Reisefieber
Reisefieber 9. Teil
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Erzählerin: Erich und Erika Mustermann haben bei der Fernsehshow „Reisefieber” eine Reise durch Deutschland gewonnen. Die Reise ist für eine Familie mit Kindern, aber die Mustermanns haben ein kleines Problem: Sie haben keine Kinder.
Deshalb haben sie ihre Nachbarn eingeladen, ein junges, frischverheiratetes Paar: Horst und Marianne Schultz. Sie müssen in einer Woche acht verschiedene Orte in Deutschland besuchen. Und sie müssen selbst herausfinden, wie die Reise weitergehen soll.
Wenn sie nach einer Woche alle Rätsel lösen und zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle sind, gewinnen sie den Hauptpreis. Als letzte Aufgabe sollen sie das wichtigste Tor der deutschen Geschichte besuchen. Wenn sie um 20 Uhr am richtigen
Ort sind, sind sie die Stars der nächsten Sendung von „Reisefieber” und gewinnen den Hauptpreis.
Draußen, ruhige Straße mit Vogelgezwitscher
Erich: Das wichtigste Tor der deutschen Geschichte …
Erika: Um 20 Uhr …
Horst: Keine Sekunde später.
Marianne: Wie spät ist es?
Horst: 14.15 Uhr.
Marianne: Mir ist schlecht. Kann ich Lakritz …
Überdimensionale Lakritztüte knistert
Horst: Komisch.
Marianne: Was denn, Horsti?
Horst: Früher hast du nie Lakritze gegessen.
Erika: Mach dir keine Sorgen, mein Sohn. Das mit der Lakritze geht vorbei. In ein paar Wochen.
Erich: Hm … wir sollten uns auf
unsere Aufgabe konzentrieren.
Horst: Das Tor hat bestimmt etwas mit Fußball zu tun.
Marianne: Fußball? Horst, manchmal bist du gar nicht so blöd!
Horst: Siehst du! Ich sag dir doch immer: Sportschau macht schlau!
Erich: Und? Horst, was ist das wichtigste Tor der deutschen Geschichte?
Horst: Äh … keine Ahnung.
Erika: (mütterlich enttäuscht) Ach, Horsti!
Horst: Ich … ich … (hat eine Idee) Moment!
Akustikwechsel: Kneipe, aus einem Fernseher donnert Fußball, Gläser klirren etc.
Wirt: Guten Tag, die Herrschaften! Was kann ich für Sie tun?
Horst: Eins, zwei, drei, vier Bier.
Wirt: Schon so gut wie getrunken.
Marianne: Drei Bier. Und eine Tasse Kaffee.
Horst: Sagen Sie …
Wirt: Ja?
Horst: Was meinen Sie? Was ist das wichtigste Tor der deutschen Geschichte?
Wirt: Was? Das wichtigste was?
Erika: Das wichtigste Tor in der deutschen Geschichte. Bitte, Sie müssen es uns sagen!
Wirt: Tja …
Marianne: Mir ist nicht gut …
Erika: Und?
Wirt: Und was?
Erich: Das Tor.
Wirt: Ach so, das Tor!
Horst: Bitte schauen Sie doch in die Kamera!
Wirt: (wird offiziell vor der Kamera) Also, wenn Sie mich fragen … Das wichtigste Tor der deutschen
Geschichte war das Eigentor von Honecker am 9. November 1989 im Endspiel der Bundesrepublik gegen die DDR in der 100. Spielminute. Honecker traf ins Netz, obwohl Kohl im Weg stand. Das war so ein klares Eigentor, da konnte nicht einmal der russische Schiedsrichter mehr helfen. Wie hieß er doch gleich …
Horst: Gorbatschow.
Wirt: Genau! Ah, Sie kennen sich aus!
Horst: Ich bin bei der Polizei.
Wirt: Was? Bei der Polizei? Machen Sie sofort die Videokamera aus!
Erich: Prost!
Sie stoßen an.
Erika & Marianne: Prost!
Wirt: Prost! Man trinkt.
Erich: Und …
Wirt: Ja?
Erich: Und
wo ist dieses Tor? Ich meine, wo ist das passiert?
Wirt: Na, ist doch klar! In der Hauptstadt. In Berlin.
Horst: Sie sollten zur Polizei gehen.
Alle: Berlin, wir kommen!
Übergangsmusik, Akustikwechsel: Berlin, draußen. Verkehr, Geräusche von Baustellen, Flugzeuge, Preßlufthämmer etc.
Marianne: Das ist Berlin, die Hauptstadt von Deutschland?
Horst: Das ist ja eine riesige Baustelle!
Erich: Ich verstehe nicht, wie man hier Fußball spielen kann! Ich würde meine Kinder hier nicht auf die Straße lassen.
Erika: Hier im Reiseführer steht … (blättert): „Berlin ist die größte Baustelle Europas.”
Marianne: Und wo spielt man hier Fußball?
Erika: Moment …
(blättert) Bestimmt in einem Stadion.
Erich: Ein Stadion … ein Fußballstadion! Natürlich! Genau der richtige Ort für die Sendung! Wie spät ist es?
Horst: 18.40 Uhr.
Marianne: Das schaffen wir!
Erika: Taxi!
Horst: Taxi!
Übergangsmusik, Akustikwechsel: draußen, im Stadion. Der Wind pfeift.
Erika: Ziemlich dunkel ist es hier im Stadion …
Marianne: Und ziemlich leer.
Erich: Und wo sind die Kameras? Es sieht nicht so aus, als ob die Sendung hier sein sollte.
Marianne: Vielleicht sind wir zu früh dran!
Horst: Es ist viertel vor acht.
Erich: Trotzdem. Das „Reisefieber”-Team müßte schon hier sein.
Schritte nähern sich.
Stadionwart: He, was machen Sie denn hier? Das Stadion ist geschlossen! Verschwinden Sie!
Erika: Geschlossen?
Erich: Haben Sie keine Fernsehsendung hier heute abend? „Reisefieber”?
Stadionwart: Ach, Sie sind das, die Mustermanns! „Reisefieber” ist meine Lieblingsendung. Aber das Stadion ist heute geschlossen.
Marianne: Haben Sie nichts für uns? Eine Aufgabe?
Stadionwart: Nein, nichts. Tut mir leid. Ich weiß nur, daß sie hier an der falschen Stelle sind. Und daß Sie noch genau elf Minuten Zeit haben.
Der Wind pfeift stärker. Musik
Erich: (schluckt) Tja …
Horst: (schluckt) Vati?
Erich: Ja, Horst?
Horst: Ist es
vorbei?
Erika: Ja, mein Sohn.
Horst: Vorbei …
Marianne: Was ich euch schon die ganze Zeit fragen wollte …
Erika: Ja?
Marianne: Warum habt ihr eigentlich keine eigenen Kinder?
Erika: Weil … Erich hatte immer so viel tun. Und jetzt, wo er pensioniert ist …
Erich: Was ich euch schon die ganze Zeit fragen wollte …
Marianne: Ja, Vati?
Erich: Wo sind denn eure richtigen Eltern?
Marianne: Wir haben keine mehr.
Erika: Das tut uns leid, Kinder!
Horst: (schluchzt) Mutti!
Erich: Wie ist das passiert?
Horst: (schluchzt) Unsere Eltern sind verschwunden.
Marianne: Bei einer Weltreise.
Erika: Das ist ja schrecklich!
Marianne: Horst und ich haben uns damals kennengelernt.
Horst: (weint) Wir haben am Flughafen auf unsere Eltern gewartet.
Marianne: (schluchzt) Aber sie sind nie von der Weltreise zurückgekommen …
Stadionwart: (einfühlsam) Hören Sie, ich bin auch ein sentimentaler Mensch, aber Sie müssen jetzt wirklich das Stadion verlassen.
Erich: (schluchzt) Kommt, Kinder, komm, Schatz!
Erika: (schluchzt) ja, Schatzi.
Marianne: Horst!
Horst: Ja?
Marianne: Komm, ich muß dir was sagen. Ich … wir … das mit der Lakritze … also …
Stadionwart: Und bitte lassen Sie keinen Müll
auf dem Rasen herumliegen. Wir haben hier morgen ein Länderspiel. Ist das Ihr Reiseführer? Und diese Videokamera, gehört die Ihnen?
Erika: Ja, danke.
Horst: Also, was ist mit der Lakritze?
Erika: Schatz! Kinder! Seht doch mal, hier! Im Reiseführer!
Erich: Psst, doch nicht jetzt!
Erika: Hier steht: „Das wichtigste Tor der deutschen Geschichte ist bestimmt das Brandenburger Tor. Dieses Tor ist das Symbol der deutschen Trennung und der deutschen Einheit. Es war mehr als 40 Jahre lang geschlossen. Erst seit dem 9. November 1989 darf man wieder durch dieses Tor gehen.”
Erich: Wie spät ist es?
Horst: 19.53 Uhr.
Marianne: Noch sieben Minuten.
Horst: Haben Sie ein Funkgerät?
Stadionwart: Ja.
Horst: Los, her damit! Geben Sie mir das Funkgerät!
Das Funkgerät quietscht und zischt.
Horst: Achtung! Achtung! An alle Einheiten! Hier spricht Horst Schultz. Äh, Horst Mustermann, meine ich. Also, auf jeden Fall, hier spricht Horst von der Polizei. Ich brauche sofort einen Helikopter ins Olympiastadion. Ich wiederhole: Schicken Sie sofort einen Helikopter zum Olympiastadion. Ich habe drei Geiseln! Wenn der Helikopter nicht in einer Minute hier ist, dann … dann … na, Sie wissen schon! Verstanden? Ende.
Marianne: Horst, was hast du vor? Willst uns erschießen?
Horst: Nein, natürlich nicht. Aber so kommt der Helikopter schneller. Das
habe ich in der Polizeischule gelernt!
Der Helikopter kommt.
Marianne: (laut) Horst, ich muß dir was sagen. Das mit der Lakritze …
Horst: (laut) Was?
Der Helikopter landet. Es wird zu laut zum Sprechen.
Marianne: (brüllt) Ich sag's dir später!
Horst: (brüllt) Was?
Marianne: (brüllt) Ich sag's dir später!
Fadeover von Helikopter zu Schlußmusik