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Fas Buch Die Erfindung des Lebens

24.04.14 07:55
Re: Die Erfindung des Lebens Hanns-Josef Ortheil
 
regrem патриот
в ответ regrem 23.04.14 13:17, Последний раз изменено 20.05.14 18:29 (regrem)

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ICH HABE den jungen Mann jetzt genau vor Augen, der sich in Rom ein neues Leben geschaffen hat. Er ist verliebt, wird von einer älteren Gönnerin unterstützt, hat in dem Haus, in dem er wohnt, viele Freunde und kennt in Rom von Tag zu Tag immer mehr Menschen, die er regelmäßig trifft und mit denen er sich sogar oft längere Zeit unterhält.
Sein römisches Leben ist mit dem Leben, das er zuvor in Deutschland geführt hat, nicht mehr zu vergleichen, es ist ein Leben, wie er es sich immer gewünscht hat. Das Schönste aber ist, dass niemand, dem er begegnet, ihn auf sein früheres Leben anspricht oder von diesem früheren Leben etwas ahnt, natürlich spricht er selbst auch niemals davon, um keinen Preis will er noch weiter an seine stummen Tage oder an seine einsamen Streifzüge durch die deutschen Städte und Landschaften erinnert werden.
In Rom aber ist es unmöglich, einsam zu sein, denn selbst wenn er einige Stunden allein in der Stadt ist, hat er das Gefühl, mit allen Menschen und Dingen um ihn herum in einem direkten Austausch, ja sogar in einem engen Kontakt zu stehen. Er spürt diesen Kontakt physisch, wie eine innere und äußere Wärme, eine Geborgenheit, ein Vertrauen, nie empfindet er auch nur den Hauch einer Bedrohung oder einer Gefahr, die Ewige Stadt ist so sehr sein ureigenes, auf seinen Leib und seine Seele ausgerichtetes Terrain, dass er sich schon bald nicht mehr vorstellen kann, noch einmal in einer anderen Stadt zu leben.
Das einzige Problem, das er in dieser Zeit überhaupt hat, besteht darin, sein neues Leben den Eltern begreiflich zu machen. Jede Woche schreibt er ihnen einen ausführlichen Brief und erzählt ihnen von seinen Wegen durch
Rom, natürlich lässt er bestimmte Details weg, über seine Liebe zum Beispiel kann er nicht schreiben, wohl aber über die Abende im Innenhof seines Wohnhauses, über die Gespräche mit Paolo und den anderen Mitbewohnern, aber auch über den Unterricht am Conservatorio und seine Mitstudenten, über die Treffen und Begegnungen mit ihnen in den Bars und Cafes rund um die Piazza del Popolo.
Da die Telefonkosten viel zu hoch sind, verläuft der gesamte Kontakt mit den Eltern nur über diese Briefe. Ausschließlich die Mutter antwortet ihm, der Vater versieht jeden Brief nur mit einem kurzen Postskriptum. In diesen Postskripta schreibt er lauter aufmunternde und freundliche Sätze, mach so weiter, Junge!., schreibt er zum Beispiel, und daneben findet sich häufig die Wendung, dass er stolz ist auf seinen Sohn, stolz und begeistert.
Dass der Vater stolz und begeistert ist, kann er sich genau vorstellen, solche Wendungen sind bei ihm keine Phrasen, der Vater meint sie ernst, er freut sich mit seinem Sohn, schließlich hat er ja einmal viel dafür getan, aus einem stummen Idioten einen lebensfähigen Menschen zu machen.
Mit der Mutter ist es dagegen gar nicht so einfach. Auch aus ihren Briefen klingt zwar eine starke Zufriedenheit mit seiner Entwicklung heraus, diese Zufriedenheit wird aber immer wieder überlagert durch ihre langen Schilderungen und Berichte vom Leben im Haus auf der Höhe. Seit sie ihm von diesem Leben erzählt, begreift er erst, wie wunderbar sie erzählen und schreiben kann, im Grunde liest er kaum etwas anderes lieber als diese
Schilderungen und Berichte seiner Mutter, die Erzählungen vom Leben im großen Garten, seinen Veränderungen und den Gedanken, die sie sich über die kleinsten Details macht. Manchmal kommt es ihm sogar so vor, in diesen Briefen nicht die Stimme seiner Mutter, sondern die einer Schriftstellerin wiederzuerkennen, er kennt diesen Ton sonst nur aus französischen Texten, ja wahrhaftig, der Erzählton seiner Mutter liest sich so, als läse man eine Übersetzung aus dem Französischen.
So elegant und verführerisch diese Briefe auch sind, der junge Mann erliegt ihnen nicht. Vor einiger Zeit wäre das noch unmöglich gewesen, denn vor einiger Zeit hätte ihn der Ton dieser Briefe noch derart getroffen, dass er sich sofort auf den Weg nach Hause gemacht hätte. Es handelt sich nämlich um einen Ton, der ein starkes Heimweh auslösen kann, ja, es ist ein Ton, der ihn lockt und ihm all das, was er so genau und intensiv seit den frühsten Kindertagen kennt, wie eine geschlossene, harmonische Welt präsentiert.
Aus dieser Welt sind nun aber die alten Dunkelheiten verbannt, sie werden nicht einmal mit einer kleinen Bemerkung gestreift, die Welt rund um das Haus auf der Höbe ist jetzt vielmehr ein paradiesischer Garten mit einem Schutzwall aus Hecken und Wäldern, in dem man sich nur noch mit den schönen Dingen des Lebens beschäftigt.
Genau diese Lebenskunst beschreibt die Mutter wie ganz nebenbei in ihren Briefen, sie schreibt davon, wie sie an einer bestimmten Stelle des Gartens Tee trinkt und dazu ein bestimmtes Buch liest, sie erwähnt die Musik, die aus dem Blockhaus des Vaters dringt, sie schreibt von den Spaziergängen, die sie mit ihm zusammen macht und die beide immer wieder an die alten, schönen Orte führt, wo der junge Mann als kleines Kind das Sprechen gelernt hat.
So eindringlich und verlockend das alles auch ist, der junge Mann ist gegen die Versuchung, nach Hause zurückzukehren, gefeit, in Rom hat er nicht das geringste Heimweh, denn in Rom wirken die schönen Bilder von seinem deutschen Zuhause zwar noch immer sehr intensiv nach, sie lösen aber nicht so starke Emotionen aus, dass er verunsichert wäre.
Dass es zu solchen Verunsicherungen nicht kommt, liegt vor allem an seiner Liebe, denn diese Liebe hält seine gesamten Gefühle und Empfindungen derart stark besetzt, dass es für so etwas wie Heimweh keinen Platz mehr gibt. Auch die Liebe zu den Eltern ist gegenüber der Liebe zu seiner Freundin Clara von deutlich schwächerem Gewicht, natürlich liebt er seine Eltern, sie beherrschen nur nicht mehr so ausschließlich wie früher seine Gedanken und Empfindungen.
Hinzu kommt, dass ihn der strenge Unterricht am Conservatorio stark beschäftigt und ihm keine Zeit für Nostalgien lässt, jeden Tag übt er viele Stunden und jede Woche hat er eine Vielzahl von Theorie-Seminaren zu besuchen, ganz zu schweigen von den Treffen mit jenen Kommilitonen, mit denen er auch noch Kammermusik probt. In seinem Jahrgang hat er viele Mitspieler gefunden, er spielt vierhändige Kompositionen oder Kompositionen für zwei Klaviere, oder er tritt mit einigen älteren Studenten, die ein Streichquartett gegründet haben, bei allerhand festlichen Gelegenheiten in den römischen Häusern und Palazzi auf, um etwas Geld zu verdienen.
Das gefeierte Meisterwerk solcher Auftritte ist Schumanns Klavierquintett, dessen erster Satz, in einem hohen, geradezu tollkühnen Tempo gespielt, beim Publikum regelmäßig zu Begeisterungsstürmen führt, der junge Mann hat dieses Stück auf die Programme gesetzt, er hat es für die römischen Zirkel entdeckt, wie er mit der Zeit überhaupt Freude daran findet, die seltsamsten und ungewöhnlichsten Programme zusammenzustellen, mit denen er seine Freunde und Mitspieler, vor allem aber die Musik begeisterten Römer immer wieder verblüfft.
Die Fähigkeit, den Geschmack dieser Kreise zu treffen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, etwas Außergewöhnliches, Raffiniertes und Rares zu hören, gehört nach einer Weile zu seinem rasch wachsenden Ruf, der junge Mann gilt nicht nur als ein guter Pianist, sondern auch als eine Art von Programmgestalter, der das Publikum mit abwegigen und ungewohnten Programmen zu verblüffen und in Scharen anzuziehen versteht.
Diese immer stärker werdende und durch Mundpropaganda verbreitete Anziehung hat aber auch damit zu tun, das s er mit seinen Freunden und Kommilitonen nicht an den bekannten Konzertstätten auftritt, sondern sich auf die Suche nach Räumen macht, in denen noch nie Musik aufgeführt worden ist.
Die meisten dieser Räume liegen zunächst im Stadtteil Trastevere, es handelt sich um alte Weinkeller oder ehemalige Zisternen, der halbe Untergrund dieses Viertels wird von katakombenartigen Gängen und Stollen durchzogen, die oft unterhalb von Wirtschaften und Restaurants liegen.
Meist findet sich das Publikum in diesen Wirtschaften ein und beginnt mit dem Abendessen, das zwei- oder dreimal von musikalischen Darbietungen in den Kellern unterbrochen wird. Auf die Ausschmückung dieser Keller verwenden der junge Mann und seine Freunde viel Energie, brennende Öllampen verbreiten eine intime Spannung, Blumendüfte sorgen für ein narkotisches Flair von intensiven Gerüchen, während die vielen, überall in den Gängen postierten Vasen und Schalen mit Blumen einen verschwenderischen, luxuriösen Eindruck machen.
Die Phantasien, denen der junge Mann bei solchen Inszenierungen folgt, hat er aus altrömischen Texten und Büchern über das Alte Rom, immer wieder liest er Gedichte, Briefe und Erzählungen aus dieser Zeit, ja er ist von den Bildern und Zeichen der altrömischen Kultur mit all ihren Villen, Wandgemälden und Festen derart eingenommen, dass er manchmal sogar davon träumt, in einer altrömischen Villa irgendwo in der römischen Campagna als Mitglied einer großen Hofhaltung zu leben.
Neben den Briefkontakten mit seinen Eltern ist der Kontakt mit Walter Fornemann der einzige, der noch nach Deutschland besteht. Auch an Fornemann schreibt der junge Mann Briefe und erhält von seinem früheren Lehrer ausführlich Antwort. Ihr gesamter Briefwechsel kreist ausschließlich um die Musik, um bestimmte Stücke und Komponisten, um neue Schallplatten und Interpreten. Am wichtigsten für den jungen Mann ist, dass Fornemann ihn immer wieder in seinem Tun und Handeln bestärkt und sich darüber hinaus sogar Gedanken macht, wie er ihn aus der Ferne animieren kann, noch mehr musikalische Neuheiten kennen zulernen
So schickt ihm Fornemann Partituren und Bücher, empfiehlt ihm Stücke, von denen er noch nie gehört hat, und erzählt auf seine pointierte, unterhaltsame Art von den Auftritten großer Pianisten im Rheinland. Ich habe Arrau gehört, lieber "Johannes, es geht nichts über Arrau! — in diesem Ton beginnen seine enthusiastischen Porträts, die der junge Mann seiner Freundin vorliest. Sie geraten über der Lektüre solcher Briefe oft gemeinsam in eine Begeisterung, die sie noch am Tag der Lektüre in ein Konzert treibt, am liebsten besuchen sie Konzerte im Freien, die Auftritte großer Pianisten in der gewaltigen Basilika des Maxentius auf dem Forum oder Konzerte in den Kreuzgängen der mittelalterlichen Kirchen, in denen die Musik es gegen die jahrhundertealte, schwere Stille oft schwer hat.
So ist das römische Leben für den jungen Mann ein einziger, unfassbarer, nicht enden wollender Rausch, ein Rausch aus Liebe, intensiver Arbeit und Freundschaft, der ihn vom frühen Morgen bis tief in die Nacht durch die Ewige Stadt treibt. Mit der Zeit füllt sich der seltsam arbeitende Speicher seines Gehirns darüber mit lauter Daten und Zeichen, seine alte Protokollsucht ist weiter am Werk, so dass er unablässig in seine schwarzen Kladden notiert, in welchen Gegenden Roms er sich bewegt und was genau er dort sieht. Was er einmal notiert hat, bleibt haften, so hat der junge Mann zum Beispiel ein gutes Gedächtnis für kunsthistorische Details und Daten, seine Freundin spielt manchmal mit ihm ein eigenartiges Spiel und fragt ihn, in welcher Kirche sich dieses oder jenes Gemälde befindet, er weiß es genau, ja er kann sogar die Kapelle nennen, in der das Gemälde hängt.
Das geplante Studium der Kunstgeschichte betreibt er nebenbei, er geht jedoch ausschließlich in bestimmte Überblick bietende Vorlesungen, nicht aber in Seminare, insgesamt ist ihm die universitäre Lehre zu langsam und zu wenig originell, nein, das alles packt ihn nicht, er findet an dieser Lehre nur wenig Gefallen, und wenn ihm einmal etwas imponiert, so ist es ein einzelner Lehrer, der sich traut, etwas zu behaupten, das sich von der allgemeinen Lehrmeinung entfernt. Solche Lehrer aber gibt es nur wenige, meist sind es die jüngeren, vielleicht ist es letztlich nur einer, er heißt Roberto Zucchari und ist ein später Nachfahre der römischen Künstlerfamilie Zucchari.
Mit Roberto, der nur sechs Jahre älter ist als er, trifft sich der junge Mann auch privat häufig, Roberto hat ein Faible für die Musik der Romantik, so wie er ein Faible für Renaissance-Malerei hat. Dazu passt, dass Roberto ein schöner Mann ist, ein Mann, der so erscheint, als denke und rede er nicht nur ununterbrochen über die Schönheit, sondern als trage er auch Sorge dafür, sie zu verkörpern. Diese Sorge schlägt sich in seiner Kenntnis von Stoffen und Kleidung und von beinahe allem nieder, was den Alltag berührt, in Robertos Nähe glaubt sich der junge Mann in ein ästhetisch stimmiges Reich versetzt, das ihn schließlich auch Robertos Ratschlägen zur Praxis des Schönen folgen lässt.
Diese Ratschläge verschaffen ihm auf kostengünstige Weise lauter angenehm zu tragende Kleidungsstücke aller Art, zum ersten Mal in seinem Leben achtet er jetzt darauf, wie er sich kleidet, und damit darauf, was er etwa während des Orgelspiels in der Kirche trägt oder wie er sich während einer abendlichen Seance in Trasteveres Kellern präsentiert.
So geht und wirkt für den jungen Mann in Rom alles zusammen und kreist ununterbrochen um seine Liebe und die Musik, die Liebe hat die starke Wirkung, die Musik auf ihn ausübt, aufgefangen und noch verstärkt, so dass er sich während seiner vielen Stunden in den Übezellen des Conservatorio nicht wie ein Übender vorkommt, sondern wie einer, der seinen Rausch und seinen Taumel zu bändigen sucht.
Das Üben erscheint ihm daher wie ein sportliches Training, wie langes, ununterbrochenes Laufen mit dem Einsatz aller Glieder und Muskeln oder wie ein Stemmen und Ausbalancieren von schweren Gewichten oder wie ein Schlagtraining, das Ganze ist ein ewiger Kampf mit der Schwere des Instruments, mit seiner Unbeweglichkeit, mit der Härte seiner Melodietönung, mit der Monstrosität seines Klangs. Das Ziel ist, diesem widerständigen, schwerfälligen Wesen so etwas wie Eleganz und Weichheit zu entlocken, eine perlende Melodieführung zu erreichen und dadurch einen Klang zu erzielen, wie man ihn einem Flügel nie zutrauen würde.
Auf der Suche nach diesem Klang ist der junge Mann in Roms Klavierfabriken und Klavierläden unterwegs, er testet die verschiedensten Fabrikate und notiert, für welche Kompositionen sie sich jeweils eignen könnten. Im Conservatorio dagegen stehen beinahe ausschließlich Flügel der Marke Steinway, der junge Mann kommt jedoch gerade mit ihnen nicht gut zurecht, die meisten sind ihm zu starr und zu hart und vor allem in den Tiefenbereichen zu trocken, manchmal schlägt er resigniert und erschöpft auf sie ein, und sie antworten mit einem fahlen, matten Krachen und Ächzen, als empfänden sie bei derartigen Züchtigungen noch eine geradezu masochistische Lust.
Wenn der junge Mann aber eine ideale Kombination von Instrument und Komposition erwischt, wenn beides zusammenpasst und ein Stück so klingt, als wäre es nicht auf einem Tasten-, sondern einem Saiteninstrument gespielt oder sogar mit der Stimme gesungen, dann überfällt ihn während des Spiels oft eine alte Erinnerung.
Er beugt sich etwas vor, er macht den Oberkörper leicht und schlank, er lässt den Fingern ihren Lauf, er korrigiert sie nur unmerklich einmal hier und da in ihrer Ausrichtung — in solchen wilden, schönen Momenten ist manchmal die alte Erinnerung da und er glaubt, wie früher als Kind auf dem Rücken eines schnell galoppierenden Pferdes zu sitzen. Es ist dieselbe Schnelligkeit und dieselbe Lust, es ist ein sanftes Dahingleiten über einen weichen, nachgiebigen Boden, Schwindel erregend und doch kontrolliert, ein geradezu ideales Zusammenwirken von zunehmendem Tempo und unmerklicher Lenkung.
Er erzählt Clara davon, wie er ihr überhaupt das meiste erzählt, was ihm am Tag durch den Kopf geht. Das Erzählen ereignet sich in den Stunden ihrer Erschöpfung, in den ruhigen Minuten nach der ersten Überwältigung durch die Nähe der Körper, die weiter so stark ist, dass sie die beiden Liebenden von der ersten Minute ihrer Begegnungen an mitreißt. Kaum haben sie sich nämlich irgendwo in der Menschenmenge der Ewigen Stadt entdeckt, fliegen sie auch schon aufeinander zu und verfallen gleich, noch ohne ein Wort gesprochen zu haben, in einen heftigen Austausch von Küssen, sie haben sich so daran gewöhnt, dass jede andere erste Aktion sie durcheinanderbringt und unruhig werden lässt.
Nach diesen ersten atemlosen Minuten aber kommen sie erst recht nicht zur Ruhe, sie bewegen sich meistens rasch, sie kreuzen die Straßen und springen irgendwo in ein Abseits, Hauptsache, sie sind dort allein und am besten auch noch versteckt, denn die Körper wollen sofort, auf der Stelle, so nahe zusammen wie möglich, weshalb sie sich angewöhnt haben, eine sehr leichte Kleidung zu tragen, einfache, dünne, leicht abzustreifende Hemden und Hosen, ein Nichts von Kleidung über den nackten Körpern.
Unter dieser leichten, sommerlichen Kleidung spüren sie auch während der Abwesenheit des anderen ihre Nacktheit, es ist gut, diese Nacktheit den ganzen Tag über zu spüren, der Körper geht viel stärker auf die Umgebung ein und reagiert ununterbrochen auf ihre Reize, so macht die gespürte Nacktheit aus ihm ein sensibles Instrument mit einem feinen, exakten Sinn für Erotik, Rom, findet der junge Mann, ist ein Universum an erotischen Begegnungen, immerzu findet er Neues, das ihn erregt und beschäftigt, von den Besuchen der großen Märkte in der Nähe der Stazione Termini bis hin zu den nächtlichen Spaziergängen an den dunklen, tiefliegenden, einsamen Ufern des Tibers.
Sind der junge Mann und seine Freundin aber einmal mit Freunden oder Bekannten zusammen oder irgendwo unterwegs, spüren sie nach einer Zeit eine gewisse Nervosität, sie entsteht durch die Anwesenheit der anderen, die sie daran hindern, nur miteinander zu sprechen oder sich so zu berühren, wie sie sich nun einmal berühren müssen, um ein Durchdrehen und Ausrasten der Körper zu verhindern, es kommt dann immer wieder zu der seltsamen Szene, dass sich einer von ihnen aus dem Kreis der Freunde entfernt und der andere ihm wenig später folgt, es geht nicht anders, zumindest für ein paar Minuten müssen sie ausschließlich zu zweit sein, sich berühren, sich vergewissern, wie vollkommen und hingebungsvoll der Körper des anderen dem Verlangen des eigenen Körpers entspricht.
Leicht in Trance, aber getrennt kommen sie dann wieder zu den Freunden zurück, einmal ist ihre gleichzeitige Abwesenheit aufgefallen und hat nach ihrer Rückkehr für Gelächter gesorgt, sie scheren sich darum nicht und kümmern sich auch nicht darum, dass sie beneidet werden. Meist kleidet sich der Neid in die Kritik, dass die beiden zu häufig und jeweils zu lange zusammenseien, sie hören sich so etwas an und erwidern nichts, es gibt darauf nichts zu erwidern, ihre Liebe hat zu einer gegenseitigen Bindung geführt, die etwas Magnetisches und
Dämonisches hat, es ist ein Zauber, so nennt es der junge Mann, ja es ist, als hätte ihnen jemand eine Droge verabreicht, die sie nicht mehr ruhen und vernünftig denken lässt, sondern eine ununterbrochene Sehnsucht bewirkt, einander so häufig wie möglich nahe zu sein.
Lange haben sie darüber gesprochen, ob sie diese Nähe noch dadurch verstärken wollen, dass sie zusammenziehen, sie haben sich jedoch dagegen entschieden. Sie schlafen nachts nicht zusammen in einem Bett, sie möchten nicht erleben, wie der andere einschläft und morgens erwacht, nein, das alles wollen sie nicht sehen und nicht erleben. Viel stärker ist nämlich der Reiz der Entbehrung und der stundenlangen Askese, das einsame Schlafen während der Nacht und der erste Gedanken am Morgen daran, den anderen wiederzusehen. Außerdem können sie sich ihre geschmeidigen und beweglichen Körper nicht in Betten oder in geschlossenen Räumen vorstellen, sie liefern diese Körper lieber laufend anderen Umgebungen aus, sie suchen unentwegt nach Verstecken und geheimen Terrains, wo sich diese Körper in Windeseile oder in langsamer Verzögerung ineinander auflösen. So sind sie in ganz Rom und seiner weiten Umgebung unterwegs, sie haben etwas Lektüre und etwas Ess- und Trinkbares dabei, aber sie verwenden für diesen Transport nie eine feste Tasche oder ein anderes Accessoire, nein, sie kaufen ein und stecken alles in eine leichte, im Wind flatternde Busta, die sich bis zum Abend hin leert und dann in einem Papierkorb verschwindet. So leicht und luftig wie ihre Kleidung ist diese Busta, und so leicht und vor allem spurenlos soll das ganze Leben sein, ein
Flug, ein Gleiten durch den weiten Raum der Ewigen Stadt, ein Umherstreifen an ihren Stranden und Schilfzonen am Meer, eine stundenlange, mittägliche Siesta in den kleinen Weinorten der Castelli.
Wenn sie aber doch einmal eine ganze Nacht miteinander im Freien verbringen, legen sie es oft darauf an, in gesperrte Bezirke wie das alte Gelände der Foren oder des Palatin einzudringen. Dort hineinzukommen, ist ganz einfach, sie verbringen den Nachmittag und den Abend in einem solchen Gelände und verstecken sich dann eine Weile, bis die Wärter bei einbrechender Dunkelheit abgezogen sind. Nachts aber gibt es keine Kontrollen, die stillen, von der Sonnenhitze des Tages erwärmten Zonen atmen aus, und wenn man es geschickt anstellt, kann man in der tiefen Nacht sogar ein kleines Feuer anzünden, das niemand sieht. Man muss nur in die Tiefe steigen, in die dunkle Weite einer Arena und ihrer Torbögen, in eine überdachte Hütte von der Art der alten Romulus-Hütten oder in kleine Gewächshäuser, in denen die Wärter der archäologischen Bereiche heimlich Tomaten und Zucchini anbauen.
In solchen Verstecken und Behausungen feiern sie dann ihre kleinen Feste, sie haben einen Weltempfänger dabei und hören Konzertübertragungen aus Finnland oder einer anderen unvorstellbaren Ferne, sie hören einen Auftritt des Pianisten Claudio Arrau in der Royal Albert Hall von London und bekommen mit, wie er die Sonate in As-Dur Opus einhundertzehn von Ludwig van Beethoven spielt, der junge Mann hört zu, als spielte der große Pianist das Stück nur für ihn, denn es ist eine der Beethoven-Sonaten, die auch er gerade spielt.
Einmal haben sie es sogar gewagt, eine Nacht in der Peterskirche zu verbringen, sie haben sich in einer überdimensionalen Gewandfalte eines marmornen barocken Papst-Grabes versteckt und die Rundgänge der Wächter abgewartet, der junge Mann wollte unbedingt eine ganze Nacht bleiben und sie zusammen mit seiner Freundin ganz für sich haben, sie wagten es dann aber kaum, sich in dem gewaltigen Bau frei zu bewegen, und schlichen hastig von Pfeiler zu Pfeiler, als wären unsichtbare Kohorten hinter ihnen her.
Zum Höhepunkt dieser römischen Zeit, ihrer Monate und schließlich sogar ihrer Jahre, wird dann sein zwanzigster Geburtstag. Um das Datum auch im Bild zu fixieren, lässt er sich von Roberto in eine römische Foto-Agentur einladen, wo einige Fotos von ihm gemacht werden sollen. Aus diesem Anlass trägt er einen leichten, schwarzen Anzug, ein weites, weißes Hemd und eine schmale, elegante Krawatte, es dauert Stunden, bis die Aufnahmen fertig sind, denn immer wieder korrigieren die beiden Fotografen den Sitz seiner Kleidung, den Stand der Beleuchtung oder ein Farbdetail einer Leinwand im Hintergrund.
Als er die teuren Fotografien, die Roberto ihm zum Geburtstag schenkt, schließlich in der Hand hält, erschrickt er. Er sieht einen schlanken, jungen Mann mit weit über die Ohren reichenden, langen Haaren, offener, breiter Stirn und schmalem, leicht überanstrengten! Gesicht, dessen dunkel getönte Erscheinung ihn wie einen
Römer erscheinen lässt. Die Augen blicken entschlossen, als stünde eine Entscheidung bevor, die breiten Lippen haben einen besonders dunklen Ton, alles an diesem Foto eines jungen Mannes in Halbtotale wirkt wie die Erscheinung eines anderen Menschen oder einer ihm fremden Figur, die niemand in der Heimat mehr wiedererkennen wird.
Der junge Mann hatte vor, das Foto nach Hause, an seine Eltern, zu schicken, er lässt es nach mehrfacher Betrachtung dieses Bildes dann aber doch bleiben, sag mal, Clara., bin ich das, bin ich das wirklich?, fragt er seine Freundin, die solche Fragen überhaupt nicht versteht, aber ja, caro, das bist Du, Du bist das, was fragst Du denn so? Irgendetwas an dieser Fotografie macht ihn aber unruhig und lässt ihn die Bilder schließlich verstecken, er erträgt es nicht, diesen anderen Menschen zu sehen, denn das Bild dieses anderen Menschen erinnert ihn jedes Mal an den Menschen von früher und an dessen Hilflosigkeit. Der andere, römische Mensch jedoch erscheint nicht im Geringsten hilflos, er wirkt wie eine Figur, die einen guten Weg hinter sich hat, ja er erscheint wie der Sohn aus vermögendem italienischem Haus.
Die Fotografien des reichen Sohnes haben ihn aber gerade noch rechtzeitig davon abgehalten, zur Feier seines Geburtstags ein großes Fest zu veranstalten, deshalb lässt er es mit einer kleinen Feier und höchstens zehn geladenen Gästen bewenden. Für diese Feier hat er sich ein Restaurant in Trastevere ausgesucht, in dem man ihn kennt, eine lange Tafel wird dort am Nachmittag des festlichen Tages gedeckt, und Clara, seine Freundin, kümmert sich um die Ausstattung des Raumes, in dem das Fest stattfinden soll.
Auf ihren Wunsch hin darf er bei den Vorbereitungen nicht zugegen sein, er ist etwas nervös, versteht aber nicht, warum er das ist, den ganzen Nachmittag treibt er sich allein in seinen Lieblingsgegenden herum und macht seiner Unruhe schließlich ein Ende, indem er den weiten Platz vor der Kirche Santa Maria in Trastevere betritt, lange Zeit auf den Stufen des Brunnens vor der Kirche verweilt und sie am frühen Abend endlich auch betritt.
In der schweren Dunkelheit des mittelalterlichen Baus sind nur noch wenige Menschen unterwegs, ein paar Kerzen brennen, im Chor leuchten die alten Goldmosaike mit Szenen aus dem Leben Mariens. Eine seltsame, lange nicht mehr gespürte Anspannung ist in ihm, als er sich hinkniet und ein Gebet spricht, er bringt das alte Deus, in adjutorium meum intende/ Domine, ad adjuvandum me festina nicht über die Lippen, sondern murmelt wie unter dem Zwang der strahlenden Marienbilder vor seinen Augen den Beginn des Magnificat, den er zum letzten Mal während seiner Schulzeit in der Klosterkirche gebetet hat: Magnificat anima mea Dominum/ Et exultavit Spiritus meus in Deo salutari meo ..., Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter ...
Während er aber diese Zeilen spricht, stürzen die lange verdrängten Erinnerungen nun doch auf ihn ein, es ist wie ein Befall, als wären Schwarmgeister hinter ihm her und setzten ihm zu, jedenfalls sieht er in einem raschen, sich beschleunigenden Reigen lauter Bilder seines früheren Lebens, Bilder seiner Ohnmacht und Schwäche, als wollte ihm jemand mit aller Macht vorführen, woran er sich so lange Zeit nicht zu denken getraute.
Er kann denn auch nicht länger in der dunklen Bank knien, nein, er tritt die Flucht an, bekreuzigt sich und entzündet am Eingang der Kirche noch rasch eine Kerze. Dann tritt er hinaus auf die Weite des großes Platzes, auf dem die Römer allabendlich feiern. Er biegt nach rechts ab, das Restaurant, in dem sein Geburtstag stattfinden wird, ist ganz nahe, als er es beinahe erreicht hat, bleibt er stehen, denn er erkennt, dass ausgerechnet vor diesem Restaurant an diesem Abend eine lange Schlange mit Gästen wartet, die alle keinen Platz mehr bekommen haben.
Als er jedoch an ihnen vorbeischleicht, erkennt man ihn plötzlich, er hört seinen Namen, ecco!, Giovanni!, da begreift er, dass all diese Menschen nur seinetwegen hier stehen und gekommen sind, mit ihm zu feiern. Von drinnen ist jetzt auch Musik zu hören, die breite Tür des Restaurants öffnet sich, und man blickt auf einen mit einem Blumenmeer gefüllten Gartensaal von der Art altrömischer Gartensäle. Es gibt aber keinen langen Tisch, sondern eine Gruppierung von vielen Tischen in einer großen Hufeisenform, über dem zentralen Tisch an der Wand aber erkennt er sein Foto, das Foto eines jungen Mannes in Halbtotale.
Während er den Saal betritt und die Hochrufe hört, sieht er zur Rechten einen Halbkreis von Streichern, die ihm zuliebe den Anfang der Meistersinger intonieren. Er mag dieses Stück sehr, aber er mag nicht, wenn man es schmettert und wenn es dröhnt, deshalb haben sie anscheinend die kleine Besetzung gewählt, so dass es jetzt klingt wie ein munterer, festlicher Reigen, sie spielen es sogar leicht überdreht, mit einigen Hupfern und Schlenkern, als lieferten sie eine übermütige, ausgelassene Version dieses Beginns.
Unübersehbar viele Menschen füllen den Raum, die jetzt auf ihn zuströmen, viele studieren mit ihm, andere kennt er von seinen Konzerten oder von Begegnungen in den Cafes rings um das Conservatorio, er bleibt hilflos stehen und bedankt sich immer wieder für die guten Wünsche, als er seine Freundin, Clara, erkennt, die in einem weißen, kurzen Kleid direkt vor seinem Foto steht und ihn unverwandt anschaut. Er schaut zurück, einen langen Moment betrachten sie sich regungslos, kein Lächeln, nichts, geht durch ihr Gesicht, es ist ein Medusenblick, den sie plötzlich beide zugleich haben und auch an sich spüren, so lange, bis er sieht, wie sich Clara aus dieser kurzen Erstarrung löst und mit vor Rührung fest aufeinandergepressten Lippen auf ihn zukommt.
Sie umarmen sich, sie küssen sich wie ein Brautpaar, und als er seine Augen wieder öffnet, sieht er im Hintergrund sein unscharfes Foto, als wäre Clara genau diesem Bild entsprungen und hätte sich nun mit ihm vermählt wie eine Roma, wie die schönste Erscheinung der Ewigen Stadt.

 

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