyeuren in den weißen Plastiksesseln. Ich grüßte sie, ich testete, ob sie mich wiedererkannten, sie erkannten mich aber nicht. Ich setzte mich und bestellte einen Campari, das ist kein Abschied, dachte ich, sondern nur eine vorübergehende Abwesenheit, spätestens in sechs Wochen werde ich wieder hier sein. Ich schaute zu, wie die blauen Überlandbusse vor dem Bahnhofhielten und die Menschen, die in die Bergdörfer fahren wollten, einstiegen, la terra marchigiana, dachte ich, dieses schöne, in sich versunkene Land, ich trank den Campari aus und griff nach meinem Gepäck, dann ging ich durch die Unterführung auf den Bahnsteig. Ich wartete, der Zug hatte zehn Minuten Verspätung, ich besorgte mir noch einige Zeitungen und ging wieder auf den Bahnsteig zurück, als der Zug eingelaufen war, stieg ich sofort ein. Ich fand ein leeres Abteil und zog die Vorhänge vor, ich schob das Fenster herunter und lehnte mich noch einmal hinaus, da erkannte ich sie nicht weit entfernt in der Nähe der gelben Fahrplantafel. Sie trug das grüne, lange Kleid mit der goldenen Kette, sie blickte am Zug entlang und sah mich plötzlich, sie blieb aber stehen und kam nicht auf mich zu, sie fuhr sich mit der Hand durch das lange Haar, sie schaute mich unverwandt an, sie ließ mich nicht aus den Augen, dann fuhr der Zug an, ich kam näher, ich sah ihr ruhiges Lächeln, sie hob die Hand nur ein klein wenig, wir flogen aneinander vorbei, bis Freitag, rief ich, dann sah ich, wie ihre Hand niedersank und sie sich aufreckte, sie drehte sich um, ich verlor sie aus den Augen. |