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Почитаем?

17.02.16 18:37
Re: Почитаем?
 
regrem патриот
в ответ regrem 17.02.16 17:53, Последний раз изменено 14.03.16 12:27 (regrem)
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SEIT EINER WOCHE bin ich nun wieder in München…in drei Tagen wird Franca kommen. Ich habe sehr ruhige, aber seltsame Tage verlebt, noch immer bin ich mit meinen Gedanken im Süden, ich habe mich von den fernen Bildern und Atmosphären nie wirklich gelöst. Ich stehe früh auf, ich halte es in der Wohnung nicht lange aus, ich hole mein Fahrrad aus dem Hof und fahre jeden Morgen zu der kleinen italienischen Bar ganz in der Nähe, dort frühstücke ich im Stehen und unterhalte mich italienisch, wie wird wohl heute das Wetter?, variabile, nuvolo, nuvoloso, schon dieser knappe Austausch von Formeln und Redeweisen macht mir Vergnügen. Meist bin ich ah erster in den Räumen der Redaktion, Rudolf kommt meist erst gegen Elf, ich habe ihm meine Meeres-Bilder und die Bilder von den Arbeiten der Forschungsstation gezeigt, wo ist denn Deine Schönheit zusehen? fragt er immer wieder, warum versteckst Du sie vor mir? Ich habe ihm nicht erzählt, dass ich noch andere, private Bilder gemacht habe, die Kassette mit diesen Aufnahmen habe ich mit nach Hause genommen, beinahe jeden zweiten Abend sehe ich sie mir an, ich bin immer wieder verblüfft darüber, wie unvermindert stark sie wirken und wie gut sie mich zurückversetzen in diese unvergesslichen Tage. Mit der Zeit ist es mir gelungen. Rudolfs Neunerde zu bremsen, ich erklärte,, dass ich ihm die Geschichte nicht ausführlich erzählen könne, weil ich befürchte, meine Erinnerungen dadurch zu vereinfachen oder sogar zu zerstören, er hielt das alles für übertrieben, er zog mich auf mit meiner Geschichte, erst ah ich ihm erzählte, dass Franca in wenigen Tagen nach München komme, gab er Ruhe, obwohl er manchmal, wenn wir nebeneinander im Studio sitzen und uns das Filmmaterial anschauen, noch den Kopf schüttelt und sagt, ich verstehe es immer noch nicht, ich verstehe nicht, wie einem so etwas zustoßen kann. Unheimlich ist ihm vor allem die Euphorie, die er angeblich an mir bemerkt, er behauptet, ich schaue, laufe, ja bewege mich insgesamt anders, wie anders? frage ich ihn, und dann sagt er, rascher, wendiger, als wäre man hinter Dir her. Ich lache, ich sage nur, was für ein Unsinn, insgeheim aber denke ich darüber nach, ob er nicht Recht hat, schließlich ist mir auch selbst aufgefallen, dass ich sogar schneller Fahrrad fahre als sonst und selbst an den Kreuzungen nicht warte, sondern meist versuche, weiterzufahren und in Bewegung zu bleiben. Rudolf führt das alles auf eine, wie er sagt, innere Unruhe zurück, er stellt sich vor, dass ich grübelnd und alles in Gedanken immer aufs neue abwägend und umwälzend durch die Straßen von München radle, das aber ist nun wirklich Unsinn, ich grüble und sinniere nicht einen Moment, ich schwelge höchstens im Stillen, ganz für mich, in Bildern und den noch frischen Erinnerungen. Heute, hat Rudolf schon mehrmals gesagt, ist Dein Strahlen beinahe nicht zu ertragen, merkst Du nicht, wie Du strahlst, etwas richtigpenetrant Strahlendes hast Du, auch darüber musste ich lachen, den Gefallen, melancholisch zu werden, sage ich, kann ich Dir einfach nicht tun, Rudolf erwartet nämlich, dass die Melancholie mich befällt, sie wird kommen, sagt er immer wieder, sie ist schon in Dir, Du lässt sie nur noch nicht an Dich heran, früher oder später bricht sie aber durch, und dann kommt der Absturz. »Der Absturz« ist eine von Rudolfs Lieblingsvokabeln, auf Glück und Freude folgt in seinen Augen zwangsläufig »Der Absturz«, Rudolf hat von der Liebe einfach keine sehr gute Meinung, »Liebe«, sagt er, hat etwas Unberechenbares, Sprunghaftes, ich da-gegen Hebe höchstens das Bier, Bier ist solider, denn beim Bier ist der Absturz eine vorhersehbare, kalkulierbare Sache. Wenn er so redet, lasse ich ihn gewähren, insgeheim, denke ich, irritiert es ihn vielleicht, dass er selbst die Liebe ganz abgeschrieben hat, er fühlt sich mir gegenüber im Hintertreffen, ich halte da nicht mehr mit, sagt er, ich habe ihn im Verdacht, dass er diese offene Resignation mit seinem Alter verbindet, wenn Du Vierzig bist, hat er zynisch behauptet, wird sogar Sex zu einer lächerlichen Verrenkung. Ich höre mir seine Abwehr und seinen Spott an, sie berühren mich aber nicht, ich setze mich in diesen zum Glück sonnigen Sommertagen sogar gerne mit ihm für ein oder zwei Stunden in einen Biergarten, er holt das Bier, ich besorge etwas zu essen, wenn er einigermaßen gelaunt ist, gelingt es uns, diese abendlichen Stunden der Dämmerung ohne jeden Streit zu genießen ...
Vorgestern bin ich in eine Buchhandlung gegangen, um mir Bücher und Bildbände über die Marken anzuschauen, es war kaum etwas vorhanden, ich bat die Buchhändlerin, in ihrem Computer nachzuschauen, bitte drucken Sie doch eine Liste mit allen bestellbaren Titeln aus, sagte ich, wozu? fragte sie, brauchen Sie wirklich die ganze Liste?, sie konnte nicht ahnen, dass ich eigentlich nur mit jemandem über die Marken sprechen wollte, ich blätterte dann die wenigen Bände durch und begann, einige Städtenamen zu nennen, sie schaute mich ganz verständnislos an und ließ mich schließlich allein zurück. Als ich zufällig in einem der Bände eine Fotografie des großen Platzes von Ascoli aufschlug, musste ich rasch weiterblättern, denn das Bild rückte, je länger ich es anschaute, näher, als wollte es mich mit aller Macht in die Vergangenheit ziehen. Plötzlich hörte ich die Stimmen der herumstehenden Gruppen, das Bild schien sich zu beleben, ich tauchte hinein, es war beinahe derselbe Effekt wie beim richtigen Tauchen, ich nahm die reale Umgebung nicht mehr wahr, ich tauchte ab in eine andere Zeit und. eine andere Umgehung.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich manchmal mein Hotelzimmer wieder, ich sehe mich auf dem breiten Bett hegen und hinaus zum Himmel schauen, ich warte, ich träume, langsam entzieht mir mein Träumen den Boden, schon bin ich unten am Strand, aber nicht im offenen, freien Terrain, sondern in der Umkleidekabine, mein Stehen in diesem dunklen Raum hat etwas von einer seltsamen Andacht, kerzengerade, mit herunterhängenden Armen, stehe ich da, mein Kopf schaut wieder nach oben, zum Himmel, durch die kleine Öffnung in der Kabine beobachte ich das Ziehen der Wolken, ich scheine zu zählen und wieder zu warten, dann schlüpft sie plötzlich zu mir hinein, wir umarmen uns, ich sage, da bist Du ...
Heute Morgen war mein Fernweh so groß, dass ich mich entschloss, mit Carlo zu telefonieren. Ich saß allein in den Redaktionsräumen, ich riegelte meine Tür ab, ich sprach leise, als müsse ich dieses Gespräch geheim halten. Carlo dachte, ich wolle bereits die Zimmer für die Filmcrew bestellen, wie viele sind es, wie lange bleiben Sie? fragte er, ich antwortete ausweichend, ich sagte, ich wolle lediglich ein günstiges Angebot einholen, natürlich ahnte er nicht, warum ich eigentlich anrief. Während er sprach, lauschte ich auf die Geräusche in seiner Nähe, ich hörte Geschirrklappern und dachte, ah, sie frühstücken, ich hörte kurze Zurufe und achtete nur noch darauf, eine Familie war gerade im Aufbruch, können Sie mich gut verstehen? fragte Carlo, nein, sagte ich, es tut mir leid, die Verbindung ist leider nicht gut, ich rufe in ein paar Tagen noch ein-
mal an.
Immer wieder gehe ich die Nahaufnahmen durch, die ich von ihrem Gesicht an dem Abend gemacht habe, als sie mit ihren Freundinnen unterwegs war. Ich drehe den Ton herunter, ich schaue mir die Bilder in Zeitlupe an, jedes Mal entdecke ich etwas Neues, die Zungenspitze, die für den Bruchteil einer Sekunde versteckt eine winzige Partie der Oberlippe abfährt, die unruhig wandernden, immer nur für einen kurzen Moment auf einem Gegenüber verweilenden Augen ..., natürlich lese ich das alles als Ausdruck einer großen Erwartung, unbewusst, denke ich, wartet sie darauf, dir zu begegnen …
Meine Bilder von Gianni Alberti auf dem Markt von San Benedetto erscheinen mir jetzt wie Szenen eines komischen Films, man sieht ihn rauchen, trinken, nach einem Apfel greifen, er hustet, schnäuzt sich, trinkt wieder ..., da die einzelnen Sequenzen nie länger sind als ein paar Sekunden, wirkt der Zusammenhang wie ein Lehrfilm, mit dem man etwas erklären will: Schaut einmal her, liebe Kinder, was macht dieser Mann alles? Durch den Lehrfilmcharakter verschwindet die reale Gestalt Gianni Albertis aber allmählich, er ist nur noch ein Typ oder eine Fbrführfigur .,., ohne darüber nachzudenken, beinahe instinktiv, habe ich mir für Alberti eine Darstellungsform einfallen lassen, die ihn verkleinert und schließlich unkenntlich macht.
Am schlimmsten ist es spät in der Nacht, ich liege sehr lange wach, stehe auf, notiere Passagen wie diese in mein schwarzes Notizbuch, dann lege ich mich wieder hin, ich vermisse sie neben mir, ich versuche, etwas wiederzufinden vom Ton ihrer Stimme, wie schön war es in diesen südlichen Nächten, wenn wir an der Grenze zum Schlaf lanye ins Dunkel murmelten und die Stimmen brüchiger wurden ..
Immer wieder lese ich in meinem schwarzen Notizbuch und frage mich, ob diese Texte oder die mitgebrachten Bilder die stärkere Wirkung ausüben. Die Texte erscheinen mir zu momentan, manchmal habe ich sogar Mühe, die Stimmung, in der ich sie schrieb, nachzuvollziehen, die Emotionen schwingen sich in ihnen aus, daher wirken diese Texte auf mich beinahe wie Vene. Die Filmbilder dagegen sind zu präzise, sie locken keine Phantasien und nicht den ganzen Reichtum der Erinnerungen an, ich verwende sie vor allem, um etwas nachzuschauen oder zu überprüfen, eine sinnliche Macht haben sie, anders zum Beispiel als Fotografien, eben nicht. Fotografien, wie das Foto des großen Platzes von Ascoli, wirken stärker, weil sie Standbilder eines Bildflusses sind, zu diesen Standbildern ergänze ich die Bilder des Vorher und Nachher, und genau dadurch, durch diese Ergänzung, werden die übrigen Sinne rege und bringen so etwas wie »Erinnerungen« hervor ...
»Plötzlich das Meer, ganz nah« - mit diesem Satz habe ich zu schreiben begonnen, meine Notizen liegen neben mir, ich schreibe, ich horche, ich weiß nicht, ob ich eine gewisse Atemlosigkeit treffe, ich möchte, dass mein Schreiben einen hellen, »begeisterten« Grundton erhält, ich sehe mich nachts in Bologna, ich sehe das Abteil, den Japaner, den Schweizer, ich reise, ich bin erneut unterwegs …

 

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